#Locarno77 Tiere

 

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Zwischenbilanz

 

Die erste Woche in Locarno ist vorbei, das Festival geht langsam in die Endrunde.
Richtig überwältigende Filme haben sich noch nicht präsentiert.
Bisher am besten:
Les Enfants rouges, Crickets, It’s Your Turn, Kada je zazvonio telefon, alle aus der Sektion Cineasti del presente, also erste und zweite Langfilme. Aus dem Concorso Internazionale hebt sich Green Line hervor.

 

Wiedergänger

Nach der Pressevorführung von Agora von Ala Eddine Slim verwunderte Blicke, Kopfschütteln, Fragen. „Hast du das verstanden?“
Wiedergänger, die plötzlich in einem Ort in Tunesien erscheinen, ein Polizeichef, der versucht Ruhe in den Ort zu bringen, und dann taucht ein mysteriöser Typ von einer Art Geheimpolizei auf. Der Film fängt an wie ein Science-Fiktion-Horror-Film, driftet aber zusehends ins Unverständliche ab.
Geht in jede nur denkbare Richtung, scheint sich mal an politischen, mal an mystischen Themen abzuarbeiten, auch Umweltzerstörung und Machtmissbrauch sind als Ideen enthalten. Unterbrochen wird die Handlung mehrfach von einem tonlosen Dialog zwischen Hund und Rabe, die von ihren Ängsten sprechen, die wissen, dass schreckliches passieren wird, wenn die Toten wiederkehren.
Und immer wieder Hunde, streunende, tote, schlafende. Surreal, aber auch unverständlich. Möglicherweise ist da genau das Problem, der Film scheint zu narrativ, um sich einfach nur dem Surrealen hinzugeben, macht zu viele Fenster auf, durch die man meint, schauen zu müssen, nur um dann nichts sehen zu können.
Gut gemacht an sich, schöne Bilder, interessante Effekte, aber man möchte so gerne etwas verstehen. Irgendetwas.

 

 

Mittags
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Jeden Tag und tatsächlich auch jedes Jahr, die mittägliche Suche nach einem schattigen Platz, an dem man sitzen kann und Eingekauftes essen kann. Eine Aufgabe, die ans Unmögliche grenzt.
Die paar schattigen Orte bieten keine Sitzmöglichkeiten, ausser auf dem blanken Boden. Heute im „Angebot“ trockene Wiese unter einem Baum, mit einer dicken Hornisse als Nachbar. Kommerzfreier öffentlicher Raum tut Not.

 

Digital

Weltweit Freunde, Liebhaber in Phantasiewelten, Avatare, VR-Welten, Tick Tock, Influencer, schöne neue Digitalwelt.
Was in Real von Adele Tulli ganz poppig und nicht uninteressant anfängt, hat ein deutliches Struktur- oder Organisationsproblem. Nach welchem System die einzelnen Sequenzen zusammengestellt sind, erschliesst sich nicht, und macht das Zuschauen mit der Zeit immer ermüdender.
Menschen in Südkorea, Italien, Schweden, den USA präsentieren sich, oder ihre VR-Avatare, freimütig der Regisseurin, diese mischt deren selbst gefilmten Schnipsel, oder Welten, mit „objektiven“ Blicken auf die jeweilige Situation, aber der dramaturgische Bogen fehlt komplett. Mittendrin eine kurze Sequenz mit Spiel- und Internetsüchtigen, die in einem Kloster Entzug und Therapie machen, aber auch das bleibt losgelöst von allem anderen und frei von innerer Konsequenz. Irgendwann sieht man nichts mehr, will auch nichts mehr sehen. Von Anfang an nervt eine Art Meditationsmusik, die unter fast egal was für Bilder geklebt wurde, das ist noch schlimmer als der Mangel an Ziel in der Geschichte.

 

 

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Krieg

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, manchmal ist aber trotzdem gut, nicht genau gelesen zu haben.
Green Line von Sylvie Ballyot ist 150 Minuten lang, hätte ich das vorher gelesen, wäre ich vermutlich nicht reingegangen. Was ein grosser Fehler gewesen wäre.
Fida war gerade geboren, als 1975 im Libanon der Bürgerkrieg ausbrach, der 15 Jahre ihres Lebens stahl und 200.000 Opfer brachte. Regisseurin Ballyot geht mit Fida zurück nach Beirut, in ihr Viertel in West-Beirut. Anhand der ganz persönlichen Geschichte des kleinen Mädchens von damals, und mit sehr einfachen Puppen und Papierhäusern auf einem Stadtplan in Szenen gesetzt, erfährt man auch Fakten. Unterbrochen und genial gegeneinander geschnitten: die Puppe Fida und die heute erwachsene Fida in Beirut, vor ihrer Schule, in ihren Gassen.
Aber der Film erzählt mehr, als nur die Fakten eines Krieges und eines Traumas. Fida spricht mit Kämpfern aller beteiligten Seiten, immer im gleichen Setting: ein zerstörtes Haus, die Wände offen nach draussen, der Plan mit den Papierhäusern dem Wind ausgesetzt. Sie lässt die Kämpfer erzählen, aber nicht irgendetwas, sondern deren Sicht auf Ereignisse, die sie als Kind erlebt hat. Fragt aus der Perspektive des Kindes von damals, holt die (meist) Männer immer wieder zu diesen kindlichen Fragen zurück. Sie will nicht, dass man ihr, einer erwachsenen, intelligenten Frau den Nahostkonflikt erklärt. Sondern, dass man dem kleinen Mädchen erklärt, wie es zum Beispiel sein kann, dass ein Soldat, der sie „beschützen“ soll, für sie ein angsteinflössendes Monster ist.
Sie stellt ihre Fragen freundlich, aber hartnäckig, lässt die Befragten nicht in Phrasen abgleiten. Und bekommt immer Antworten. Und die Erkenntnis, dass, selbst wenn man einsieht, dass dieser Krieg ein Riesenfehler war, er trotzdem von jeder Seite anders gesehen und erinnert wird.
Zwei Kämpfer, ein Christ, der mit für die Massaker in Sabra und Schatila verantwortlich war, und ein Palästinenser, sind die einzigen, die eindeutig Stellung gegen den Krieg beziehen: Der christliche Kämpfer hat sich in einem Brief an das libanesische Volk öffentlich für seine Beteiligung entschuldigt, der Palästinenser ist Mitglied einer Gruppe „Kämpfer für den Frieden“. Fast alle anderen schaffen es immer noch, ihrer Perspektive einen Sinn zu geben, ein: „es hiess die oder wir“.
Ein Film, der ein so komplexes Thema gleichzeitig originell und sensibel behandelt, der trotz der Länge unglaublich intensiv und spannend ist, wäre ein guter Kandidat für einen der Leoparden. Zu gönnen wäre es ihm auf jeden Fall.

 

 

Geräusche

 

Laserschwert
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Ben Burtt, Erfinder unter anderem der Geräusche von R2D2 oder der Laserschwerter in Star Wars, ist der Ehrenleopard-Empfänger des Abends. Es ist immer wieder schön, wenn Meister ihres Fachs, die nicht so oft im Rampenlicht stehen, vor grossem Publikum gewürdigt werden.


Pferde

Gaucho Gaucho von Michael Dweck und Gregory Kershaw setzt den Nordosten Argentiniens in schönen Schwarzweiss-Bildern in Szene. Ein Dokumentarfilm über eine Gruppe Gauchos, der immer dann stark ist, wenn die Gauchos und eine Gaucha reiten, mit den Tieren arbeiten oder den Kindern Fertigkeiten beibringen. Etwas schwerfällig sind die Szenen, in denen – meistens – zwei Leute miteinander reden, immer in gleicher Art, seitlich an einem Tisch sitzend, oder einander gegenüberstehend, gefilmt wurden. Das sieht und klingt inszeniert und schwächt die Kraft des ansonsten schönen Films.

 

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