Der Blog

# 60.Solothurner Filmtage

EIn Runder Geburtstag in Solothurn

 

Ein Blick durch das Programm der gerade zu Ende gegangenen 60. Schweizer Filmtage.
Und die Frage: Was ist der Schweizer Film?

 

Das Ich und die Heimat

Die Definition von Heimat spielt in Filmen immer wieder eine prominente Rolle, als Aufhänger für Persönliches, als gesellschaftliche Frage, als Ausgangs- oder Endpunkt. Zwei sehr starke Filme nehmen sich im weiteren Sinn des Themas an. Zwei politische Filme, die dennoch sehr persönlich sind.

Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer von Samir erzählt in einem sehr weiten Bogen von Menschen, die zum Arbeiten kamen und zum Leben blieben. Die Geschichte der Gastarbeiter, die heute häufig eher Arbeitsmigranten oder manchmal gar als Asylsuchende betitelt werden.
Doch von Vorne:
Nach dem Krieg hat auch die Schweiz massenweise Arbeiter für den Billiglohnsektor ins Land geholt.Diese meist aus Italien und Spanien kommenden Arbeiter wurden schnell ausgegrenzt, mit Schimpfnamen bedacht, oder als Messerstecher diffamiert. Samir erzählt die Geschichte anhand von Photos, Filmausschnitten und Interviews mit Menschen, die damals als Kinder oder junge Erwachsenen kamen. Als roter Faden strukturieren animierte Sequenzen, die Samirs Geschichte als Sohn eines Irakers und einer Schweizerin, der in den frühen 60er Jahre in die Schweiz kam, den Film. Dieses Element erlaubt auch die Kommentarstimme des Regisseurs; er ist ein Erzähler, aber auch ein Protagonist.
Es ist ein zugegebenermassen langer Film, manchmal etwas zu ausufernd, wenn zusätzlich noch die Geschichte der Gewerkschaften mit hineinspielt. Andererseits gehört das eben auch alles zusammen. Und die Probleme von damals sind die gleichen, bloss die Ankommenden heute sind aus anderen Ländern.

 

(c) Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

 

In Il ragazzo della Drina folgt Zijad Ibrahimovic seinem Protagonisten in die andere Richtung.1992 flieht Irvin mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus Bosnien nach Italien, 2015 kehrt er zurück nach Srebrenica. Zurück, um dem Kriegstrauma der Kindheit in die Augen zu schauen. Was ihm dort begegnet ist eine leere Gegend, kaputte Häuser, kaum Menschen, Erinnerungen, Geister, die nicht schweigen, und immer wieder Krieg und Massaker.
Ein filmisches Tagebuch, sensibel, persönlich, in ruhigen Bildern erzählt und sparsam im Einsatz von Musik. Die Kamera bleibt oft hinter dem Protagonisten, der auf einer überwucherten Lichtung alleine und in traditioneller Bauweise Holzhütten baut. Ein Versuch zurückzubauen, was verloren ging, die Heilung einer Wunde, einer inneren wie ein äusseren. Dabei kommentiert er, in Art eines Selbstgesprächs, in der emotionalen Sicherheit des Italienischen, der Sprache der Zuflucht und des Schutzes. Eine Beobachtung über vier Jahre, ein Reflektieren über Verlust, Heimat und Rückkehr. Sehr schön.

 

(c) il ragazzo della Drina

 

 

Enge und Weite

In nur 48 Minuten zeigt Galaxi Urnäsch 3000 von Nina Fritz, Lola Scurlock, Felix Scherer und Lasse Linder die Analogie von Mikro- und Makrokosmos.
Das Kleine im Ganzen, das Individuum als Teil des Universums, als Abgrenzung, drinnen und auch draussen. Das Portrait eines Appenzeller-Dorfes, in relativ statischen 4:3 Bildern gedreht, zeigt Traditionen, Alltag und die feinen Risse, die entstehen, wenn die Zeit vergeht und sich Veränderungen subtil einschleichen.Parallel zum dörflichen Treiben: ein Astronom, der von den unglaublichen Weiten des Alls erzählt, aber eben auch von den Winzigkeiten, die sich dort ergeben. Und so stehen Kälbergeburt, traditioneller Gesang und Rap nebeneinander, während der Gemeinderat über das Abschalten der Kirchenglocken in der Nacht berät.
Tradition oder Moderne? Beides!

 

(c) Galaxi Urnäsch 3000

 

Weiter weg geht Maja Tschumi für ihren Film Immortals .
Strukturiert und spannend wie ein Spielfilm erzählt Immortals von Milo, einer jungen Irakerin, die nach den Protesten von 2019 von ihrer Familie eingesperrt wird. Die sich als junger Mann verkleidet wegschleicht, weg will, weg muss, um zu überleben. Und doch wird sie immer wieder zurückgeworfen, zurückgehalten. Der zweite Protagonist, Khalili, hat mit seinen Kameras die Proteste 2019 festgehalten, egal, wie oft er dabei selber verletzt wurde, er ist zurück ins Geschehen. Der Film erzählt in drei Teilen, erst Milos Geschichte, dann Khallils Geschichte, Teil drei, die Entscheidung, schneidet beide Geschichten zusammen. Was bleibt 2022 von den Protesten im Irak? Eine weiterhin korrupte Regierung. Milo, die weiterhin weg müsste, wenn sie überleben will, die aber ihre Freundin nicht zurücklassen will. Und Khalili, der sich scheinbar den Gegebenheiten ergibt, seine Kameras in den hintersten Winkel seines Schranks mehr stösst als stellt, der heiratet, und doch bei den erneuten Protesten seine Kamera packt und wieder mitgeht, schaut, dreht, dokumentiert. Spannend bis zur letzten Filmminute. Und so ein sehr verdienter Prix de Soleure.

 

(c) immortals

 

Familie immer wieder

Bagger Drama von Piet Baumgartner
Eine Familie zerlegt sich. Im vierten Jahr nach dem Unfalltod der Tochter ist vom vormaligen Familienglück nichts mehr übrig. Während die Emotionen eigentlich offen daliegen, gehen sie nicht in die Tiefe, weder bei den Figuren, noch beim Zuschauer. Die Eröffnung des Sohns, er sei Homosexuell, quittiert die Mutter mit einem freundlichen „ich weiss“ gefolgt von Tränen, da sie jetzt wohl keine Enkel mehr bekommt. Aber auch diese Situation bleibt völlig blutleer. Maschinell, wie ihre programmierbaren Bagger, die wunderhübsch Ballett tanzen, oder der Saugroboter, der still im Hintergrund seine Kreise zieht, zerfällt die Familie.
Allein der Familienhund scheint wirklich lebendig, doch sein ständiges und lebhaftes Bellen verheisst für ihn nichts Gutes. Sehr schöne verspielte Bilder, die aber über die Länge nur noch sich selbst bezwecken.

 

(c) Bagger Drama

 

Road’s End In Taiwan von Maria Nicollier
Als der Genfer Damien einen Brief aus Taiwan bekommt, in dem er vom Tod seines Vaters informiert wird, stellt er fest, dass nichts von dem, was seine Mutter erzählt hat, stimmen kann. In Taiwan erfährt er zusätzlich, dass, um die Erbschaft anzutreten, alle Berechtigten – zwei weitere Halbbrüder und eine Ehefrau – unterschreiben müssen. Mit einem der beiden Brüder fährt er zusammen durchs Land, auf der Suche nach den anderen. Während für Damien vor allem wichtig ist, zu erfahren, wer sein Vater war, wollen die beiden Halbbrüder einfach nur das Erbe. Eine Fahrt in eine Vergangenheit und eine Familiengeschichte, die alles andere als schön und heil ist. Schön gemacht, gut gespielt und spannend.

 

(c) Road’s end in Taiwan

 

 

Selbst(er)findung

Hôtel Silence von Léa Pool ist eine Romanverfilmung.
Jean, ein lebensmüder Kanadier, packt seine Sachen, Werkzeug und Haken inklusive, und fährt in ein fiktives Land, das nach fünf Jahren Bürgerkrieg gerade zur Ruhe kommt. Sein Plan: sich dort anonym, und ohne ihm nahestehende Menschen zu belästigen, umzubringen.
Der Mann, der alles reparieren, oder flicken kann, nur anscheinend seine eigenen Wunden nicht. Seine Lebensmüdigkeit prallt dort am Lebenswillen und der Resilienz der Überlebenden ab. Der Film suggeriert immer wieder, dass Jean möglicherweise in die Geschehnisse des Krieges involviert sein könnte. Die daraus entstehende vermeintliche Spannung ist eigentlich völlig überflüssig, besonders, da ihre Auflösung eher unbefriedigend gerät. Dabei ist der Kontrast von Überdruss zu Lebensmut eigentlich Geschichte genug. Die Bilder, die Anfangs wie mit einer Art bräunlichen Firnis überzogen sind, werden im Verlauf der Geschichte unmerklich heller, fröhlicher.

 

(c) Hôtel silence

 

 

Nochmals eine Selbstsuche, diesmal dokumentarisch in Osteria all’undici von Filippo Demarchi. Ein filmisches Selbstportrait zur Selbstheilung.Der Regisseur arbeitet nach einen Zusammenbruch, oder Burnout, als Kellner in einem Restaurant, das psychisch labilen Personen eine Chance auf einne Neustart bietet.Er nutzt das Medium Film, um zurück zu einem Ich zu finden, das Film-Kunst und Wertschätzung zusammenbringt.Vielleicht kein umwerfender Film, aber doch mit Humor und handwerklichem Können gestaltet.

 

Schräge Welten

Milchzähne von Sophia Bösch
Eine merkwürdige Gemeinschaft im Nirgendwo, ein Wald, ein Fluss, archaische Regeln. Und ein diffuser nicht wirklich näher benannter Aberglaube an einen Feind. Laut Katalogtext eine „dystopische Zukunft“.
Warum allerdings Geschichten, die von einer dystopischen Zukunft handeln, immer dazu neigen, hierarchisch-autoritär organisierte Welten zu zeigen, in denen das Andersartige unfehlbar als Feind gebrandmarkt und ausgegrenzt werden muss, bleibt ein Rätsel. Wenig originell ist es auf jeden Fall. Selbst wenn es bei Milchzähne hübsch gemacht ist.
Ein kleines Mädchen taucht auf, parallel dazu verschwindet erst Vieh und dann noch zwei Kinder. Die Gemeinschaft ist sicher, das Mädchen ist einem Aberglauben folgend ein Wolfskind, eingeschleust, um Unglück zu bringen. Natürlich kümmern sich die zwei als Aussenseiterinnnen geltenden Frauen um das Kind, natürlich bringt das allen Ärger, den man sich in der Konstellation denken kann.
Es ist schon ok, wenn eine Geschichte nicht jeden Hintergrund, jede Motivation genau auserzählt, aber hier gibt es winzige Andeutungen, und der Rest bleibt verborgen. Man ist allein mit einer Welt, die, bis auf Autos und moderne Waffen, auch vor zweihundert Jahren angesiedelt sein könnte. Das macht den Film eher langweilig, als spannend, das Mitfühlen mit den Figuren und ihren Problemen fällt aus, weil man ihnen nie nah kommen kann.


Zurücklehnen

Ein wenig zurückgelehnte Entspannung macht es dagegen leicht dem Animationsfilm Reise der Schatten von Yves Netzhammer zu folgen.
Alles entsteht aus Allem, eine surreale Reise in eine animierte Welt, in der viel Böses passiert. Gesichtlose, geschlechtslose Humanoide in stetigem Wandel. Mal in eine heftige, befremdliche Sexualität verstrickt, dann in böse Gewalttätigkeit. Ein Menschenaffe – mit Gesicht – in einem Käfig, ein Anglerfisch im Aquarium und rote Kugeln, die Gegenwart und Zukunft zu spiegeln scheinen, ziehen sich durch den Film, leiten die Figuren.
Am Ende steht der Anfang.

 

(c) Reise der Schatten

 

Blut

 

 

(c) Bernadette will töten

 


Schräg, wenn auch ein wenig hölzern, ist die schweizerisch-österreichische Koproduktion
Bernadette will töten von Oliver Paulus und Robert Herzl.
Eine Internet-Splatter-Satire, vermutlich mit zu viel Blut und Gedärm für reine Satire-Fans, dafür mit etwas zu viel Gerede für reine Splatter-Freunde.
Nach einem vereitelten Selbstmord, beschliesst die titelgebenden Bernadette, dass sie nicht mehr sterben, sondern lieber Töten will. Eine seltsame Psychologin lockt sie auf eine einschlägige Plattform im Darknet. Die naive, internetunaffine junge Frau gerät in eine intrigenschwangere Mordverabredung. Blut, Spass und sehr wienerische Figuren.

 

Wasser

 

(c) Vracht

 

Einer der schönsten Filme ist: Vracht von Max Carlo Kohal.
Vier Jahre Lehre auf einem Frachtschiff. Vom unsicheren Anfänger, der sich quälend mit dem Tau abmüht, zum Kapitän, der souverän rückwärts ins Hafenbecken einparkt. Ein faszinierender Einblick in die Welt der Frachtschifffahrt auf dem Rhein. Bilder, die ruhig, sachlich und trotzdem schön vom Alltag an Bord erzählen.
Eine hermetische Welt, deren wirkliche Grösse zu keinem Zeitpunkt wirklich sichtbar wird, und die der Film zu keinem Zeitpunkt verlässt. So bleibt man immer ganz nah an den Protagonisten und deren Entwicklung. Ein wirklich faszinierender Film.

 

Was ist nun der Schweizer Film? Er ist sicher nicht auf ein, zwei Schlagworte zu reduzieren. Er ist vielfältig, oft ungewöhnlich, immer öfter koproduziert und wird, nicht zuletzt durch diese Koproduktionen, immer sichtbarer. Es gilt also, ihn auch in den Kinos ausserhalb der Schweiz, ausserhalb eines Festivals anzuschauen und zu entdecken.

#FilmTipp_ Flow

(c) ch.dériaz

 

 

Die Katze, das Wasser, die Dystopie

 

Auch wenn viele geneigt sind einen Animationsfilm als Kinderfilm abzutun, ganz oft liegt man mit dieser Einschätzung falsch. Die belgisch, lettisch, französische Koprodunktion Flow von Gints Zilbalodis bildet da keine Ausnahme.
Die Altersfreigabe ab 6 Jahren sollte man auf jeden Fall nicht unterschreiten.

Wasser

 

(c) ch.dériaz

 

Eine Welt, in der nur noch vereinzelte Spuren davon zeugen, dass auch mal Menschen dort gelebt haben, wird von einer riesigen Flutwelle überrollt. Tiere flüchten in Scharen vor dem heranrollenden Wasser, auch die kleine schwarze Katze, die eben noch von einer Meute Hunde gejagt wurde, rennt um ihr Leben.
Aber wohin, wenn überall nur noch Wasser ist, das auch noch weiter steigt und steigt.

 

Ruinen, Berge, Bäume

 

Was eben noch Sicherheit bedeutete, bietet gleich nur noch Platz für ganz eng zusammengestellte Katzenpfoten. Drumherum: Wasser.
Da taucht ein kleines Segelboot auf, an Bord ein dickes Wasserschwein, in letzter Sekunde rettet sich die Katze in Sicherheit.

Ängste überwinden, Allianzen finden

 

Wie in allen Abenteuern oder Heldenreisen gilt es, über sich und seine persönlichen Ängste hinauszuwachsen, aber auch zu finden, mit wem man sich zusammentun kann, um Energie, Wissen und Können zu bündeln, um gemeinsam stärker zu sein.
So kommen während der Fahrt gegen Wind, Wellen und Regen zuerst ein Katta, dann ein Hund und ein Sekretärvogel dazu. Eine ganz schön diverse Truppe, die sich anfangs auch eher skeptisch anschaut. Im Verlauf der Reise zeigt sich aber, dass genau diese Diversität den einheitlichen Tiergruppen überlegen ist. Der Zusammenhalt wächst, man hat sich nicht gesucht, aber gefunden.


Ohne Sprache, aber nicht sprachlos

 

Der Film kommt völlig ohne Sprache (im herkömmlichen Sinn) aus.
Die Tiere schnattern, bellen, grunzen und maunzen miteinander, und es ist immer sehr klar, was da „gesagt“ wird. Wie gut der Vogel oder das Wasserschwein beobachtet sind, kann ich nicht sagen, aber die Eigenheiten und Ausdrucksformen von Katze und Hund sind sehr genau getroffen. Die Tiere agieren zwar als Gruppe gegen eine Gefahr, werden dabei aber nicht mit menschlichen Attributen überzuckert. Sie müssen ihre Haut retten, nicht mehr und nicht weniger.
Der Film verzichtet auch auf jegliche Erklärung der Umstände. Man erfährt weder wo die Menschen hin sind, von denen Häuser, Bilder, Skulpturen übrig sind, noch woher das Wasser kommt. Und selbst das Ende ist eigentlich der Anfang von etwas, das nicht näher erklärt wird.

 

Divers und Solidarisch

 

Ohne den Zeigefinger zu heben, zeigt der Film die Kraft von Diversität und Solidarität. Und das verstehen alle, die diesen Film gesehen haben, problemlos.

Flow läuft in Wien im Filmcasino noch dreimal in diesem Jahr, und ist dann ab 7. Februar 2025 regulär im Kino zu sehen.

 

 

#Locarno77 Zum Schluss

(c) ch.dériaz

 

Trauern und Traditionen

Locarno bereitet sich vor, auf die Preise, auf den letzten Abend auf der Piazza Grande und auf das Gewitter, das für den Abend angekündigt ist.

Kasachische Filme sieht man wirklich selten in Europa, dafür fanden sich dieses Jahr gleich zwei in den Wettbewerbsprogrammen. Joqtau von Aruan Anartay ist ein Spielfilm in Dokumentarfilm-Ästhetik gehüllt. Tatsächlich ist man erst mit dem Abspann sicher, dass es ein Spielfilm war, davor lässt der Film Zweifel zu.
Dem Patriarchen einer kasachisch-nomadischen Familie geht es nicht gut, also reist sein Enkel mit Freundin aus Russland an. Nomadische und islamische Traditionen, die beiden fremd sind, machen die Reise zu einem Abenteuer. Die Geschichte wird in nicht chronologischen, nicht linearen Bögen erzählt. Eine letzte Fahrt des Grossvaters mit Enkel und Freundin ins Herkunftsdorf werden mit Photos der Fahrt und mit Vorbereitungen für das Begräbnis gemischt. Dazu, einem akustischen Tagebuch gleich, Off-Refelxionen der Freundin und des Enkels. Nicht uninteressant.

 

(c) ch.dériaz

 

 

Litauen räumt ab

Litauen hat zwei Filme im Programm und beide werden mit reichlich Preisen ausgezeichnet.
Der Pardo d’Oro, Hauptpreis des Festivals, ebenso wie der Pardo Swatch First Feature Award gehen an Saulė Bliuvaitė für Akiplėša (Toxic). Dazu kommen noch der Preis der Ökumänischen Jury und der zweite Preis der Jugend-Jury.

Seses von Laurynas Bareiša gewinnt den Pardo für die beste Regie und das gesamte Darstellerteam den Schauspiel-Pardo.

Der MUBI Award – Debut Feature, also ein weiterer Preis für Erstlingsfilme, geht an:
Green Line von Sylvie Ballyot, und auch hier ein Preis der Jugend-Jury.

 

 

Saulė Bliuvaitė (li)
(c) ch.dériaz

 

Österreich und Georgien mit zahlreichen Preisen


Mond von Kurdwin Ayub erhält den Spezialpreis der Jury, sowie auch den Preis von Euroimages und der Jugend-Jury.
Der Pardo d’Oro im Concorso Cineasti del Presente geht an Holy  Electricity von Tato Kotetishvili und auch dieser Film wurde von der Jugend-Jury bedacht.

Beste aufstrebende Regisseurin in dieser Sektion: Denise Fernandes für HanamiI.

Der Pardo Verde geht an: Agora von Ala Eddine Slim.

 

(c) ch.dériaz

Vielleicht keine Premiere, aber selten genug, dass ich alle Preisträgerfilme gesehen habe. Auch nicht einmalig, aber auch selten, finde ich alle Preise nachvollziehbar, gerechtfertigt und lassen den Glauben an die Qualitäten von Festival-Jurys wachsen.
Besonders schön und spannend sind immer die Preise der Jugend-Jurys, die jedes Jahr wieder mit enormem filmischen Wissen und Gefühl für gute Geschichten auffallen.
Gewonnen haben, fast durch die Bank, Filme mit (sozial)politischen Themen und alle haben eine spezielle, originelle filmische Handschrift und Herangehensweise an ihre Themen gezeigt.
Alle Preise auf der Festivalseite.

 

 

 

(c) ch.dériaz
Es bleibt schön

 

Das, was am Morgen noch drohende Gewitterwolken waren, hat sich in der Hitze des Nachmittags in niedliche Abendwölkchens verwandelt. Es wird wohl auch an diesem Abend auf der Piazza trocken bleiben.

Der Abschlussabend verläuft etwas anders als sonst, Jury-Präsidentin Jessica Hausner hat kurz die Bühne, übergibt vor dem grossen Publikum nochmal den Goldenen Leoparden an Saulė Bliuvaitė.
Der Publikumspreis der Piazza Grande wird noch bekannt gegeben, er geht an Reinas von Klaudia Reynicke.

 

Giona A. Nazzaro
(c) ch.dériaz

Giona A. Nazzaro spricht noch einmal mit viel Emotion von der grossen Liebe zum Kino, zum Kino als Mittel des Miteinanders. Es hat etwas Schwermütiges, wie er das sagt. Von der neuen Festival-Präsidentin Maja Hoffmann ist nichts mehr zu sehen oder zu hören.
Der letzte Abendfilm der 77. Ausgabe des Festivals kann beginnen.

 

(c) ch.dériaz
Hund

Eine Dramödie möchte man Le Procès du chien von Laetitia Dosch nennen. Der Film, nach einer wahren Begebenheit, erzählt vom Prozess gegen einen Hund, der mehrmals zugebissen hat. Jetzt drohen dem Halter eine hohe Geldstrafe und dem Hund der Tod. Eine etwas chaotische Anwältin verteidigt den Hund, indem sie über ihn zunächst nicht als Sache, sondern als Entität verhandeln lässt. Ihr gegenüber, die Verteidigerin der Gebissenen, eine karrieregeile, geifernde Anwältin, auf dem Sprung in die Lokalpolitik. Der Film hat sehr witzige Momente, nervende Passagen, weil sowohl das Chaotische als auch das Geifernde auf die Dauer zu viel werden. Und der Film ist auch berührend, einfach, weil der Hund so toll ist, und man ahnt, dass das alles nicht wirklich gut ausgehen kann.

Das Festival ist zu Ende, bleibt die Hoffnung, dass möglichst viele der Filme ihren Weg in Kinos finden, nicht nur in ihren Herkunftsländern. Weil, ja, Filme verbinden, Filme öffnen die Sicht auf Anderes, und Filme bereichern.
Locarno 78 startet am 6. August 2025

 

(c) ch.dériaz

#Locarno77 Erleben

(c)ch.dériaz

 

Auswandern

 

Der letzte komplette Festivaltag.
Das Thermometer zeigt schon vor 10 Uhr 30° an, Regen ist erst für Samstag angekündigt.
Auf dem Programm heute, zwei Kurzfilmvorführungen, aber zuerst einer der vielen Schweizer Filme im diesjährigen Wettbewerb: Hanami von Denise Fernandes.
Hanami, das japanische Kirschblütenfest als Titel für einen Schweizer Film, dessen Geschichte auf den Kapverden spielt. Klingt ungewöhnlich, passt aber insofern, als Vergänglichkeit und Schönheit, die beim Kirschblütenfest gefeiert werden, auch in diesem Film essenziell sind.
Die Kapverden als Ort der Auswanderung, wo eine mittlere Generation fast komplett fehlt, weil sie in alle Richtungen ausgewandert ist. Es bleiben die Grosseltern und die kleinen Kinder, es bleiben die Märchen, die Sagen und die Überlieferungen, und eine windzerzauste, traumhafte Landschaft. Nana wird, gerade erst geboren, von ihrer Mutter in die Obhut der Grossmütter gegeben, sie wächst auf mit einem Gefühl von Fehlen, aber auch fest verwurzelt auf der Insel. 13 Jahre später kommen zu einem Familienfest erstmals alle Ausgewanderten, auch Nanas Mutter, zurück.
Die Kluft zwischen Ausgewanderten und Dagebliebenen ist riesig. Die Cousins und Cousinen sprechen plötzlich eher Französisch oder Englisch statt Kreolisch,
und doch birgt dieser vergängliche Moment viel Schönheit und Liebe. Eine stimmungsvoll erzählte Geschichte in traumhafter Landschaft.

 

 

Vielseitig

Einer der wenigen, wenn nicht der einzige Film, der in 35 mm läuft, der Experimentalfilm Revolving Rounds von Johann Lurf und Christina Jauernik. Langsame Annäherungen an leere Gewächshäuser, in denen auf einer Art Bildschrirmen Pflanzen zu sehen sind. Die Kamera taucht ein in die Blätter, ein animierter Taumel, hypnotisch. Bis die Kamera mit dem Zuschauer wieder verschwindet.

Better Not Kill the Groove von Jonathan Leggett ist eine wilde Collage von Internet-Clips, teils verfremdet, teils einander überlagernd. Und immer die Frage, die Suche nach einem männlichen (Selbst)Bild, das das Internet aber nicht bieten kann.

Linnud läinud (On Weary Wings Go By) von Anu-Laura Tuttelberg ist ein träumerischer Stop-Motion-Film mit Porzelanpuppen in einer herbstlich-winterlichen Real-Bild-Landschaft. Ein Abschied mit Puppe und Tieren.

Mit 54 Minuten der längste Kurzfilm: What Mary Didn’t Know von Konstantina Kotzamani. Eine Familienreise auf einem Luxuskreuzfahrtschiff, wo alle über 80 zu sein scheinen. Mary, die Teenager-Tochter der schwedischen Familie, langweilt sich, bis sie in der Schiffsküche den jungen Koch Abdel sieht. Im romantischen Ambiente der Kreuzfahrt entspinnt sich eine leise Liebesgeschichte. Kitschig überkolorierte Bilder spiegeln den kitschigen Zustand einer ersten Verliebtheit wider, malerisch versinkender Vollmond inklusive. Sehr schön und toll gespielt.

 

 

Vielfältig

Die beste Methode abzukühlen ist, den weitesten Weg zwischen zwei Kinos in Locarno während der Tageshöchsttemperaturen zu Fuss zu gehen, und sich dann, verschwitzt, im kühlen Kino abkühlen lassen. Low-Tech-Sauna.
Ein letztes Mal Kurzfilme aus dem Programm der Pardi di Domani.

Der Film von Denis Côté ist angeblich für den Pardo Verde, also für Filme, deren Inhalt oder Anliegen der Umwelt nützen oder diese zum Thema haben, nominiert. Wie das Jours avant la mort de Nicky aber erfüllt, ist nicht zu sehen.
Eine Kamera hinten im Auto nimmt Nicky auf, wie sie fährt, mal vorwärts auf langen Strassen, mal rückwärts, irgendwo weg, manchmal steht sie vor dem Auto, pinkelt, trifft Leute, nimmt ein Gewehr mit. Die Kameraposition ändert sich nie, was sich allerdings ändert, ist die Qualität der Bilder. Manchmal ganz schlecht, verpixelt, unscharf, manchmal scharf und manchmal schwarzweiss, mit Schrammen. Aber warum? Die Szenen haben eine tiefe Traurigkeit, aber mehr nicht.

Progress Mining von Gabriel Böhmer ist ein dystopischer Stop-Motion-Film. Eine Mine mit Figuren aus Filz, Pappe und Holz, in der nach Fortschritt gegraben wird. Aber vieles scheint kaputt zu sein, die Mine sollte geschlossen werden, aber dann gibt es weder Fortschritt noch Geld für die Arbeiter. Ein Dilemma. Toll gemacht.

Für Sky Rogers: manager de stars scheint Ciel Sourdeau alle filmischen Mittel, die leicht und kostengünstig aufzutreiben waren, ausprobiert zu haben. Heraus kommt eine etwas wirre, aber sehr bunte und auch irgendwie lustige Geschichte von einem – ausserirdischen – Musik-Manager, der nichts auf die Beine bringt. Grell.

Nochmal ein längerer Kurzfilm: Que te vaya bonito, Rico von Joel Alfonso Vargas. Rico ist auf dem besten Weg, in die Kleinkriminalität abzurutschen. Er verkauft am Strand in New York selbst gemixten Schnaps, illegal. Zu Hause schreit er mit seiner jüngeren Schwester, belügt seine Mutter und schleppt dann seine schwangere Freundin an. Aber ein glückliches Leben kann das so nicht werden. Als er von der Polizei einmal zu viel geschnappt wird, fallen Entscheidungen, die vielleicht Veränderung bringen werden. Rau, hektisch und gut gemacht.

 

Applaus

Den ganz grossen Enthusiasmus hat es auf der Piazza noch nicht gegeben.
Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof bekam stehende Applaus, aber vor seinem Film, für seine politische Haltung. Der Film wurde gut aufgenommen, vor allem wohl, weil die gute Sache einen, wenn auch nur kleinen, Sieg davon trägt. Sauvage bekam fröhlich johlenden Applaus, hauptsächlich aus der Ecke der Jugendlichen, die an den Kunstvermittlungs-Workshops teilnehmen, und an dem Abend eingeladen waren. Und Sew Torn bekam so weit sicher den grössten Applaus, aber von viel weniger Zuschauer, der Film lief nach Mitternacht.
Ob das dann reicht, um den Publikumspreis zu bekommen?

Vielleicht ist das Publikum in diesem Jahr auch eher zurückhaltend in seinen Gefühlsäusserungen. Das würde zur Auswahl der Filme auf der Piazza Grande passen, die zwar gut waren, aber ohne ganz grosse Highlights.

Mit sehr viel Beifall wurde am heutigen Abend Jane Campion empfangen, der Ehrenleopard für die grosse neuseeländische Regisseurin ist mehr als verdient.

 

Jane Campion
(c)ch.dériaz

 

Kindersicht

Rita von Paz Vega ist ein weiterer Film, der häusliche Gewalt thematisiert.
Spanien 1984, seit gerade mal 3 Jahren ist das Recht auf Ehescheidung in Kraft, aber sozial anerkannt sind Geschiedene noch lange nicht. Vor diesem Hintergrund und aus der Sicht der sieben-jährigen Rita erzählt der Film eine Katastrophe mit Ansage. Die Kamera nimmt, so oft es geht, die niedrige Kinderperspektive ein, und auch die wüsten Beschimpfungen und Attacken des Vaters werden fast ausschliesslich über die Tonebene vermittelt. Die Angst der beiden Kinder wird dadurch schauderhaft spürbar. Aber Rita ist eine Beschützerin, sie tröstet den jüngeren Bruder, kümmert sich ohne zu murren um Hausarbeiten, damit die Mutter einen Moment zum Erholen hat. Sie hört, sie sieht, sie versucht, was sie kann, um Leid zu lindern, aber sie ist eben erst sieben.
Ihre Frage, warum eigentlich immer der Vater bestimmt, was zu tun ist, lässt die Mutter unbeantwortet. Ganz hervorragend ist die kleine Sofía Allepuz in der Rolle der Rita. Ein sehr beeindruckender Erstlingsfilm.

 

Nichts für hohe Absätze
(c)ch.dériaz

#Locarno77 Liebe

 

(c) ch.dériaz

 

Zeitlos

Das Locarno Filmfestival als Zeitblase.
Wochentage, Datum, alles verschwimmt, es bleibt nur der Blick auf die nächsten Vorführungen. Da kann man dann schon ziemlich blöd an einem Feiertag vor dem geschlossenen Supermarkt stehen, und nicht verstehen, was da los ist.

 

Liebe verträumt

Olivia & Las Nubes von Tomás Pichardo-Espaillat ist ein faszinierender Animationsfilm. Der Film zeigt eine ganze Palette von verschiedenen Animationstechniken, vermischt Super 8 Filmmaterial mit Stop-Motion und Zeichnungen der verschiedensten Stile. Heraus kommt eine surreale, verträumte Geschichte über die Unmöglichkeiten der Liebe. Der schnelle Erzählrhythmus zwingt einen, den Geist fliessen zu lassen, und sich in Folge ganz auf den Film und seine irren Bilder einzulassen.

 

(c) ch.dériaz

 

Freundschaft

Akiplėša (Toxic) von Saulė Bliuvaitė ist eine ziemlich grimmige Geschichte von jungen Mädchen, die mit allen Mitteln aus ihrem abgerockten Zuhause irgendwo in der litauischen Provinz rauskommen wollen.
Marija, die Neue, wird zunächst von den lokalen Mädchen wegen ihres leichten Hinkens abgelehnt und beklaut. Aber an Orten, wo es nicht viel Abwechslung gibt, sind alle Allianzen und Freundschaften willkommen, und so wird sie schnell Kristinas beste Freundin. Beide versuchen einen vermeintlichen Model-Kurs gut abzuschliessen, und sich für die angepriesenen Reisen ins Ausland zu qualifizieren. Ein Teufelskreis aus Essensverweigerung, Fressattacken, Drogen und im Darknet erworbenen Bandwürmern, die Versprechen, das Gewicht von innen „wegzufressen“, entsteht. Ein Film über toxische Weltbilder, giftige Substanzen und über unwahrscheinliche, enge Freundschaften, die überleben helfen.

 

Fremd

Es gilt, ein verpasstes Kurzfilmprogramm nachzuholen, aber wirklich toll ist es leider nicht. Dafür ist das kleine Kino sehr voll.

My Life is Wind (a letter) von Anahita Ghazvinizadeh ist der beste Film des Programms.
Eine junge Frau aus einem nicht näher benannten arabischen Land kommt in den USA im Mittlerenwesten an. Niemand von der Flüchtlingsorganisation spricht Arabisch, also verbringt sie ihre ersten Tage schweigend. Während sie in ihrem Kopf einen Brief an die Zuhause gebliebene Grossmutter verfasst. So erfährt man stückweise ihre tragische Geschichte, lernt ihre Träume, ihre Ängste kennen. Parallel dazu, um sie herum ein lautes, fremdes Leben. Sehr schön gemacht.

Dull Spots of Greenish Colours von Sasha Svirsky ist ein experimenteller Animationsfilm. Vage meint man zu verstehen, dass es um Kritik an Politik, um Krieg, um Machtmissbrauch geht. Aber wirklich sicher ist das nicht.

The Nature of Dogs von Pom Bunsermvicha ist einfach nur uninteressant.
Eine Familie mit kleinem Hund kommt in einem schönen Ferienressort an. Als der Hund verschwindet, entsteht ein ziemlich sinnloser Streit um ganz allgemeine Verhaltensweisen der einzelnen Familienmitglieder. Ein Ausflug zu einer buddhistischen Grotte sorgt für Ruhe, irgendwie. Und der kleine Hund ist auch wieder da.

The Form von Melika Pazouki ist hübsch, lustig und kurzweilig.
Eine iranische Schülerin macht sich im Klo der Schule zurecht für eine Verabredung mit einem Mann, den sie nicht kennt. Ihre Freundin gibt Ratschläge und wird später alle Details wissen wollen. Aber der Mann versetzt sie.

 

(c) ch.dériaz

 

Liebe komisch

 

Ein fast kurzer Abend auf der Piazza, niemand wird geehrt, das macht den Ablauf vor dem Film deutlich flotter.
Schon bei der Präsentation ihres Films sind Regisseurin Alice Lowe und einige der Schauspieler ziemlich witzig. Was aber dann in Timestalker alles abläuft, ist komödiantischer Science-Fiction Spass mit vielen schrägen Kostümen und reichlich verspritztem Blut.
Die Geschichte startet im späten 17. Jahrhundert, Agnes (von der Regisseurin selbst genial gespielt) sieht Alex zum ersten Mal, mit reichlich Weichzeichner wird ihr plötzlicher Anfall von Liebe fröhlich übertrieben sichtbar. Aber der Zustand hält nicht lang, und schon ist Agnes einen bösen, blutigen Tod gestorben.
Nächster Halt: 100 Jahre später. Und dann noch mal 100 Jahre später.
Immer wieder treffen die beiden aufeinander, immer wieder ist Agnes wie hypnotisiert und Alex ein Idiot. Neben Agnes und Alex „reisen“ noch drei weitere Figuren durch die Jahrhunderte, in immer gleichen Verstrickungen. Der Film ist wirklich extrem lustig und dabei sehr klug und gut gemacht.
Beste Unterhaltung.

 

#Locarno77 Tiere

 

(c) ch.dériaz

 

Zwischenbilanz

 

Die erste Woche in Locarno ist vorbei, das Festival geht langsam in die Endrunde.
Richtig überwältigende Filme haben sich noch nicht präsentiert.
Bisher am besten:
Les Enfants rouges, Crickets, It’s Your Turn, Kada je zazvonio telefon, alle aus der Sektion Cineasti del presente, also erste und zweite Langfilme. Aus dem Concorso Internazionale hebt sich Green Line hervor.

 

Wiedergänger

Nach der Pressevorführung von Agora von Ala Eddine Slim verwunderte Blicke, Kopfschütteln, Fragen. „Hast du das verstanden?“
Wiedergänger, die plötzlich in einem Ort in Tunesien erscheinen, ein Polizeichef, der versucht Ruhe in den Ort zu bringen, und dann taucht ein mysteriöser Typ von einer Art Geheimpolizei auf. Der Film fängt an wie ein Science-Fiktion-Horror-Film, driftet aber zusehends ins Unverständliche ab.
Geht in jede nur denkbare Richtung, scheint sich mal an politischen, mal an mystischen Themen abzuarbeiten, auch Umweltzerstörung und Machtmissbrauch sind als Ideen enthalten. Unterbrochen wird die Handlung mehrfach von einem tonlosen Dialog zwischen Hund und Rabe, die von ihren Ängsten sprechen, die wissen, dass schreckliches passieren wird, wenn die Toten wiederkehren.
Und immer wieder Hunde, streunende, tote, schlafende. Surreal, aber auch unverständlich. Möglicherweise ist da genau das Problem, der Film scheint zu narrativ, um sich einfach nur dem Surrealen hinzugeben, macht zu viele Fenster auf, durch die man meint, schauen zu müssen, nur um dann nichts sehen zu können.
Gut gemacht an sich, schöne Bilder, interessante Effekte, aber man möchte so gerne etwas verstehen. Irgendetwas.

 

 

Mittags
(c) ch.dériaz

 

Jeden Tag und tatsächlich auch jedes Jahr, die mittägliche Suche nach einem schattigen Platz, an dem man sitzen kann und Eingekauftes essen kann. Eine Aufgabe, die ans Unmögliche grenzt.
Die paar schattigen Orte bieten keine Sitzmöglichkeiten, ausser auf dem blanken Boden. Heute im „Angebot“ trockene Wiese unter einem Baum, mit einer dicken Hornisse als Nachbar. Kommerzfreier öffentlicher Raum tut Not.

 

Digital

Weltweit Freunde, Liebhaber in Phantasiewelten, Avatare, VR-Welten, Tick Tock, Influencer, schöne neue Digitalwelt.
Was in Real von Adele Tulli ganz poppig und nicht uninteressant anfängt, hat ein deutliches Struktur- oder Organisationsproblem. Nach welchem System die einzelnen Sequenzen zusammengestellt sind, erschliesst sich nicht, und macht das Zuschauen mit der Zeit immer ermüdender.
Menschen in Südkorea, Italien, Schweden, den USA präsentieren sich, oder ihre VR-Avatare, freimütig der Regisseurin, diese mischt deren selbst gefilmten Schnipsel, oder Welten, mit „objektiven“ Blicken auf die jeweilige Situation, aber der dramaturgische Bogen fehlt komplett. Mittendrin eine kurze Sequenz mit Spiel- und Internetsüchtigen, die in einem Kloster Entzug und Therapie machen, aber auch das bleibt losgelöst von allem anderen und frei von innerer Konsequenz. Irgendwann sieht man nichts mehr, will auch nichts mehr sehen. Von Anfang an nervt eine Art Meditationsmusik, die unter fast egal was für Bilder geklebt wurde, das ist noch schlimmer als der Mangel an Ziel in der Geschichte.

 

 

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Krieg

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, manchmal ist aber trotzdem gut, nicht genau gelesen zu haben.
Green Line von Sylvie Ballyot ist 150 Minuten lang, hätte ich das vorher gelesen, wäre ich vermutlich nicht reingegangen. Was ein grosser Fehler gewesen wäre.
Fida war gerade geboren, als 1975 im Libanon der Bürgerkrieg ausbrach, der 15 Jahre ihres Lebens stahl und 200.000 Opfer brachte. Regisseurin Ballyot geht mit Fida zurück nach Beirut, in ihr Viertel in West-Beirut. Anhand der ganz persönlichen Geschichte des kleinen Mädchens von damals, und mit sehr einfachen Puppen und Papierhäusern auf einem Stadtplan in Szenen gesetzt, erfährt man auch Fakten. Unterbrochen und genial gegeneinander geschnitten: die Puppe Fida und die heute erwachsene Fida in Beirut, vor ihrer Schule, in ihren Gassen.
Aber der Film erzählt mehr, als nur die Fakten eines Krieges und eines Traumas. Fida spricht mit Kämpfern aller beteiligten Seiten, immer im gleichen Setting: ein zerstörtes Haus, die Wände offen nach draussen, der Plan mit den Papierhäusern dem Wind ausgesetzt. Sie lässt die Kämpfer erzählen, aber nicht irgendetwas, sondern deren Sicht auf Ereignisse, die sie als Kind erlebt hat. Fragt aus der Perspektive des Kindes von damals, holt die (meist) Männer immer wieder zu diesen kindlichen Fragen zurück. Sie will nicht, dass man ihr, einer erwachsenen, intelligenten Frau den Nahostkonflikt erklärt. Sondern, dass man dem kleinen Mädchen erklärt, wie es zum Beispiel sein kann, dass ein Soldat, der sie „beschützen“ soll, für sie ein angsteinflössendes Monster ist.
Sie stellt ihre Fragen freundlich, aber hartnäckig, lässt die Befragten nicht in Phrasen abgleiten. Und bekommt immer Antworten. Und die Erkenntnis, dass, selbst wenn man einsieht, dass dieser Krieg ein Riesenfehler war, er trotzdem von jeder Seite anders gesehen und erinnert wird.
Zwei Kämpfer, ein Christ, der mit für die Massaker in Sabra und Schatila verantwortlich war, und ein Palästinenser, sind die einzigen, die eindeutig Stellung gegen den Krieg beziehen: Der christliche Kämpfer hat sich in einem Brief an das libanesische Volk öffentlich für seine Beteiligung entschuldigt, der Palästinenser ist Mitglied einer Gruppe „Kämpfer für den Frieden“. Fast alle anderen schaffen es immer noch, ihrer Perspektive einen Sinn zu geben, ein: „es hiess die oder wir“.
Ein Film, der ein so komplexes Thema gleichzeitig originell und sensibel behandelt, der trotz der Länge unglaublich intensiv und spannend ist, wäre ein guter Kandidat für einen der Leoparden. Zu gönnen wäre es ihm auf jeden Fall.

 

 

Geräusche

 

Laserschwert
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Ben Burtt, Erfinder unter anderem der Geräusche von R2D2 oder der Laserschwerter in Star Wars, ist der Ehrenleopard-Empfänger des Abends. Es ist immer wieder schön, wenn Meister ihres Fachs, die nicht so oft im Rampenlicht stehen, vor grossem Publikum gewürdigt werden.


Pferde

Gaucho Gaucho von Michael Dweck und Gregory Kershaw setzt den Nordosten Argentiniens in schönen Schwarzweiss-Bildern in Szene. Ein Dokumentarfilm über eine Gruppe Gauchos, der immer dann stark ist, wenn die Gauchos und eine Gaucha reiten, mit den Tieren arbeiten oder den Kindern Fertigkeiten beibringen. Etwas schwerfällig sind die Szenen, in denen – meistens – zwei Leute miteinander reden, immer in gleicher Art, seitlich an einem Tisch sitzend, oder einander gegenüberstehend, gefilmt wurden. Das sieht und klingt inszeniert und schwächt die Kraft des ansonsten schönen Films.

 

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#Locarno Keine Macht den Monstern

 

 

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Umwelt

 

Einige Filme, die sich mit Umweltthemen befassen und ein weiterer Hitze-Tag in Locarno. Am Nachmittag zeigt ein Thermometer kuschelige 38°, in den Kinosälen bleibt es dank Klimaanlage kühl, bis kalt.

 

Bildverliebt

 

Fogo do vento von Marta Mateus ist eine Ansammlung allegorischer Bilder, christlicher Motive und Metaphern. Weinreben, Landarbeiter, hartes Licht, scharfe Schatten, Wein, der in den Boden versickert, grosse Korkeichen und ein schwarzer Stier, der marodierend Angst verbreitet. Die Menschen deklamieren, wie der Chor im griechischen Drama, Phrasen, die von Ausbeutung und Unterdrückung reden, vage auch von der Geschichte Portugals. Und auch wenn jedes einzelne Bild wirklich extrem schön ist, 72 Minuten können verdammt lang sein, wenn man so einem Quatsch zu sieht.

 

 

Wasser

Fario von Lucie Prost ist ein bisschen ein Ökokrimi und ein bisschen eine Geschichte vom Heimkommen.
Eigentlich fährt Léo aus Berlin nur zurück nach Frankreich, um den Verkauf von Land an die Gemeinde zu besiegeln. Die Minengesellschaft, die Probebohrungen für seltene Erden macht, scheint alle relevanten Papiere zu haben und Umweltauflagen zu befolgen, aber sie braucht das Land der Bauern.
Im Ort sind die Leute gespalten in Verkäufer und Nicht-Verkäufer. Aber geht wirklich alles mit rechten Dingen zu? Léo, wie fast alle seine Freunde beruflich mit Wasseranalysen vertraut, findet, dass die Forellen im Fluss sich seltsam verhalten, und leuchten sollten sie eigentlich auch nicht. Oder sind es die Drogen in seinem Kopf, die ihm einen Streich spielen?  Der Film findet eine Balance zwischen Ökokrimi, Bauernsterben und den Problemen junger Erwachsenen, atmosphärisch schöne Landschaften, Halluzination in Bilder übersetzt und dynamische Partysequenzen, alles greift fliessend ineinander.

 

 

 

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Experimente

Heute wieder ein extrem starkes Kurzfilmprogramm. Alle Filme auf die eine oder andere Weise experimentell, experimentierend.

Der Film Razeh-del der Iranerin Maryam Tafakory ist ein unglaublich tolles Werk.
Er zeigt das Unzeigbare, Unmachbare: iranische Frauen in der Kunst, im Film, als Darstellerinnen, als Regisseurinnen. Mit Mitteln der Überlagerung, Bildverfremdung, dem Neuschnitt von Filmausschnitten, zeigt er, was nicht möglich ist. Kunstschulen, die Frauen nicht aufnehmen, Filme, die so lange zensiert werden, bis nichts mehr von ihnen übrigbleibt, und Frauen, die wenn, dann nur als angemalte Puppen auftreten, oder als Opfer, die am Schluss im Film meistens nicht überleben. Sehr eindrucksvoll.

looking she said I forget von Naomi Pacifique thematisiert die Suche nach einer neuen Form von Leben, von Liebe, von Miteinander jenseits der Konventionen. Viel Blau, viele Momente der Verirrung und Verwirrung, sehr schön.

Revier von Felix Scherrer. Eine fast poetische Annäherung an die Macht der Polizei auch in der Schweiz. Beeindruckend einfach in den Mitteln, dicht in der Ausführung.

Gwe-in esi jeongche (The masked Monster) von Syeyoung Park ist ein Horror-Märchen in Schwarzweiss-Bildern. Ohne Dialog, nur mit Zwischentiteln und rhythmischer Perkussion ist das Märchen packend und böse, grausam und klug und sehr schön gedreht.

 

 

Miese Typen

Wenn man einen Preis vergeben könnte für die Darstellung der ekelhaftesten Typen, dann gewinnt Crickets, It’s Your Turn von Olga Korotko haushoch.
Der kasachische Film zeigt eine Gruppe von Freunden, sexistisch, misogyn, widerlich, die sich gegenseitig in ihrem Tun befeuern und beklatschen. Dummerweise gerät eine junge Frau in diese Gruppe. Obwohl ihr bei jeder Begegnung klar sein müsste, dass sie dort in Gefahr ist, glaubt sie den Beteuerungen des einen Kerls, der sie in die Gruppe hereingebracht hat, dass alles nur Spass ist, die Typen in Wahrheit ganz liebe Männer sind. Wie die Regisseurin die Steigerung der Gewalt zeigt, ist beeindruckend und beunruhigend. Die Spirale schraubt sich immer weiter hoch, die Ausweglosigkeit wird immer deutlicher, und trotzdem hofft und bangt man mit der jungen Frau. Genau wie sie weigert sich der Zuschauer zu glauben, was offensichtlich ist. Bis zum bösen Ende. Ein Film, in dem sich der Horror und die Ausweglosigkeit langsam einschleichen, um dafür nicht mehr wegzugehen.

 

 

 

Claude Barras mit Keria und Orang-Utan
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Coole Kinder

 Kinder an die Macht wäre vielleicht Claude Barras‘ neuem Animationsfilm Sauvages voranzustellen.
Der Kampf zweier Kinder und eines Orang-Utan-Babys um den Urwald in Borneo. Sie sind kulleräugig und niedlich, aber nicht zu unterschätzen: Keria und ihr Cousin Selaï legen sich mit einem Palmöl-Unternehmen an, das den Wald und Lebensraum der Nomaden abzuholzen droht. Dass die kleine Keria dabei auch gleich mehr von ihren nomadischen Wurzeln erfährt und ihr Selaï dabei gewissenhaft zur Seite steht, rundet die Abenteuergeschichte kulturell ab. Mut, Zivilcourage und Respekt vor Natur und Kreatur ergeben eine echte „Heldenreise“ in Stop-Motion, kindgerecht, aber auch für Erwachsene wunderschön anzusehen.

 

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Das waren viele Monster für einen Festivaltag, einige konnten aufgehalten werden, immerhin.

#Locarno77 Erinnern

 

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Beiläufig

 

In Mond von Kurdwin Ayub bekommt eine ehemalige MMA–Kämpferin ein Jobangebot in Jordanien, sie soll dort die Töchter einer reichen Familie trainieren. Der Job scheint eine gute Chance zu sein, ihr etwas ramponiertes Ego wieder aufzupolieren. Aber recht schnell zeigt sich, dass der Job nicht so einfach ist. Die Mädchen sind teilweise bockig-unwillig und hängen lieber den ganzen Tag vor dem Fernseher. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, irgendetwas scheint verkehrt zu laufen in dem palastartigen Haus.
Den Mädchen ist fast alles, was Teenager heute so machen, verboten: WLAN im Haus, Handy ausserhalb des Hauses, Kommunikation, alles Fehlanzeige.
Und wer ist die vierte Schwester?
Die Idee ist eigentlich sehr gut und spannend, scheitert aber daran, dass alle Figuren seltsam unbeteiligt und losgelöst sind. Die Trainerin will zwar wissen, was los ist, aber so recht glauben mag man ihr das nicht. Sie taumelt mit stets gleichem neutralen Gesichtsausdruck durch die Szenen, selbst als es zu einem kurzem, aber heftigem Schockmoment kommt. Die Schwestern wirken, selbst wenn sie sich aufregen, wie aufgezogen und die Security-Männer wirken wie hohle Hüllen.
Als eine der Schwestern die Trainerin bittet, ihnen zu helfen zu fliehen, erledigt sie alles mit unverändert stoischem Blick. Sämtliche Handlungen – der Schwestern, der Trainerin – bleiben völlig ohne Konsequenzen. Das nimmt dem Film sehr viel Empathiepotenzial und Glaubwürdigkeit.

 

 

Sex und Familie

 

Mother Is a Natural Sinner von Boris Hadžija und Hoda Taheri ist der dritte Kurzfilm des Regie-Paares, und wieder eine – scheinbar – sehr persönliche Geschichte, die drastisch-geradlinig erzählt wird.
Der Film fängt mit einer medizinischen Kamerafahrt aus der Scheide heraus an, um dann von der Vulva aussen in die Totale beim Gynäkologen zu fahren. Möglicherweise war das eine der angekündigten „Triggerwarnungen“ für sensible Gemüter. Danach hat das Paar eine ziemlich schräge Unterhaltung über Sex und sexuelle Vorlieben und Praktiken, während sie in aller Ruhe Gemüse putzen und ein Hühnchen zerlegen. Der Kontrast ist tatsächlich ziemlich lustig, mehr allerdings auch nicht.

Maman danse von Mégane Brügger ist inhaltlich härter. Die Erinnerungen von Mutter und Tochter an eine Zeit des Missbrauchs und der Gewalt. Familienphotos, das ehemalige Wohnhaus, Fragen, Antworten, der Versuch, die Erinnerung des Kindes ins Heute der Regisseurin zu bringen. Auch wohl um damit abzuschliessen.

Ein spielsüchtiger Vater und seiner kleiner Sohn sind die Protagonisten in Punter von Jason Adam Maselle. Eine kleine, tragisch-traurige Geschichte von Verrat. Der Junge kauft für den Vater von seinem Ersparten eine Geburtstagstorte, die aber möglichst schnell in den Kühlschrank sollte. Der Vater hat allerdings andere Pläne: nur eine einzige Pferdewette, versprochen. Versprechen gebrochen!

In The Cavalry von Alina Orlov ist eine politische Erinnerung an das Jahr, in dem die israelische Regierung den Zaun zum Westjordanland gebaut hat, Ausgangspunkt für eine experimentelle Auseinandersetzung mit Aspekten der israelischen Politik. Am Beispiel der Kavalerie-Truppe im Verlauf der Jahrzehnte bis heute mischt die Regisseurin reale Bilder mit computermodifizierten Aufnahmen. Sie verfremdet und bringt damit Details einander näher. Nicht uninteressant.

Chou He Zhuang von Hao Zhou spielt mit der Thematik der Selbstkritik in China. Homosexualität, Bespitzelung, nicht erfüllbare Erwartungen und dazwischen: Lautsprecherdurchsagen, die Selbstkritik als Massnahme zur inneren Harmonie predigen. Sehr schräg, relativ explizit.

 

 

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Kinderblick

 

Kada je zazvonio telefon (Als das Telephon klingelte) von Iva Radivojević ist ein Mosaik an Erinnerungen, geformt aus dem Blick eines 11-jährigen Mädchens, dessen Welt dabei ist, sich radikal zu verändern.
Als das Telephon klingelt, 1992, an einem Freitag um 10:36, besteht Jugoslawien (gerade) noch. In Schleifen, Loopings, Assoziationen und dem immer wiederkehrenden Motiv des klingelnden Telephons entsteht die Welt der kleinen Lana. Der Anruf fungiert als Drehpunkt, um den und von dem aus die Bilder rein und raus fliessen können. Das kindliche Erinnern an Freunde, Spiele, Situationen, kurz vor einer Flucht, kurz vor dem Ende des bekannten Lebens. Fragmentiert, nicht chronologisch, aber immer sehr intim. Der Film hat kaum Dialoge, dafür eine Off-Erzählstimme, die kurz die Situationen skizziert, sich aber auch den kindlichen Bögen unterwirft.

 

 

Pasta statt Piazza

Es mag ein Fehler sein, oder ein Zeichen von Kultur-Ignoranz, aber 150 Minuten Filme auf unbequemen Stühlen, nachdem vorher noch Ehrenpreise verteilt wurden, nein, das ist zu viel.
Also, statt auf der Piazza den nepalesischen Film anzuschauen, essen gehen und dann einen litauischen Film aus dem internationalen Wettbewerb sehen.

 

Schwestern

Laurynas Bareiša wählt für Seses einen Erzählstil mit Unterbrechungen und Wiederholungen. Eine Art Parallelmontage von einem Vorher und einem Nachher, Cliffhanger inklusive. Das ist ganz kurz etwas verwirrend, aber dann eigentlich ein sehr schöner Kunstgriff. Zwei Schwestern, ihre Männer und je ein Kind fahren gemeinsam in ein Ferienhaus an einem See, die Stimmung ist relativ gelöst, kleine Reibereien und Angebereien mal ausgenommen. Der erste Strang endet, als eines der Kinder nach einem Sprung in den See nicht mehr auftaucht. Im zweiten Strang versteht man recht bald, dass der Mann einer der Schwestern nicht mehr am Leben ist. Danach wechseln sich die Sequenzen ab, und Stück für Stück erlebt man, was vorher geschah und was heute daraus geworden ist. Ein Film bei dem man trotz Spannung ganz in Ruhe schauen, folgen und verstehen kann.

 

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Auf dem Rückweg, vorbei an der Piazza, wo der nepalesische Film in vollem Gange ist, schöne Bilder hat er auf jeden Fall.

#Locarno77 Beziehungen

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Die Luft köchelt

 

Bereits am Morgen steigen die Temperaturen auf hohe Werte jenseits der 25°, da ist es gut, wenn man schattige oder gekühlte Plätze findet, auch ausserhalb der Kinosäle. Glück haben alle, die einen Fächer besorgt haben.
Bewegte Luft kühlt, sofern man nicht zu schnell fächert.

 

 

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Schon im letzten Jahr stand nur noch sporadisch auf der Tafel, wie viele Besucher abends auf der Piazza waren. Dieses Jahr existiert die Tafel zwar noch, aber sie taugt nur mehr als schwarzer Spiegel, es gibt keinerlei Angaben mehr. Schade eigentlich. Samstag waren auf der Piazza Grande aber sicher die komplett möglichen 8.000 Besucher, die Abende davor waren vermutlich recht nah dran.

 

 

Freundschaften und Allianzen

 

Das heutige Kurzfilmprogramm ist deutlich weniger stark, was man allerdings immer spürt, ist das Herzblut, das in den Filmen steckt.
Das ist ein Anfang, der Rest kommt – hoffentlich – mit der Zeit.

Despre imposibilitatea unui omagiu (On the Impossibility of an Homage) von Xandra Popescu. Wie kann man einen ehemaligen Tänzer porträtieren, wenn dieser dauernd sagt, dass er so, aber so nicht, porträtiert werden kann. Wer bestimmt, wer ist der Künstler eines Werkes über einen Künstler? Am Ende entsteht dennoch ein Bild des ehemaligen Startänzers der Bukarester Oper.

Lux Carne von Gabriel Grosclaude ist ein schöner Animationsfilm über zwei Cousinen in einer heissen, trockenen, verlassenen Motela­nlage. Sehr reduzierte Zeichnungen, die die Stimmung in der Hitze, die Langeweile und die wachsende Gereiztheit trotzdem perfekt eingefangen.

Soleil gris von Camille Monnier zeigt eine etwas gruselige Vision in die Zukunft. Menschen, die Fleisch kaufen und essen wollen, müssen vorher einen Schlachthof– Schein machen. Je grösser das selbst geschlachtete Tier, desto umfangreicher die Menge Fleisch, die erworben werden kann. Eine junge Reporterin mit Dackel will mehr darüber wissen, und findet sich plötzlich allein mit einem Huhn in einem weiss gekachelten Raum.
Kühl und unheimlich.

400 Cassettes von Thelyia Petraki beleuchtet die Fragilität von Freundschaft und vermischt das mit philosophischen Betrachtungen. Nicht ganz klar, nicht wirklich interessant gestaltet.

1 hijo & 1 padre von Andrés Ramírez Pulido. Ein Junge, der in der Schule gehänselt wird, wehrt sich mit immer drastischeren Mitteln. Bevor er von der Schule fliegt, soll er an einem Vater-Sohn-Camp teilnehmen. Bloss, der Vater fühlt sich nicht zuständig. Stattdessen geht der Freund der Mutter mit, selber beständig Opfer blöder Kommentare. Eine sehr sensible erzählte Geschichte, die zeigt, dass auch unwahrscheinliche Verbindungen funktionieren können.

 

 

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Menschen und Orte

 

Ein Regisseur beobachtet seine Stadt, seine Mitmenschen und erzählt dabei – ein bisschen– eine Geschichte.

Holy Electricity von Tato Kotetishvili ist vordergründig die Geschichte von zwei Typen, Onkel und Neffe, die sich mehr schlecht als recht am Leben halten, in dem sie auf Schrottplätzen nach Verkaufbarem stöbern.
Der wirkliche Protagonist ist aber die Stadt Tiflis und ihre Bewohner: laut, seltsam, etwas verrückt. Erzählt wird alles in Totalen, mal etwas näher, mal weiter, aber immer total, dadurch entsteht ein dokumentarischer, beiläufiger Charakter.
Aber auch die fiktiven Figuren (alles Laiendarsteller) haben eigenwillige Hintergründe. Der Onkel entpuppt sich als Transmann, der obendrein Stress mit Geldeintreibern hat. Der Neffe verliebt sich zum ersten Mal, weiss aber nicht so recht, wie ihm geschieht. Und gemeinsam versuchen sie selbstgemachte leuchtende Kreuze zu verkaufen, um doch noch zu Geld zu kommen. Dazwischen skurrile, schrullige Figuren, die eher aus dem echten Leben stammen, als aus der Feder des Regisseurs. Eigenwillig.

 

Star

Nachtrag zum Bollywoodstar Shah Rukh Khan: das Publikumsgespräch musste, schon im Vorfeld, vom offen zugänglichen Spazio Cinema in eines der Kinos verlegt werden. Die kleine Strasse, in der das Rex liegt, war vor und während des Gesprächs an beiden Seiten durch mobile Gitter abgesperrt. Vermutlich, um einen Aufstand der übermütigen Fans zu verhindern. So viel Starkult ist wirklich selten in Locarno.

 

 

 

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Unterdrückung

 

Die Luft steht immer noch, es ist drückend heiß.
Dann heisst es, tief Luft holen für den fast dreistündigen Film auf der Piazza.

Mit grossem Beifall und grosser Begeisterung wird am Abend der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof empfangen. Die Vorstellung zu seinem Film nutzen Giona A. Nazzaro und er zu einem Aufruf zu Freiheit und Demokratie.Rasoulof ist vor kurzem aus dem Iran geflohen, um einer möglichen Verhaftung zu entgehen.

Sein Film The Seed of the Sacred Fig ist ganz klar politisch positioniert.
Die Geschichte eines Ermittlers der iranischen Justiz und seiner Familie ist spannend erzählt, zeigt im Mikrokosmos Familie, wie repressive Politik funktioniert. Zeigt Bespitzelung, Angst, Paranoia, aber auch Zivilcourage und Opposition.
Einziger Nachteil des Films: er ist mit 167 Minuten einfach zu lang. Die Positionen, selbst die Entwicklungen der Figuren sind relativ schnell und klar gezeichnet, und dann dauert es bis zum wirklich spannenden Showdown einfach furchtbar lang.

#Locarno77 Entscheidungen

 

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Filmglück – Filmpech?

 

Die Auswahl der Filme ist immer etwas beliebig und damit Glückssache.
Welche Filme kann man gemeinsam in einen Tag packen, gibt es Regisseure und Regisseurinnen, deren Filme man dringend sehen mag, klingt ein Titel vielversprechend? So weit war die Auswahl recht ok.
Auf der Piazza Grande war allerdings noch nichts wirklich Aufregendes, und so endete bisher jeder Abend mit freundlichem, aber kurzem Applaus. Da ist definitiv noch Luft nach oben.

 

Fremdbestimmt


Luce
von Silvia Luzi und Luca Bellino ist ein ungeheuer nervöser Film. Die Handkamera ist ständig in Bewegung, die Bildausschnitte fast immer extrem eng, dazu eine Geräuschkomposition, die einen zusätzlich nervös macht. All das reflektiert das Leben, das Innenleben der Protagonistin, einer jungen Frau, die in einer Lederfabrik am Fliessband arbeitet. Sie scheint eine innere Leere zu haben, etwas, das sie seit Kindheit sucht, was das genau ist, bleibt unbekannt. Aber als sie eine Drohne fliegen sieht, schickt sie ein Handy mit der Drohne über eine Mauer. Es folgen Anrufe, geflüstert, von einer Männerstimme. Ist das ihr Vater, den sie zu suchen scheint? Ist er im Gefängnis und wenn ja, warum? Nichts wird erklärt, sie lügt ebenso ins Telephon, wie vermutlich die flüsternde Stimme am anderen Ende. Eine dunkle Geschichte, nervös, dynamisch und auf merkwürdige Art angsteinflössend.
Luce fällt in die Kategorie Filmglück, dreimal verworfen, weil der Katalogtext eher nichtssagend ist, und dann passte er perfekt in eine Lücke im Tagesplan.

 

 

 

Locarno und die Stühle

Das wird keine grosse Liebe mehr!

 

 

Die einen, auf der Piazza, zerbrechen allabendlich, nicht viele, aber doch genug. Beim Spazio Cinema, wo alles auf Holzplanken steht, fallen seit letztem Jahr immer wieder Menschen mit ihren Stühlen um, weil die Stuhlbeine zwischen die Holzplanken rutschen, und schon liegt man unerwartet auf dem Rücken. Die Stühle in der grossen Multifunktionshalle La Sala quietschen bei jeder Bewegung.
Und alle Stühle sind irre unbequem, sodass man schon nach drei Tagen nicht mehr weiss, wie man sitzen soll.

 

 

Perspektiven


Wenn im Kurzfilmprogramm der schwächste Film immer noch gut ist.
Das heutige Programm umfasst vier Filme und alle sind von grossartig bis gut, was für eine Freude.

Der palästinensische Film UPSHOT von Maha Haj verschiebt die Perspektiven auf das, was die Geschichte zu erzählen scheint. Am Anfang eine Einblendung: Irgendwann in der Zukunft. In einem schönen Olivenhain sieht man älteres Ehepaar, er pflegt die Bäume, sie holt Eier bei den Hühnern. Sie essen gemeinsam, unterhalten sich über ihre erwachsenen Kinder. Streiten sogar ein wenig, der Vater bevorzugt dies, die Mutter jene, aber insgesamt scheinen ihre fünf Kinder wohlgeraten, mit Jobs und eigenen Familien. Man denkt sich: Kontext, Zukunft, ein palästinensisches Ehepaar redet wie andere Eltern auch. Eine Zukunft ohne Krieg und Konflikt. Doch dann erscheint ein Mann am Gartentor, ein Schulfreund des ältesten Sohns, und die Perspektive kippt nochmal, radikal und schmerzhaft. Tolle Kamera, die Frieden und Glück suggeriert, ruhiges Spiel und doch der Schockeffekt am Ende.

Sans Voix von Samuel Patthey ist ein fabelhafter Animationsfilm. Die Zeichnungen teilweise fast skizzenhaft, aber wenn man genau schaut, doch extrem komplex. Ein junger Mann, orientierungslos, zwischen fadem Alltag und nächtlichen Exzessen, bis ihm in der Umgebung Kinder zu denken geben.

WAShhh von Mickey Lai zeigt ein malaysisches Militärcamp, die Stube junger Frauen, multiethnisch. Und dann bricht die Kommandantin herein, zwingt die Frauen mitten in der Nacht, den Waschraum zu putzen und in allen Mülleimer zu checken, dass die Monatsbinden, die einzeln in Papier weggeworfen werden, vorher auch ausgewaschen wurden. Die eher ekelige Aufgabe scheint einen kulturell-religiösen Hintergrund zu haben, der nicht für alle Frauen von Belang ist. Alles sehr schön und in Schwarzweiss gedreht, auch wenn sich der tiefere Konflikt aus europäischer Sicht nicht ganz erzählt.

Gender Reveal von Mo Matton fängt friedlich, fröhlich an und endet als Splatter in poppigen Farben.
Drei genderfluide Personen auf einer sogenannten Gender Reveal Party. Sie fallen auf, sind bunt, grell und: definitiv non-binär. Die Stimmung bewegt sich zwischen amüsiert bis peinlich berührt, bis zum grossen Moment. Der Rauch, der das Geschlecht des Ungeborenen verraten soll, vergiftet die Gäste, der werdende Vater fällt mit einem Elektrogerät in ein Planschbecken, die Mutter stürzt auf eine Metallstange, spritzendes Blut inklusive. Am Ende verlassen drei verblüffte Menschen die Party. Rasant gespielt und gedreht, frech und sehr lustig.

 

Britischer Humor

 

Foul Evil Deeds von Richard Hunter ist etwas zäh, aber auch irgendwie komisch. In Episoden werden verschieden Typen, Familien, Freunde und ihre eher öden Leben vorgestellt. Immer in Häppchen, Schwarzblende, nächste Gruppe, Schwarzblende. So entschlüsselt sich die ganze Mittelmässigkeit, Boshaftigkeit und auch Achtlosigkeit der Figuren. So bringt der Pastor versehentlich die Katze des Nachbarn um, zwei Jugendliche verletzten ihren Kumpel mit einem Feuerwerkskörper und der biedere Finanzbeamte lässt sich bei einer Prostituierten auspeitschen. Was ins Auge fällt, ist die Auswahl der Bildästhetik, im 4:3 Format, mit einer Mini DV Kamera gedreht, erinnern die Bilder an Videos, die irgendwo in einer Schublade dem Vergessen entgegen dämmern. Diese raue Bildqualität gibt den Episoden etwas Verhuschtes, Privates und Voyeuristisches.

 

 

 

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Endlich

 

Samstagabend, bereits bevor man ab 20 Uhr auf die Piazza Grande kann, sind richtig lange Warteschlangen an den Einlasspunkten, die Lust auf Kino scheint ungebremst.

Wie jeden Abend gibt es einen Ehrenleoparden, diesmal hat der zu Ehrende eine Reihe quietschender, johlender Fans angezogen: der Bollywoodstar Shah Rukh Khan. Charismatisch und eine echte „Rampensau“ übernimmt er die Bühne der Piazza, das ist schon beeindruckend. Das Quietschen steigert sich. Selbst als der Star schon abgegangen ist, der erste Film des Abends startet, hört man Fans im Hintergrund seinen Namen skandieren.

Mexico 86 von César Díaz ist ein Film über schwere Entscheidungen.
Guatemala Mitte der 70er Jahre, eine junge Mutter und politische Aktivistin gegen die Militärdiktatur sieht sich gezwungen ihr Land zu verlassen und ihren Säugling bei ihrer Mutter lassen. Sie flieht nach Mexiko. 10 Jahre später, Mexiko bereitet sich auf die kommende Fussballweltmeisterschaft vor, muss sie wieder schwere Entscheidungen treffen. Ihr Sohn kann nicht länger bei ihrer Mutter bleiben. Aber ihr bewaffneter Kampf gegen die Diktatur ist noch lange nicht vorbei, und die Agenten des Diktators sind ihr scheinbar auf der Spur. Ein toller Film, atmosphärisch dicht, spannend, erschütternd und mit einer fabelhaften Bérénice Béjo in der Hauptrolle.

 

Nicht den Faden verlieren

In Sew Torn von Freddy Macdonald, dem Mitternachtsfilm auf der Piazza, geht es auch um Entscheidungen, auf Leben oder Tod. Weniger ernst zwar, dafür um so rasanter, witziger, schräger und verrückter und blutiger. Barbara, eine junge Schneiderin, ist pleite, der Laden, den ihre verstorbene Mutter aufgebaut hat, geht pleite, sie wird dieses Lebenswerk und Zuhause verlassen müssen, wenn nicht ein Wunder geschieht. Auf einer Passstrasse stösst sie auf einen Drogendeal, der ordentlich schiefgegangen ist. Zwei halb tote Männer, ein Koffer mit Geld, Päckchen mit Drogen, alles vor ihren Füssen.
Die Möglichkeiten: Das perfekte Verbrechen begehen, die Polizei rufen oder weiterfahren. Der Film spielt alle Varianten durch, die alle eher sehr schlecht ausgehen. Aber bis dahin ist es einfach faszinierend, was man alles mit Nadel und Faden machen kann, um sich aus unmöglichen Situationen zu retten. Sew Torn ist einfach nur grossartig! Eher unwahrscheinlich, dass er den Publikumspreis gewinnt, aber die Zuschauer, die zur späten Uhrzeit noch da waren, waren begeistert.