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#Visions du Réel 2024 Sehen lernen

 

(c) Visions du Réel

 

 

Aufmerksam Schauen

 

In Nyon fand gerade das internationale Dokumentarfilmfestival Visions du Réel statt.
Dank der Möglichkeit, online am Festival teilzunehmen, hier ein Blick auf die 55. Ausgabe. Was auffällt, wenn man das Programm durchgeht, sind die wirklich vielen Weltpremieren, was auch den Stellenwert des Festivals reflektiert.

Sehen können

Wer versteht zu sehen, erkennt neben dem Sichtbaren auch das Unsichtbare.
Das gilt für Nicole Vögeles
The Landscape and the Fury genauso wie für die Zuschauer ihres ungewöhnlichen und mit dem Hauptpreis ausgezeichneten Films.
In sehr langen, meist statischen Einstellungen bewegt sie sich durch die Jahreszeiten im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet. Man sieht der Landschaft und ihren Bewohner immer noch die Narben und Wunden des Krieges an. Minen liegen weiterhin in den Wäldern, Häuser zeigen Einschusslöcher, die Bewohner reden über ihre Erlebnisse im Krieg. Gleichzeitig versuchen Flüchtlinge aus neuen Kriegs- und Krisengebieten dort über die Grenze nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen. Das ruhige Tempo, die Totalen, die auch immer wieder im Dunkeln nur schemenhaft etwas preisgeben, die beiläufig aufgeschnappten Gespräche, all das schärft den Blick des Zuschauers. Zeigt Verbindungen, zeigt, wie an dieser Grenze unmenschliche Pushbacks und menschliche Wärme nebeneinander existieren, genauso wie die Minen und die Fluchtwege.

 

Ein weiterer Preisträgerfilm, diesmal in der Kategorie national:
Valentina and the MUOSters von Francesca Scalisi.
Auch hier überwiegt die Ruhe, das Anschauen und ein bisschen das Verrückte. Valentina ist 27, lebt bei ihren Eltern und tut nicht viel, ausser hübsche, kleine Blumen zu häklen. Ihr Leben, wie das ihre Familie, ist stark verwurzelt mit dem ländlichen Sizilien, auch wenn eine Anlage riesiger US-Militärsatelliten das Leben erschweren und die Landschaft verschandeln. Aus der anfangs etwas patzig wirkenden jungen Frau entwickelt sich im Lauf des Films aber eine Frau mit Widerspruchsgeist, die auch ihr Leben in die Hand nehmen wird. Die Satelliten, die Militärkontrollen, all das strukturiert visuell und gibt dem Film eine etwas mysteriöse, versponnene Note. Aber genau das ist sehr schön.

 

Perspektivwechsel

Manchmal versteht man Bekanntes (noch) besser, wenn es aus einer anderen Perspektive erzählt wird.
Preparations for a Miracle von Tobias Nölle macht genau das.
Die bekannten Bilder der Proteste um die Erweiterung des Kohletagebaus in Lützerath neu gesehen und eingeordnet von einem zeitreisenden Androiden. Eine tagebuchartige Erzählstimme, dazu immer wieder die Füsse, Hände oder Beine des Androiden, machen aus den Bildern eine filmische Subjektive. Baumaschinen, Traktoren, Roboter werden zu verehrten Vorfahren, zu Helden, die im 21. Jahrhundert noch versklavt waren. Ihre Bewegungen werden zu Tänzen, man vermeint plötzlich Augen und Gesichter zu sehen, Reaktionen, der Android interagiert mit seinen Vorfahren. Die Demos werden als Huldigungen eingeordnet, die Baggerarbeiten als Vorbereitung für ein grosses Ereignis. Naiv und spielerisch bewegt sich der Gast durch unsere Zeit, und verdeutlicht den Konflikt, ohne ihn ein einziges Mal als solchen darzustellen. Das ist sehr gewitzt und märchenhaft.

 

Seitenwechsel

Der Genfer Regisseur Yvan Yagchi macht sich auf den Weg nach Israel, er will verstehen, wieso sein ältester Freund in eine Siedlung ins Westjordanland gezogen ist.  Avant il n’y avait rien fängt an als Versuch, eine Erklärung zu finden.
Yagchis Familie ist 1948 aus Palästina zunächst in den Libanon geflüchtet, seine Mutter dann später in die Schweiz. Sein Kindheitsfreund wuchs als Adoptivkind in einer reformierten jüdischen Familie in Genf auf. Aber warum wird er zum Siedler? Der Versuch, die abgebrochenen Beziehung wieder zu kitten, misslingt. Anfangs scheint eine gemeinsame Ebene denkbar, aber plötzlich will der Freund mit dem Film nichts mehr zu tun haben, droht mit Anwälten und fordert den Abbruch. Aber das Projekt ist schon recht weit, es gibt Förderung, ein kompletter Abbruch wäre fatal. Und so wird die Geschichte eine Suche nach den eigenen Wurzeln, und ein langer filmischer Brief an den Freund.
Aus der Situation, den Freund nicht mehr zeigen zu können, entwickelt Yagchis ein künstlerisches System, er lässt den Freund mit weissem Gekrakel übermalen, und nimmt das comichafte dann auf, als er seinen eigenen Urgrossvater gezeichnet mit in die Geschichte bringt. Ein sehr starker Film, der viel persönlichen Schmerz öffentlich macht, ohne peinlich zu werden.

 

Schatten

 

My Memory Is Full of Ghosts von Anas Zawahri ist ein langer Spaziergang durch das sehr zerstörte syrische Homs. Im Off Erinnerungen an gute und an schreckliche Momente verschiedener Bewohner der Stadt. Man sieht sie nie reden, keine klassischen Interviews, statt dessen Gänge, Fahrten, Orte, Menschen, die inmitten von Zerstörung Alltag leben. Das ist zum Teil bedrückend, weil jedes Bild immer auch das Fehlen beinhaltet, und doch sind manche Geschichten fast hoffnungsvoll und fest verwurzelt in einem Ort, den die Leute ihr Zuhause nennen.

 

Empathie

Männer und Frauen in medizinischen Berufen lernen in Rollenspielen mit Schauspielern den Umgang mit Patienten, mit Kollegen, mit stressigen, schweren Situationen. Wie das funktioniert, zeigt Sauve qui peut von Alexe Poukine.
Bei allem Ernst, den die Übungen haben, ist der Film extrem unterhaltsam und zeitweise sehr lustig. Trotzdem wird recht schnell klar, dass diese Rollenspiele für das medizinische Personal wirklich wichtig und hilfreich sind. Die Studenten üben so den Umgang mit Patienten, bekommen aber auch von den Darstellern Rückmeldung, wie ihr Verhalten ankommt. Und für bereits im Beruf Stehende sind die Übungen eine Möglichkeit, auszuprobieren, was für Varianten im Verhalten möglich sind. Bleibt zu hoffen, dass solche Übungen nicht nur sporadisch, sondern vielleicht grundsätzlich zur Verfügung stehen.

 

Film-Bilder

 

The Return of the Projectionist von Orkhan Aghazadeh ist eine Liebeserklärung ans Kino.
Irgendwo in Aserbaidschan, an einem Ort, wo man am besten nachts mit dem Laptop auf einen Hügel steigt, wenn man eine stabile Internetverbindung braucht, treffen ein alter Filmvorführer und ein sehr junger Filmemacher aufeinander. In wunderschönen Bildern erzählt der Film von der Freundschaft der beiden, aber auch von ihrem Versuch, einen Kinoabend zurück ins Dorf zu bringen. Ein Versuch, der fast scheitert, weil die bestellten Lampen für den Projektor auch nach Monaten nicht angekommen sind. Mit Liebe zum Kino, zum Filmemachen und mit viel Phantasie schaffen beide, ihre jeweiligen Stärken so zu koppeln, dass am Ende das ganze Dorf eine Filmvorführung erleben kann. Einfach nur schön.

 

(c) Visions du Réel

 

Mehr Informationen zum Festival, zu den Preisträgern auf der Webseite des Festivals.

#Diagonale 2024 Ins Kino gehen

 

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Ins Kino gehen

 

 

Heute noch vier Vorstellungen der Diagonale 2024, soweit hat mein interner Zufallsgenerator eher gute, interessante oder schräge Filme in mein Programm gespült. Von dem, was zu hören ist, waren sehr viele Vorstellungen zwischen gut besucht und ausverkauft. Es bleibt dieselbe Frage, wie bei oder nach allen Festivals: Wieso stürmen die Menschen Kinos, wenn es ein Festival ist, und wieso gehen sie, im Schnitt, unter „normalen“ Bedingungen weniger ins Kino? Möglich, dass sich für Festivals einige Besucher extra freinehmen, aber alle? Unwahrscheinlich. Was also macht den Reiz aus, der im Alltag fehlt? Und könnte man den übertragen? Ins Kino gehen ist und bleibt etwas anderes als Film schauen.

 

Wohngemeinschaft

 

Der morgendliche Film Mein Zimmer von Monika Stuhl straft mich lügen. Er ist mässig besucht und mässig gut. Schwer zu sagen, woran der Film wirklich krankt. Erzählt wird von einer Organisation in Perugia, die Wohngemeinschaften organisiert, in denen jeweils eine Person mit geistiger Einschränkung mit mehreren Studenten zusammenlebt. Der „Deal“ ist, kostenlos wohnen, gegen Beteiligung und Hilfe im Alltag. Das alles ist interessant, ist eine gute Sache, trägt aber mangels Weiterentwicklung der Protagonisten, der Situationen im Film, nicht 90 Minuten.

 

 

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Falscher Dokuspielfilm

 

Und schon wieder versöhnt mit der Programmwahl dank Sparschwein von Christoph Schwarz. Der Film schlägt so viele Räder, mal vorwärts, mal rückwärts, nennt sich erst Dokumentarfilm, läuft als Spielfilm, definiert sich im Verlauf des Films als „Mockumentary“, und ist insgesamt ein unfassbarer Spass. Eine Ebene: Regisseur und Protagonist Schwarz, der einen Film über sich, wie er ein Jahr lang einen Geldstreik lebt. Während dieser Zeit spiralt er vom Aktivisten-Kasper zum Aktivisten und zurück zum Regisseur. Verbrennt Geld, bepflanzt ein Cabrio, fährt, da im Geldstreik, schwarz mit der Bahn und rotiert so von Unfug zu ernstem Aktivismus und zurück (und zurück, und zurück…). Insgesamt ist es völlig unerheblich, welche Teile „echt“ oder „wahr“ sind, weil jeder Teil, für sich genommen, dazu anregen kann – und sollte – über vieles in unsere Welt nachzudenken. Mit Humor und Selbstironie kann man möglicherweise viel mehr weitergeben, als mit leichenbitter Miene.

 

Nichts Neues

 

Auch wenn die Programme seit einiger Zeit nicht mehr experimentell, sondern innovativ heissen, sie bleiben eher Experimente denn wirkliche Innovationen. Zumindest nach diesem einen Programm geurteilt.
Es wird viel auf Film gedreht, was schön ist, aber das alleine ist nicht zukunftsweisend.

Projektionskamera von Manfred Schwaba ist tatsächlich ein sehr schönes, kurzweiliges Experiment. Live aus der ersten Reihe auf die Leinwand projiziert er seinen Film, eine Minute kurz. Sehr schön.

Friedl von Christiana Perschon und Ich will nicht gefilmt werden, sondern selber filmen von Friedl vom Gröller funktionieren nur im Doppelpack.
Die Filme sind wie Frage und die Antwort.
Friedl, die nicht interviewt werden will, beantwortet auf Schwarz doch eine von Perschons Fragen, dazwischen sieht man sie rauchend, stumm.
Ihre gefilmte Antwort: Perschon schaut, neben einem Projektor sitzend, auf eine Wand in einer Spiegelung Gröller, die filmt. Licht, Schatten, stumm.
Im Doppelpack ansprechend.

In The Tuner von Sasha Pirker lässt sich das Konzept, die Rhythmik nicht erfassen. Ein Klavierstimmer bei der Arbeit, das sieht sehr schön aus, sehr ruhig. Aber dann verschiebt sich die Synchronität, Bilder des Raumes kommen dazu und ab da ist man verloren.

In Silent Conversations von Eva Giolo umarmen sich Paare, gedreht auf überlagertem und bearbeitetem Filmmaterial. Das führt zu verschiedensten Effekten, deren Rhythmus und interne Logik auch nicht wirklich fassbar sind.

Palmer von Friedl vom Gröller ist wieder kurz und schmerzlos. Ein Mann, sichtbar vom Bauchnabel bis zum Anfang der Schenkel, in Unterhose, hinter ihm ein Spiegel und Hände, die von dort kommen, ihm die Unterhose runterzuziehen,

Saturn Return von Daniela Zahlner zeigt zehn erotische Kurzfilme. Neuinszenierungen von zwischen 1906 und 1911 entstandenem erotischen Filmen. Manche sind witzig, manche nerven. Im Ablauf ist etwas unklar, warum einige stumm, andere mit übertrieben lauten Geräuschen versehen sind. Manche sind sehr bunt, manche schwarzweiss, und noch andere mit den verschossenen Farben der 70-er Jahre. Vielleicht wäre das lustiger, wenn es nicht 30 Minuten dauern würde.

A Fat Person Goes to the Doctor von Veronika Merklein ist eigentlich eine tragische Geschichte. Eine dicke Frau liest Erlebnisse dicker Menschen bei Ärzten vor. Menschen, denen, egal weshalb sie zum Arzt kommen, immer (nur) gesagt wird, sie seien zu dick und müssten abnehmen. Trotz der sehr statischen Machart hat das was.

 

 

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Heilen

 

Restoration von Gudrun Gruber erzählt vom langen Prozess einer Heilung, einer Rückermächtigung.
Als Teenager wurde Sabrina in Detroit vergewaltigt, Hilfe aus ihrem Umfeld bekam sie zunächst nicht. Es schien auch alles vergessen zu sein, und die junge Frau führte ein „normales“ Leben. Aber Traumata verschwinden nicht einfach, und plötzlich wurde sie krank, bekam Angst- und Panikattacken, und Anfälle. Der Film erzählt ihre Geschichte, oder besser: Sie führt durch ihre Geschichte und nimmt dabei das Filmteam mit. Sabrina und ihre Familie sind sehr offene Protagonisten und Regie, Kamera und am Ende der Schnitt gehen behutsam und liebevoll mit dieser Offenheit um. So sieht man den Prozess einer Veränderung, den Anfang einer Heilung, einen Weg, der sicher noch nicht zu Ende ist. Ein sehr schöner Film.

 

 

Preise

 

Am Abend wurden die Preise vergeben, leider habe ich die meisten Filme nicht gesehen.

Der grosse Preis Spielfilm: Martha Mechow für Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin

Der grosse Preis Dokumentarfilm: Helin Çelik für Anqa

Kamera Spielfilm: Nora Einwaller für Asche

Kamera Dokumentarfilm: Julia Gutweniger für Vista Mare

Schnitt Spielfilm: Leandro Koch, Javier Favot für The Klezmer Project

Schnitt Dokumentarfilm: Sara Fattahi für Anqa

Was angenehm auffällt, nicht nur die beiden Regiepreise, sondern auch die beiden Kamerapreise gehen an Frauen. Nachdem das Verhältnis der Geschlechter in der Auswahl immer noch nicht ganz ausgeglichen ist, ist das nicht unwesentlich. Der Publikumspreis wird erst morgen Abend bekannt gegeben.
Alle Preise auf der Webseite der Diagonale.

 

 

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Die erste Diagonale unter der Leitung von Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar hat einen guten Jahrgang an Filmen zur Verfügung gehabt. Die Stimmung war sommerlich und entspannt, auf die konkreten Zuschauerzahlen muss man noch etwas warten, aber dem Augenschein nach war das Festival 2024 gut besucht.
Eine etwas nutzerfreundlichere Variante zum Buchen wäre weiterhin schön, aber das kann ja noch werden.

#Diagonale 2024 Im Rampenlicht

 

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Im Rampenlicht

 

So ganz scheinen die Intendanten noch nicht in ihrer öffentlichen Rolle angekommen zu sein, zumindest bei den Filmpräsentationen im Kino wirken sie immer noch etwas unsicher. Aber wie alle künstlerisch Verantwortlichen aller Filmfestivals sind die vorgestellten Filme immer ihr Herzenswunsch oder etwas ganz besonders Tolles. Die Filme, die ich bisher gesehen habe, waren tatsächlich durchwegs gut bis sehr gut, regelrechte Enttäuschungen waren noch nicht dabei. Gut gewählt.

 

Fragen stellen

 

Besuch im Bubenland von Katrin Schlösser, die gebürtige Leipzigerin erforscht die männliche Seele im Südburgenland. Das klingt zunächst wie ein aussichtsloses Unterfangen, funktioniert aber sehr, sehr gut. Einerseits hat sie wirklich interessante, spezielle Protagonisten, auf die sie sehr offen zugeht, andererseits stellt sie ihre Fragen so geschickt, dass selbst der schweigsamste Typ sich öffnet. Dabei scheint das System ganz leicht: einfache Fragen stellen und dann abwarten, auch schweigend, bis Antworten kommen. Und die kommen, selbst wenn die Männer teilweise sagen, dass sie zu einem Thema nichts sagen werden. Das Warten lohnt sich, die Geduld, und eben die einfachen Fragen. Scheinbar mühelos öffnen sich die Männer, lassen auf ihre Gefühle schauen, und scheinen sich dabei nicht unwohl zu fühlen.
Schlösser dreht mit ihrem Handy und macht den Ton auch selber, kleinstes Team also, mit kleiner Technik. In weiten Phasen des Films funktioniert das gut, schöne Bildkomposition, klarer Ton. Wo die Handykamera an ihre Grenzen stösst, tut sie das allerdings radikal und das macht das Anschauen auf der Leinwand manchmal unangenehm. Schnelle Bewegungen im Bild, zum Beispiel vorbeifliegende Vögel oder herumstiebendes Heu, erzeugen unangenehme digitale Spratzer. Seitlich aus dem Fenster gedreht während Autofahrten macht fast so etwas wie seekrank, und zarte Strukturen im Gegenlicht generieren unschöne visuelle Artefakte. Das alles beiseite genommen, ist der Film rundum gelungen.

 

 

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Haus – Heim – Zuhause

 

Das 4. Kurzdokumentarprogramm erforscht ausgiebig den Begriff Haus/Zuhause.
Essayistisch machen das Simona Palmieri, Esther Kreiner und Elisa Cabbai in ihrem Film Stanze / Zimmer. Unter einer Autobahnbrücke am Rand von Bozen hat ein Mann sich eingerichtet. Kunstvoll bemalte Betonpfeiler, Fundstücke, Müll für andere, hat er zu Kunstwerken zusammengestellt. Aber der Mann ist abwesend. Die Suche nach ihm, nach dem Warum, wird auch zu einer Frage nach dem Selbstverständnis, das wir von einem Heim, einem Zuhause haben. Aber muss es immer 4 Wände haben? Reicht vielleicht auch eine Art von Dach über dem Kopf? Oder reicht es vielleicht sogar, sich einen Ort zu eigen zu machen, in dem man ihn liebevoll behandelt?

Einen ganz ähnlichen Ansatz haben Marvin Kanas, Julia Obleitner und Helvijs Savickis in The Desert House. Sie folgen im südlichen Texas den mobilen Fertighäusern, auf riesigen Tieflader gepackt, sind sie „versandfertig“, bereit dort abgestellt zu werden, wo jemand entscheidet wohnen zu wollen. Ebenso schnell fertiggestellt, wie wieder verlassen. Aber sind sie ein Zuhause, oder „nur“ ein Haus? Mit dem europäischen Konzept der Immobilie kommt man da schnell an gedankliche Grenzen. Aber auch in Texas können diese mobilen Heime nicht mehr überall stehen, und so haltbar wie Lehmhäuser sind sie in der rauen Wüste auch nicht, aber auch dort fehlen Fachkräfte. Das Geschäft mit den Fertighäusern boomt.

Was Jan Soldats After Work in dieser Reihe macht, erschliesst sich nicht ganz. Zwei ältere Männer treffen sich – nach der Arbeit – in der Wohnung des einen zum Sex. Ausziehen, kurz absprechen, was gewünscht wird, loslegen. Ob der Sex zwischen den beiden nicht so recht klappen will, weil sie dabei gefilmt werden, man weiss es nicht. Egal. Anziehen, verabschieden, fertig. Schneller Sex in einem Zuhause, vielleicht ist das der gedankliche Zusammenhang gewesen.

 

Böse

 

Veni Vidi Vici von Daniel Hoesl und Julia Niema ist eine zynisch-bitterböse Geschichte in schönen Hochglanzbildern. Ein schnöseliger Multimillionär, der zur Entspannung auf Menschenjagd geht. Einfach so, weil er es kann. Weil ihn niemand daran hindert, obwohl es völlig offensichtlich ist, dass er für die Morde verantwortlich ist. Die Verstrickungen aus (viel) Geld, Macht, Politik, Medien und Justiz ermöglichen es ihm und seiner Familie, mit allem durchzukommen, nicht nur mit willkürlichen Morden. Dabei sind alle stets freundlich, lächelnd, wirken engagiert, ihr Blick auf den Rest der Gesellschaft ist allerdings von zynischer Ekelhaftigkeit geprägt. Sie verachten die Anderen dafür, dass sie alles zulassen, nicht aufschreien, sich nicht wehren, das Offensichtliche nicht stoppen. Und die nächste Generation hat gelernt und steht schon bereit. Ein politisches Lehrstück in Form einer bitterbösen Geschichte.

 

 

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Körper

 

Corpus Homini von Anatol Bogendorfer zeigt die Arbeit am menschlichen Körper, eigentlich die Arbeit für den Menschen. Parallel zeigt er den Alltag eines Bestatter-Paares, einer Sexarbeiterin mit Zusatzausbildung für Sexarbeit mit körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen, einer Hebamme und einer Hausärztin. Der Film nähert sich den einzelnen Frauen und ihrer Arbeit sehr behutsam, und führt so die Zuschauer stückweise näher und tiefer in die Materie ein. Durch das langsame Herantasten entsteht ein grosses Verständnis für den Kern der Arbeit am und für den Menschen, man versteht, wie viel Kommunikation in allen vier Berufen nötig ist. Die Dramaturgie, die die Intensität der Arbeit immer weiter offenlegt, erzeugt dabei zusätzlich Spannung, und ist trotzdem nie voyeuristisch oder würdelos. Obendrein kommt der Film nicht nur ohne Kommentar, sondern auch ohne redende Köpfe aus! Ein toller Film, der sehr gut ankam und in einer angeregten Publikumsdiskussion endete.

Morgen Abend werden, bis auf den Publikumspreis, alle Preise vergeben, eine Spekulation, was den Jurys gefallen haben könnte, ist eher nicht möglich.

 

#Diagonale 2024 Der schöne Schein

 

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Der schöne Schein

 

Der Samstag in Graz zeigt sich sommerlich und selbst Strassenmusiker sind hier filmaffin. Oder zumindest der eine, der mit Akkordeon Filmmusiken spielt, von Dschungelbuch bis Star Wars, sehr hübsch macht er das.

 

Übernahmen

 

Der Tag startet mit einem Kurzspielfilmprogramm, Filme, in denen vieles anders ist, als es scheint, und die alle auf die eine oder andere Art subtile Grausamkeit verbreiten.
Ausgenommen davon vielleicht Gana – Neon Gold von Ganaël Dumreicher. Der Musikclip mit Dumreicher als Sänger, Performer, Regisseur und Produzent ist ziemlich schräg. Die etwas rohe Machart und der Stil haben einen 90-er Jahre Charme. Es blitzt Gold im Mund, und das Essen auf überbordend vollen Tischen ist zum Spielen da. Vielleicht hat das auch etwas subtil Grausames.

Söder von Raoul Bruck fängt als Webseiten-Kollage an, entwickelt sich aber rasch zu einer bösen Geschichte. Eine Frau engagiert einen Mann, der ihren Ehemann töten soll. Der Profikiller in Spe scheint aber eher in seinen Träumen und im Internet ein harter Kerl zu sein. Der Auftrag wandelt sich im Verlauf des Films dramatisch. Gewitzt gemacht, mit kleinen, scharfen Wendungen.

Besser so von Lotta Schweikert erzählt von Nora, einer jungen Frau, die ihr Leben und dessen Aussicht auf Erfolg mithilfe von Listen und Tabellen bewertet. Egal, ob ihre Versuche Gurken einzulegen, oder ihre Aktionen als Klimaaktivistin, alles wird in Zahlen gefasst und durchgerechnet. Dumm nur, dass das Ergebnis für sie ergibt „das geht sich nicht aus“, heisst: Sie wird es zu nichts bringen im Leben. Konsequenterweise fährt sie los, um sich das Leben zu nehmen. Absurderweise hat sie auf dieser Fahrt lauter schöne, fröhliche Erlebnisse, aber Nora hat es ausgerechnet: Es geht sich nicht aus.

Transfrauen, die sich als Männer ausgeben, um einen Überfall zu begehen, das ist die Kurzfassung von Isa Schieches  Die Räuberinnen. Aber es geht nicht um den Überfall, sondern um das, was die Figuren durchleben, auf sich nehmen, um diese zeitweilige Rückverwandlung zu schaffen. Auch, oder gerade, weil man nie erfährt, worum es in dem Überfall geht, ist das eine bewegende Metamorphose.

Fast noch radikaler ist die Verwandlung in Strangers Like Us von Felix Krisai und Pipi Fröstl. Ein Paar lädt ein Paar ein, man kennt sich nicht gut, aber der Abend verläuft erstmal freundlich. Szene für Szene verschieben sich die Rollen, die Perspektiven, wer wohnt in dem Haus, wer ist zu Besuch? Mit jedem Schnitt verschiebt sich die Sicherheit, zu wissen, wer was ist. Und gerade wenn man glaubt zu verstehen, dass der Film sich einmal im Kreis gedreht hat, erkennt man, dass es sich um eine Spirale handelt.

 

 

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Nach Hause

 

Der Photograph und Filmemacher dreht seinen Freund und Photograph, der mit 53 Jahren zurück zu seiner Mutter und in sein Kinderzimmer zieht. Die guten Jahre von Reiner Riedler hat vorab sehr viel Lorbeeren bekommen, entsprechend voll auch der Kinosaal. Langsam erfährt man in den Gesprächen, die mit der Kamera beobachtet werden, sowohl von der beginnenden Demenz der Mutter als auch von den Depressionen des Sohnes. Ein Bilderbogen der Familie öffnet sich, Erinnerungen an die Kindheit, Familienreisen, aber auch die photographische Arbeit des Sohnes. Manche Sequenzen sind wirklich sehr schön und auch aussergewöhnlich gestaltet, oft sind sie aber eher zweckmässig, wenn auch durchaus gut.
Viel mehr als die Protagonisten berührt das Haus, in dem die Zeit nicht nur konserviert ist, sondern es so etwas wie Zeitschichten gibt. Das Kinderzimmer ist beim Einzug leer, aber es hängen noch alle Poster an den Wänden, die Kellerräume sehen aus wie der Wunschtraum eines Archäologen und selbst im Garten gibt es heimliche Zeitberge in Form alter Waschmaschinen oder unbenutzter Möbel. Dennoch ist es mutig von Mutter und Sohn, sich so vor der Kamera und dem unbekannten Publikum zu entblössen.

 

Verspielt

 

Noch ein Kurzspielfilmprogramm, diesmal mit sehr verspielt-versponnenen Filmen. In Im Traum sind alle Quallen feucht von Marie Luise Lehner treffen unterschiedlichste Menschen in einer Sauna aufeinander. Aber nicht alle kennen sich aus mit den Saunaregeln. Auch das Exponieren des eigenen Körpers scheint nicht allen angenehm. Ein fast tänzerischer Traum von Wollen und Wünschen im exotischen Ambiente einer wunderschönen Badeanstalt.

Worum es in Ich hab dich tanzen sehn von Sarah Pech geht, erschliesst sich nicht wirklich. Ein Mädchen läuft in der Dämmerung und in der Nacht durch einen Ort, scheint Menschen hinter ihren beleuchteten Fenstern zu beobachten, hackt Holz, läuft weiter. Warum? Auch der Katalogtext hilft nicht wirklich weiter.

Ein Teil von mir von Vivian Bausch fängt ganz friedlich und sanft an. Eine Geburtstagsfeier, die 16-Jährige bekommt einen Kuchen, aber immer dabei, der Freund der Mutter mit seiner Videokamera. Jahre später, zum 50. Geburtstag der Mutter, bricht das Trauma der Tochter endgültig hervor. Missbrauch wird angedeutet, Verdrängung und Empathiemangel. Trotzdem gibt es am Ende eine Versöhnung zwischen Mutter und Tochter. Der Film ist gerade in seinen Auslassungen sehr stark und bedrückend.

Kinderfilm von Total Refusal ist auch beim zweiten Mal sehen einfach toll. In und aus der Computerspielwelt des GTA V zaubert das Künstlerkollektiv eine eigene Geschichte. Etwas fehlt in der Welt, aber Edgar in seinem Auto kommt nicht drauf, was das sein mag, selbst als er in den leeren Schulbus zusteigt nicht. Versponnen, kreativ und sehr lustig.

ZINN – Das Kapital von Leonie Bramberger ist ein animiertes Musikvideo. Sehr schön, aber eigentlich möchte man es nochmal sehen, um wirklich sehen zu können.

 

 

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Familienbande

 

Wer sich für Film interessiert, für den sind G.W. Pabst und seine ikonischen Filme alles andere als unbekannt. Viel weniger bekannt ist Pabst Frau, Trude. Dabei spielte sie in einem seiner Filme eine kleine Nebenrolle und schrieb zu einem anderen das Drehbuch. Pandoras Vermächtnis von Angela Christlieb schliesst diese Wissenslücke und öffnet den Blick nicht nur auf die Ehefrau des Regisseurs, sondern auch auf seine Familie. In assoziativen Erzählbögen, untermalt von Trude Pabst Briefen und Traumtagebüchern, verwebt der Film Geschichte und Privates mit Filmausschnitten und zeichnet so ein Familienbild, das aus den 20-er Jahren bis ins Heute reicht. Trude, die Frau an G.Ws Seite, die Grossmutter, der Krieg, aber auch das Leben der Enkel, alles verbindet sich und findet Reflexe in Pabst Filmen.

 

#Diagonale 2024 Sichtbarkeit

 

 

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Sichtbarkeit

 

Im Vergleich zu vergangenen Jahren scheint die Diagonale im Strassenbild weniger sichtbar zu sein. Wo früher überall die roten Fahnen mit dem Diagonalelogo hingen, findet sich in diesem Jahr nichts. Allein in den Schaufenstern der Stadt finden sich Interpretationen und Varianten des neuen Logos, der Wettbewerb zum besten Schaufenster läuft auch in diesem Jahr.

Bei der Online-Buchung der Filme hat sich nichts geändert – leider. Denn weiterhin gibt es zur Buchung keine Saalpläne, auf denen man sich den Sitzplatz aussuchen kann, sondern nur eine Liste verfügbarer Plätze, man kann dann raten, wo der Platz im Kinosaal und zur Leinwand liegen wird. Auch gibt es weiterhin keine App, mit der man unterwegs die gebuchten Plätze bestätigen (oder stornieren) kann. Das ist unpraktisch, denn die Karten müssen bestätigt werden, und so muss man mit Mobilgeräten auf der Webseite navigieren. Unpraktisch.

 

Über Grenzen

 

Das erste Programm: Kurzdokumentarfilme, die alle thematisch um Grenzen, Grenzüberschreitung und Identität kreisen. Fast alle Filme suchen und finden Bilder, um die „Erzählung“ aus dem Off zu verdichten.
In Those Next to Us von Bernhard Hetzenauer erzählt ein Mexikaner, wie er versucht hat, mithilfe von Schleppern in die USA zu gelangen. Es ist eine tragische, eine unangenehme Geschichte, auch wenn die Stimme sie fast beiläufig erscheinen lässt. Menschen sterben bei diesem Versuch, die anderen werden eingesperrt und zurückgeschickt. Bebildert wird das mit ruhigen Totalen auf beiden Seiten der Grenze, Autos fahren vorbei, Lastwagen in langen Schlangen, eine weite Ödnis, deprimierende Orte, von denen man weder losfahren noch dort ankommen möchte. Gedreht wurde auf analogem 16 mm Material, das dem Film eine gewisse Körnigkeit verleiht, die das Triste sanft unterstreicht.

Auch Memories of the Foreign von Tolga Karaaslan lässt im Off eine Migrationsgeschichte aufstehen. Eine Geschichte, wie sie in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts üblich war: Nur kurz sollte die Zeit im Ausland dauern, und dann blieb man, es kamen Kinder, es kamen deren Kinder, die in der Fremde der Eltern und Grosseltern zu Hause sind. Auch hier sind die Bilder körnig, schwarzweiss und, da auf 8 mm Material gedreht, leicht verschwommen. Häuser und Orte, stellvertretend für andere Orte, andere Strassen, die erst Unterkunft und dann zu Hause waren.

Bond von Anna Witt arbeitet mit einer Gruppe Jugendlicher in Bremen, die meisten Enkel von Gastarbeitern der 70-er Jahre. Sie erforschen ihre Identität als Deutsche mit Wurzeln in anderen Ländern, die ihnen auch nah und wichtig sind. Spielerisch arbeiten sie mit Photos aus der Zeit ihrer Grosseltern, stellen sie nach, interagieren damit. Und bei allem Spass bleibt doch der ernste Wunsch, sich sichtbar zu positionierten in dieser Welt.

Im letzten Film des Programms wieder Off-Erzählungen. Mona Rizaj lässt in Mut Me Lule ihre Grosseltern in Österreich und im Kosovo zu Wort kommen. Im Zusammenschnitt der Erzählungen und der Bilder der jeweiligen Wohnorte zeigt sich, wie ähnlich sich die Familien sind, wie ähnlich auch ihre jeweiligen Vorbehalte gegen die binationale Ehe ihrer Eltern waren. In ihr und in ihrem Film wird das Trennende zum Verbindenden und das auf ganz leichte Art.

 

 

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Wie alles anfing

 

Unter dem Titel „Die erste Schicht“ widmet sich eine eigene Filmschiene der ersten Generation, die man in den 60er und 70-er Jahren Gastarbeiter nannte. Nicht der Aussenblick auf die Menschen, sondern ihr eigener filmischer Blick soll dabei im Zentrum stehen.

Der Kurzfilm von 1971 Jesenice–Stuttgart itd … von Miroslav Mikuljan mischt Bilder der in Jugoslawien in übervolle Züge steigende Menschen mit einer festlichen Ansprache eines deutschen Gewerkschaftsführers und schrägem Bierzeltliedgut. Daraus entsteht ein absurdes Kunstwerk, so komisch wie entlarvend und bitter.

Otobüs / Der Bus (1975) von Bay Okan treibt das Absurde weiter ins Surreale. Eine Gruppe türkischer Männer wird von ihrem, ebenfalls türkischen, Schlepper auf einem Platz mitten in Stockholm ohne Papiere und ohne Geld in einem schrottreifen Bus „geparkt“. Während der Schlepper mit der Kohle nach Deutschland zu seinem – deutschen – Auftraggeber verschwindet, trauen sich die Männer in Stockholm höchstens Nachts aus dem Bus. Alle Figuren im Film sind überzeichnet, stereotyp, und die Situationen, die entstehen, werden immer grausamer. Eine surreale Parabel zum Thema Fremdsein, Gleichgültigkeit und Ausbeutung. An die heute etwas plump wirkende Inszenierung gewöhnt man sich nach einem Moment. Der Film ist ein echtes Juwel.

 

Hinter den Kulissen

 

Graz fühlt sich an wie Frühsommer, nicht wie Frühjahr, also ein schnelles Eis zwischen den Kinos; gar nicht so einfach, weil, auch wenn die Grazer Innenstadt eine der höchsten Eisdielendichten hat, sind überall lange Schlangen.
Trotz sommerlicher Lebensfreude, die Vorstellungen sind gut besucht.

Eine Art Gegenblick zu den Filmen heute Vormittag: Vista Mare von Julia Gutweniger und Florian Kofler. Sie zeigen das aufwendige und personalintensive Arbeiten hinter den Kulissen italienischer Adria-Orte. Vom Aufbau über die Hauptsaison bis zum Abbau im Herbst. Sowohl der Aufwand als auch das touristische Gewusel in der Hochsaison sind beeindruckend. Eine Maschine aus –vermutlich schlecht bezahlten – Saisonarbeitern, die sich um den Industriezweig Tourismus kümmern, gedreht in sehr schönen Bildern.

 

Beziehungen

 

Romantische Komödien können sehr nervig sein, meist laufen sie nach einem öden, bekanntem Muster ab, das man nach den ersten 10 Minuten mitbeten kann. Manchmal gibt es dann welche, die mit den gleichen Komponenten sorgfältiger umgehen, subtiler um die Kitschklippen fahren, und dann trotz aller Vorbehalte lustig und unterhaltsam sind. What a Feeling von Kat Rohrer schafft das – zumindest fast. Nicht weil sie zwei Frauen in amouröse Verwicklungen schickt, sondern vor allem, weil sie zwei wirklich toll spielende Darstellerinnen, Carolin Peters und Proschat Madani, hat. Allein wie Peters sturzbetrunken durchs nächtliche Wien stolpert, ist sehenswert. Besoffen, wie sie ist, weil ihr Mann ihr gerade eröffnet hat, sein Leben umkrempeln zu müssen, stolpert sie wörtlich in eine Lesbenkneipe. Dort lernt sie eine Frau kennen. Aber ist etwas passiert zwischen beiden oder macht sich Fa nur über Marie-Theres lustig? Mit einigem Hin- und Her, mit Geheimniskrämerei auf beiden Seiten, nimmt die Komödie die gefährlichste Klippe, die, wo eine dramatische Intervention das Ganze böse an den Kitsch verlieren kann. Ein bisschen weniger dick hätte es am Schluss ruhig sein dürfen, auch bei einer Komödie müssen vielleicht nicht alle Protagonisten am Ende glücklich, geläutert oder zufrieden sein. Dem Publikum gefiel es, der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt, und der Film wird sicher auch regulär im Kino gut laufen.
Ein Plus an queerer Sichtbarkeit, auch bei gängigen, populären Filmgenres, ist sicher schon mal eine gute Sache.

 

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#Diagonale 2024 Die Eröffnung

 

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Die Neuen

 

Die Grazer Diagonale hat eine neue Doppelintendanz: Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar. Und noch bevor man sich ein inhaltlich-künstlerische Bild von ihnen machen kann, stechen einige Neuerungen ins Auge. Das Logo ist schlichter, aufgeräumter geworden, der Anfangstermin von Dienstag auf Donnerstag verschoben, der Katalog in Buchform ist verschwunden. Der Termin hat technische Gründe, zeitgemäss ist ein dicker, schwerer Katalog wohl eher nicht mehr und über das neue Logo könnte man streiten.
Was bleibt, ist die Eröffnung in der Helmut-List Halle, mit einer fröhlich-launigen Moderatorin, der Verleihung des Grossen Diagonale Schauspiel-Preises, dieses Jahr an Lukas Miko, mit Laudatio und emotionaler Dankesrede, und natürlich mit der Eröffnungsrede der Intendanten.
Waren die Reden der letzten Jahre oft (kultur)politisch und von kleinen Witzeleien und der persönlichen Sicht auf Film als Kunst- und Ausdrucksform geprägt, fielen Kamalzadeh und Slanar eher durch einen etwas trockenen und auch eher unpersönlichen Stil auf. Zentraler Satz, der natürlich einem Filmfestival bestens als „Gebrauchsanleitung“ dienen kann, die Hervorhebung der Kunst des Zusehens und des Zuhörens.
Die kommenden fünf Tagen sollten dazu reichlich Gelegenheit bieten.

 

Kinder

 

Ruth Beckermanns Dokumentarfilm Favoriten hat nach knapp einer Minute bereits die Zuschauer für sich eingenommen. Das ist rekordverdächtig.
Drei Jahre lang hat Beckermann mit kleinem Team eine Grundschulklasse und deren Lehrerin begleitet. Eine Klasse im Wiener Bezirk Favoriten, den manche Politiker gerne für ihre hässlichen Polemiken ausbeuten und zum Problembezirk stilisieren. Und ja, in der Klasse sind 24 Kinder, von denen wohl keines Eltern hat, die gebürtige Österreicher sind. Aber da hört dann die Problematik auch schon auf. Was man sieht, ist ein Haufen quirliger Kinder, denen nichts weniger als die Grundlage für ein selbstbestimmtes, respektvolles Leben beigebracht wird. Die Kamera bleibt scheinbar mühelos an den Kindern, reagiert entspannt auf Situationen und bindet die Kinder und die Lehrerin in das Drehgeschehen ein. So bekommt die Klasse den Auftrag, mit ihren Handys selber zu drehen, „bitte nicht hochkant und nicht die Finger vor die Linse halten“ wird ihnen mitgegeben, und schon legen sie los, mit Freude und Witz.
Es gibt extrem lustige und dann auch wieder ernste Momente, und eine Lehrerin, die diesen „Flohzirkus“ mit Freundlichkeit und Können leitet. Beckermann, und mit ihr die Zuschauer, beobachten, ohne zu bewerten, die persönlichen Entwicklungen der Kinder, die Schwierigkeiten und deren mögliche Lösungen liegen klar auf der Hand. Am Ende des Films glaubt man, was die Lehrerin den Kleinen, die auf andere Schulen wechseln werden, mitgibt: Ihr seid alle toll und ihr werdet alle einen guten Weg finden. Man hat am Ende aber auch verstanden, was für eine Mammutaufgabe das ist.

Das Publikum in Graz war begeistert, nicht nur vom Film, denn als die Lehrerin auf die Bühne kam, gab es noch mehr Beifall, der sich zu stehenden Ovationen steigerte. Ein guter Dokumentarfilm braucht auch Protagonisten, die von der Leinwand direkt die Zuschauer erreichen können.

 

(c) ch.dériaz

 

 

#FilmTipp The Zone of Interest

 

 

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Wenn die Idee besser ist als der Film

 

Alle, so scheint es, finden The Zone of Interest von Jonathan Glazer grossartig.
Die Kritiken übertreffen einander in Superlativen, und die Academy of Motion Pictures wählte das Werk gerade zum besten nicht-englischsprachigem Film.
Alle? Nein, nicht alle!
Der Film ist eine Enttäuschung.

 

Die gute Idee

 

Die gute Idee, die vielleicht geplant war, zu zeigen, dass das Böse auch in Gestalt des Alltäglichen daher kommen kann, also eine Art Visualisierung von Hannah Arendts Aussage der „Banalität des Bösen“, ist so nicht machbar.
Der Nazi also als lieber Papa, der Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß, der völlig entspannt direkt neben dem Vernichtungslager mit seiner Familie ein beschaulich-spiessiges Leben führt. Unbehelligt, unbeeindruckt vom Grauen jenseits der Gartenmauer, für das Höß persönlich verantwortlich ist.
So weit, so interessant. Zumindest in der Theorie.
Das Problem kommt dann zweiteilig.

Banales

Einerseits ist Banales an sich eher langweilig. Da lebt diese merkwürdige Familie vor sich hin. Vater, Mutter, fünf Kinder, ein aufdringlicher Hund, ein Garten voller Blumen und Gemüse. Papa lässt sich von einer nicht näher definierten Frau – gelegentlich – sexuell beglücken, Mama lässt ihre schlechte Laune am, nicht näher definierten, Personal aus. Der grosse Bruder ärgert den kleinen Bruder, wenn er nicht gerade nachts herausgebrochenen Goldzähne anschaut. Dass beide Erwachsenen genau wissen, was sie tun, oder was hinter der Gartenmauer vor sich geht, ist völlig klar. Aber der Kontrast des Bösen zu ihrer ländlichen Familienidylle ist tatsächlich uninteressant. Oder nicht überraschend. Auf jeden Fall nicht ausreichend für eine Geschichte. Da hilft auch die viel gerühmte, suggestive, aber sehr abstrakte Tongestaltung nicht.

Dramaturgisches Geschwurbel

 

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Dazu kommt der Aspekt der Dramaturgie, oder der Regieeinfälle, die verwirren, ohne einen Mehrwert zu bieten. Zweimal sieht man Bilder, als Negativ bearbeitet, die eine junge Frau beim Verteilen von Obst und Gemüse am Rand des Lagers zeigen. Beide Male ist diese visuell etwas befremdliche Aktion parallel geschnitten mit der schlafwandelnden Tochter, die vom Vater liebevoll eingesammelt wird. Die Frage, wer diese Person ist, ist dabei viel weniger drängend, als die Fragen: warum wird das an der Stelle gezeigt, warum mit diesem Stilelement, und was hat das mit der kleinen Tochter zu tun?
Am Ende des Films darf Höß episch lang ein leeres Treppenhaus heruntergehen, dass und warum er dabei plötzlich kotzt, völlig unverständlich. Hat er sich doch gerade erfreut gezeigt, dass er den Auftrag bekommen hat, eine grosse Anzahl ungarischer Juden schnellstens und effektiv zu ermorden. Warum diese Sequenz aber unterbrochen wird von Bildern der Gedenkstätte Auschwitz heute, nur um dann am Ende doch wieder zum kotzenden Nazi zu wechseln, bleibt ein ärgerliches Mysterium.

Unsympathisch

Was bleibt ist eine biedere, langweilige Familie, mit höchst unschönen Ansichten und der Macht, diese in Taten zu übersetzen. Wenn man sich auch nur ein wenig mit dem Nationalsozialismus (oder auch anderen totalitären Regimen) beschäftigt, ist es keine wahnsinnige Überraschung, dass die Mörder tier- und kinderlieb sind, ihre Partner lieben – und betrügen –, wie halt jeder andere Mensch auch.
Aber sympathisch, im Sinne von “Mein netter Nachbar, der Massenmörder“, sind die Höß’ zu keinem Zeitpunkt im Film.
Und wenn man bis zum Ende des Abspanns bleibt, liest man mit Verwunderung, dass dies eine fiktionale Geschichte ist, die Namen frei erfunden und jegliche Ähnlichkeit mit echten Personen rein zufällig ist !?
Nein, eigentlich nicht.
Eine wirkliche Filmempfehlung ist das nicht.

 

#FilmTipp Stillstand

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Da war doch was

 

Es ist noch gar nicht lange her, da stand die Welt, wie wir sie kennen, still.
Die Pandemie bestimmte den Tagesablauf, führte zu Situationen, zu Überlegungen, die bis dahin nicht für möglich gehalten worden waren.
Nikolaus Geyrhalters neuer Film Stillstand lässt diese fast zwei Jahre auf der Leinwand Revue passieren.
Und er macht das mit gewohnter Präzision, Geduld und grosser Schönheit.

 

Erinnern

 

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Jeder war dabei, jeder war betroffen, und doch erinnert man sich nur partiell an die Ereignisse. Manches ist immer noch sehr präsent, wie die leergefegte Wiener Innenstadt, die umherflitzenden Polizeiautos oder, etwas später, die vielen Menschen, die ihre Schnelltests zu Sammelbehältern bringen.

 

 

 

Geyrhalter lässt über diese knapp zwei Jahre Wienerinnen und Wiener zu Wort kommen. Die Auswahl der Protagonisten ergibt einen guten Überblick, jeder ist betroffen, aber nicht jeder auf die gleiche Art. Allen gemeinsam ist die Hoffnung, dass diese Extremsituation uns alle nicht nur zum Innehalten, sondern auch zum Überdenken und Umdenken führen wird.

 

Langsamkeit

 

Statt auf Bildermasse setzt Gayrhalter auf Langsamkeit, man kann jedes seiner tollen Bilder in Ruhe ansehen, ohne zu befürchten, dass einem gleich ein Detail entgehen wird. Er verzichtet auf Kommentar und auf Musik, lässt dafür durch Ruhe und Originalgeräusche die Erinnerung wieder aufstehen. Die Interviews sind persönlich, selbst die mit dem Wiener Gesundheitsstadtrat, keine Parolen oder Politphrasen. Und alle durchlaufen die gleichen emotionalen Phasen von Fassungslosigkeit über Hoffnung auf Erneuerung bis zu mittlerer Resignation.
Die Haltung des Films ist dennoch klar, wenn auch eher subtil. Zum Beispiel in der Positionierung von Situationen innerhalb des Films, man kann das als Zuschauer sehen, oder übersehen; Haltung nicht Belehrung.

 

Solidarität

 

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Wie viel von der Solidarität, die am Anfang der Pandemie herrschte, übrigbleiben kann, liegt an uns allen. Wir waren alle dabei, alle betroffen, und doch verschwimmt die Erinnerung langsam. Stillstand funktioniert wie ein Archiv des Erinnerns, und das macht der Film sehr gut und sehr schön.
Wer sich also erinnern möchte, kann den Film weiterhin im Stadtkino sehen.

 

 

 

#FilmTipp Poor Things

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Märchenhaft

 

 

Es ist ja immer etwas riskant, einen Film, den alle schon in den Himmel und zurück gelobt haben, endlich anschauen zu gehen. Aber die Neugierde siegt.
Zum Glück.
Poor Things von Yorgos Lanthimos nicht gesehen zu haben, wäre ein echter Verlust.

 

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Mehr als zwei Stunden taucht man in eine märchenhafte Welt voller seltsamer Mischwesen ein. Aber vor allem folgt man der anfangs kindlich trotzigen Bella in ihrer Entwicklung zur selbstbewussten, selbstbestimmten Frau. Natürlich drängen sich Anlehnungen an Dr. Frankenstein auf, aber dann auch wieder nicht. Denn nicht die eigene Hybris treibt Dr. Godwin, genannt God, Baxter an, sondern der naive, fast kindliche Glaube, etwas zu verbessern. Er, der selbst ein Opfer ist, bleibt gefangen in der Idee, dass, was man ihm angetan hat, aus Liebe geschah. Und so experimentiert er, aber er gibt eben auch bedingungslose Liebe weiter.
Und Bella, sein Geschöpf, darf ihre Neugierde ausleben, wissenschaftlich, klinisch exakt und, am wichtigsten, frei von einengenden Konventionen.

 

Perspektiven

 

Anfangs schwelgt die Geschichte in Schwarzweissbildern, mit einer Art Fischaugenoptik, bei der man den Eindruck hat, unter einem altmodischen Vergrösserungsglas zu stecken und beobachtet zu werden. Bellas Schritte in eine Emanzipation sieht man in extrem bunten Farben, eine phantastische Welt, in der je nach Grad ihrer Freiheit auch das Beobachtunsglas immer mehr wegfällt.
Sie gewinnt an Erfahrung, an Wissen, an Ausdrucksmöglichkeit.

 

Erfahrungen

 

Dass ihre direkte Art in einer viktorianischen Welt schwer missverstanden wird, ist klar. Dass sie das überhaupt nicht in ihrer Suche behindert, ist eine grosse Freude. Und das Ergebnis ist, anders als in vielen Genre-Filmen, nicht ein Wesen, das von Machtgier und Bosheit getrieben wird, sondern das ganz selbstverständlich Empathie entdeckt und diese lebt.

Im Kinosaal kam es immer wieder zu spontanem lauten Gelächter, weil auch der Humor definitiv nicht zu kurz kommt, aber auch kurze Momente des Schreckens waren deutlich an der Reaktion im Saal hörbar.
Ein sehr gelungener, lustiger, spannender, intelligenter Film, mit tollen Darstellern.

59.Solothurner Filmtage Preise

 

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Politische Filme gewinnen

 

Tabus wurden eher nicht gebrochen, und Heiliges auch nicht wirklich über Bord geworfen, aber ganz deutlich ist, dass thematisch Kontroversielles so gut ankam, und dass damit auch Preise zu gewinnen sind.

Das Schweizer Festivalpublikum, sowohl in Locarno als auch jetzt in Solothurn, hat ein feines Gespür für Themen, für Filme abseits des Leichten und Gefälligen. Und so ist auch der Prix du Public 2024 nicht wirklich überraschend. Die Zuschauer wählten Echte Schweizer von Luka Popadić.
Das war auch einer der Filme, die schon am frühen Morgen des Vortags ausverkauft waren, den ich deshalb ohne Publikum in der verhältnismässigen Ruhe des Medienraums gesehen habe, wie also die Reaktionen im Kino waren, kann ich nicht sagen. Möglicherweise ist diese Wahl auch ein Zeichen, dass Schweizer Soldaten, Schweizer Bürger in Zukunft als selbstverständlicher gesehen werden, egal welche Hautfarbe, welche Religion, welche Muttersprache.

In die gleiche Richtung geht auch der Prix de Soleure an Lisa Gerig
für Die Anhörung.
Der scharfe Blick der Regisseurin auf die Abläufe der Asylbefragungen, die konstruierte Umkehr der Befragungen durch die Asylbewerber, all das kann vielleicht zu einem besseren Verständnis für die Betroffenen führen.

 

 

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Es haben sich zwei durchaus politische Filme Preise durchgesetzt, durchdachte und gut gemachte Filme, die aber nicht versuchen zu indoktrinieren, sondern sich auf die Kraft ihrer Protagonisten und ihrer Bilder verlassen.

Luka Popadić setzt zusätzlich auf Humor und bringt sich selbst als Betroffener und Filmemacher in den Film ein, während Lisa Gerig die Realität nachstellt, inszeniert, um so einen sonst hinter Türen versteckten Prozess sichtbar zu machen.

Insofern ist auch der Visioni Preis für Autour du feu von Laura Cazador und Amanda Cortés in der Reihe politischer Dokumentarfilme einzureihen, selbst wenn er wesentlich schwächer ist, als die beiden andern Preisträger-Filme.

 

Handwerk

 

Insgesamt waren die 25 angeschauten Filme handwerklich alle gut und solide gemacht, aber wesentlich weniger originell oder überraschend als in manchem anderen Jahr.
Nächstes Jahr Mitte Januar werden wieder neue Filme zur Auswahl stehen, vielleicht dann mit mehr Mut zum Aussergewöhnlichen, besonders in der Gestaltung.

 

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