Festivalalltag
Nachdem im letzten Jahr alles kontrolliert wurde, also Ticket, Impfpass, Ausweis und dann noch Taschenkontrolle, ist es dieses Jahr erstaunlich entspannt. Ticket in der App (oder auf Papier) zeigen, Tasche öffnen, erklären, dass die Trinkflasche nicht aus Glas ist. Manchmal wird das mit einem leichten Schlag der Taschenlampe gegen die Flasche gegengecheckt, fertig. Ab ins Kino, abkühlen.
Was geblieben ist aus den restriktiveren Ausgaben, ist die Reservierung von Tickets, allerdings ohne festen Sitzplatz, und die zeitlich etwas weiter auseinanderliegenden Vorstellungen. Man braucht nicht ganz so sehr zu rennen, in der Theorie ist damit auch mal ein Kaffee drin, oder etwas zu essen, wobei, das ist dann fast schon wieder herausfordernd.
Langsam werden auch alle Kinositze unbequem, egal, ob weiche, breite Kinosessel oder Varianten von Plastikstühlen, die persönliche Sitzfläche leidet.
Kinderseelen
Wenn schon Erwachsenwerden schwer ist, um wieviel schwerer muss das sein, wenn man eine labile Persönlichkeit ist. Das lotet Franciska Eliassen in Den siste våren aus. Zwei Schwestern im nördlichen Norwegen, in einer Gegend, die ausser Natur nicht viel zu bieten hat. Das ältere der beiden Mädchen verliert sich im Lauf der Geschichte immer mehr in Ängsten und Wahn, während die jüngere, bodenständiger, versucht zu begreifen, was passiert. So fängt sie an, das Tagebuch ihrer Schwester zu lesen, in dem Kollagen und wüste Gedanken von einer immer schwärzeren Gefühlswelt zeugen. Wie kann man sich an einer immer kränkeren (Um)Welt reiben, seine Grenzen finden, wenn sich die umgebende Welt in Auflösung und freiem Fall befindet? Der Film arbeitet viel mit der Landschaft und mit immer mehr symbolisch aufgeladenen Bildern, der Seelenzustand der grossen Schwester übernimmt die visuelle Umsetzung auf der Leinwand. Auch hier darf am Ende ein Lämmchen symbolhaft über den Küchentisch staksen, da der Film aber insgesamt mit Metaphern und Symbolen arbeitet, stört auch das Lamm nicht.
Ist Sex politisch
Ein weiterer anstrengender, aber auch nachdenklich stimmender Film:
Regra 34 von Julia Murat. Simone, eine junge, schwarze Brasilianerin, Jurastudentin und künftige Pflichtverteidigerin, verdient sich ihr Studium mit Online Sexchats. Ein lukratives Geschäftsmodell, bei dem sie auch Spass hat. An der Uni führen sie Diskussionen zu Unterdrückung, Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, staatliche Gewalt, und Möglichkeiten, all das zu verbessern, ohne dabei wieder staatliche Gewalt auszuüben. Hochtheoretische Diskussionen, die auch im Privatleben weitergehen. Wie weit sind Simones, immer mehr Richtung S/M-Sex gehenden, sexuellen Aktivitäten eine Selbstermächtigung, und damit auch politisch? Oder sind sie doch ein Zeichen ihrer Unterdrückung in einem patriarchalischen System? Der Film dekliniert die Frage bis zum gefährlichen Ende durch, ohne plakative Antworten oder moralischen Zeigefinger.
Müll
Wir alle produzieren zu viel Müll, so weit, so wenig überraschend. Nikolaus Geyrhalter macht daraus in Matter Out of Place einen Kinofilm. Und er macht das so, wie er alle Themen behandelt, mit wunderbaren Bildern, in meistens sehr weiten Totalen, die in Ruhe angeschaut werden können. So also auch diesmal. Von Albanien über Nepal, von den Malediven bis Österreich, vom Mittelmeer bis in ein schweizer Skiressort, überall grosse Mengen von Müll, grosse Maschinen, grosse LKW. Überhaupt ist alles gross, ausser den Menschen, die den Müll produziert haben, und ameisengleich letzte Hand in der Entsorgung anlegen. Gesprochen wird so gut wie nie in diesem Film, am Anfang reden Leute einmal miteinander, und am Ende noch einmal, das war es. Den Rest darf man als Zuschauer anschauen, staunend, sich schwörend, nie wieder Müll zu produzieren. Einige Zuschauer haben diese mächtigen, vollen Bilder nicht ausgehalten und verliessen das Kino, das ist schade.
Der Film könnte auch ein guter Kandidat für den neuen grünen Leoparden sein.
Noch mehr Abgründe
Jeden Abend eine Ehrung, das ist der Glamourfaktor, der mal besser, mal schlechter funktioniert. Heute Abend war es Laurie Anderson, die für ihr künstlerisches Schaffen einen Leoparden bekam. Und sie wurde laut und herzlich vom Publikum gefeiert.
Danach dann der erste Langfilm der schweizer Regisseurin Caterina Mona:
Semret. In der Säuglingsabteilung eines Züricher Krankenhauses arbeitet die Eritreerin Semret, neben ihrer Arbeit gibt es für sie nur ihre Tochter, die sie versucht,vor allen möglichen Gefahren zu schützen. Aber die 14-Jährige rebelliert, will wie ihre Schulfreundinnen auch mal weggehen dürfen, will mehr wissen über das Leben in Eritrea, doch Semret verweigert alles. In kleinen Häppchen muss sie sich ihre Vergangenheit doch stellen. Der Film deutet dabei gerade so viel an, dass man versteht, ohne einen langen, dramatischen Seelenstriptease zu bieten, und auch wenn einiges sich zum Guten wendet, lässt er auch zu, dass eben nicht alles am Ende einer Geschichte schön und rosig ist.
Gelb-Schwarz
Nicht alles, was in gelb-schwarz daher kommt, ist ein Filmfestivalfan. Dieses Jahr sind besonders viele Wespen unterwegs. Kein Tisch in einer Bar ohne umherschwirrende Wespen, und selbst auf der Piazza, wenn die sich Abends die ersten Zuschauer ihre Plätze sichern, fliegen die gelb-schwarzen Plagegeister herum.
Brüder
Wie umgehen mit dem Suizid des eigenen Bruders? Juraj Lerotić macht darüber den Film: Sigurno mjesto (Safe place).
Der Film besticht in erster Linie durch seine sehr geometrischen Bilder. In fast jeder Einstellung gibt es mittig etwas, das als Tür, Fenster, Ausgang, Fluchtpunkt gesehen werden kann. Mal sind es tatsächlich Türen oder Fenster, manchmal aber auch grosse Bilder, oder Linien in der Architektur der Szenerie, die eine Öffnung bilden. Die Figuren sind oft am Rand des Bildes, hier, aber doch nicht ganz da. Spiegelungen sind ein weiteres Element, das den Fokus verschiebt, und das Ende vorwegnimmt, oder vorbereitet. Die Geschichte folgt den Brüdern vom ersten Suizidversuch, der Flucht aus dem Krankenhaus, zeigt die Versuche, die Situation, das Problem zu begreifen. Der Regisseur nutzt verschieden Mittel, um die Schichten der Problematik künstlerisch zu bearbeiten. So wechselt er relativ am Anfang des Films innerhalb einer Szene die Zeit – und Realitätsebenen, zusammen mit der visuellen Umsetzung entsteht daraus während der Filmgegenwart ein Hinweis auf die Filmzukunft. Die streng komponierte Form kreiert eine Ebene, die das Unbegreifliche vielleicht begreiflicher macht.
Liebe
Ein Kurzfilmprogramm der Liebe in all ihren Formen gewidmet. In Euridice, Euridice von Lora Mure-Ravaud ist das am deutlichsten und am schönsten. Die grosse, leidenschaftliche Liebe zweier junger Frauen wird durch den plötzlichen Tod der einen jäh zerrissen. Zurück bleibt eine tiefe Wunde, auch wenn das Leben weiter geht. Immer wieder scheint die Geliebte aufzutauchen, den Neuanfang macht das zeitweilig fast unmöglich. Eine Geschichte in schönen Bildern, gut gespielt und ans Herz gehend.
Tako se je končalo poletje (That’s How the Summer Ended) von Matjaž Ivanišin ist da eher spröde. Ein Mann und eine junge Frau am Wasser sitzend, wortlos. Spannung scheint in der Luft zu liegen, bis ein anderer Mann kommt, und die Frau ihm folgt. Am Himmel schlagen Flugzeuge Kapriolen. Im ersten Moment wirkt der Film gar nicht, aber er wirkt nach, und das ist dann auch schön. In HEARTBEAT von Michèle Flury geht es um 4 Freundinnen. Sie campen zusammen, irgendwo im Wald, aber zwischen zwei von ihnen schient etwas zerbrochen zu sein. Eine echte Aussprache findet nicht statt, so vergeht eine Mädchenfreundschaft.
AirHostess-737 von Thanasis Neofotistos ist eine wilde, etwas absurde Geschichte. Eine ältere Stewardess, ganz frisch mit Zahnspange geschlagen, scheint irgendwie nicht gut drauf zu sein. Plagen sie Schmerzen wegen der Zahnspange? Als das Flugzeug in Turbulenzen kommt, erzählt sie fast schreiend ihre Lebensgeschichte, und dass die sterblichen Überreste ihrer Mutter im Flugzeug mitfliegen. Am Ende ein etwas verhuschtes Zahnspangenlächeln. Naja.
Neokolonialismus
In der Kategorie extrem seltsamer Filme nimmt Nossa Senhora da Loja do Chinês von Ery Claver einen der vorderen Plätze ein. Nach eigener Aussage, am Ende der Vorführung, wollte der angolanische Regisseur „a fucked up fairytale“ machen. Nun, das sollte soweit gelungen sein. Der Film hat so viele Schichten, die auch nicht immer in der „richtigen“ zeitlichen Abfolge erzählt werden, dass man schwindlig werden kann. Eine chinesische Off-Stimme erzählt, im Stil eines Märchens, doch was erzählt wird ergibt zunächst keinen Sinn. Ein kranker Mann, leidend, seine Frau, die endlos Wasser, das von der Decke stürzt, in Eimern rausträgt, ein junger Mann auf der Suche nach seinem Hund und ein chinesischer Ladenbesitzer, der Madonnen-Figuren verkauft, sind die Hauptfiguren der Geschichte. Die christlichen Figuren, als Symbol des ersten Kolonialismus, das chinesische Viertel mit all seinen modernen Symbolen und seiner bedeutenden wirtschaftlichen Macht, der neue Kolonialismus, dazwischen Aberglaube und eine Politfarce. Schon spannend alles, sehr schön gedreht, sehr komplex und sehr fremd.
Politischer Abend
Ein grosser Regisseur bekommt am Abend den Ehrenleoparden für sein künstlerisches Schaffen: Costa-Gavras. Gefragt nach seinem Tipp für heutige junge Regisseure und Regisseurinnen, empfiehlt er, mit einem Krimi anzufangen, und zu schauen, dass man dafür gute Darsteller findet.
Alles andere als ein Krimi ist der Film des Abends, spannend ist er trotzdem.
Annie Colère von Blandine Lenoir, spielt in Frankreich 1974, dem Jahr, bevor das Abtreibung legalisiert wurde. Als die Fabrikarbeiterin Annie, Mutter zweier Kinder, wieder schwanger wird, findet sie Hilfe und Unterstützung in einer der vielen Hilfsgruppen, die sich damals formierten. Die Gruppen verstehen sich als sowohl politisch wie auch praktisch. Freiwillige Helferinnen, Ärzte und Ärztinnen, zum Teil noch studierend, bieten Rat, Hilfe und führen Abtreibungen durch, illegal, aber nicht heimlich. Annie engagiert sich immer mehr in der Gruppe, und verändert damit auch ihr eigenes Leben. Ein schöner Film, mit einem tollen Darstellerinnenensemble, der ein wieder wichtiges Thema mit Gefühl aber ohne Pathos behandelt.
Das Festival geht in die Schlussgerade, und immer noch würde ich bei keinem Film auf einen Preis wetten.