Auswandern
Der letzte komplette Festivaltag.
Das Thermometer zeigt schon vor 10 Uhr 30° an, Regen ist erst für Samstag angekündigt.
Auf dem Programm heute, zwei Kurzfilmvorführungen, aber zuerst einer der vielen Schweizer Filme im diesjährigen Wettbewerb: Hanami von Denise Fernandes.
Hanami, das japanische Kirschblütenfest als Titel für einen Schweizer Film, dessen Geschichte auf den Kapverden spielt. Klingt ungewöhnlich, passt aber insofern, als Vergänglichkeit und Schönheit, die beim Kirschblütenfest gefeiert werden, auch in diesem Film essenziell sind.
Die Kapverden als Ort der Auswanderung, wo eine mittlere Generation fast komplett fehlt, weil sie in alle Richtungen ausgewandert ist. Es bleiben die Grosseltern und die kleinen Kinder, es bleiben die Märchen, die Sagen und die Überlieferungen, und eine windzerzauste, traumhafte Landschaft. Nana wird, gerade erst geboren, von ihrer Mutter in die Obhut der Grossmütter gegeben, sie wächst auf mit einem Gefühl von Fehlen, aber auch fest verwurzelt auf der Insel. 13 Jahre später kommen zu einem Familienfest erstmals alle Ausgewanderten, auch Nanas Mutter, zurück.
Die Kluft zwischen Ausgewanderten und Dagebliebenen ist riesig. Die Cousins und Cousinen sprechen plötzlich eher Französisch oder Englisch statt Kreolisch, und doch birgt dieser vergängliche Moment viel Schönheit und Liebe. Eine stimmungsvoll erzählte Geschichte in traumhafter Landschaft.
Vielseitig
Einer der wenigen, wenn nicht der einzige Film, der in 35 mm läuft, der Experimentalfilm Revolving Rounds von Johann Lurf und Christina Jauernik. Langsame Annäherungen an leere Gewächshäuser, in denen auf einer Art Bildschrirmen Pflanzen zu sehen sind. Die Kamera taucht ein in die Blätter, ein animierter Taumel, hypnotisch. Bis die Kamera mit dem Zuschauer wieder verschwindet.
Better Not Kill the Groove von Jonathan Leggett ist eine wilde Collage von Internet-Clips, teils verfremdet, teils einander überlagernd. Und immer die Frage, die Suche nach einem männlichen (Selbst)Bild, das das Internet aber nicht bieten kann.
Linnud läinud (On Weary Wings Go By) von Anu-Laura Tuttelberg ist ein träumerischer Stop-Motion-Film mit Porzelanpuppen in einer herbstlich-winterlichen Real-Bild-Landschaft. Ein Abschied mit Puppe und Tieren.
Mit 54 Minuten der längste Kurzfilm: What Mary Didn’t Know von Konstantina Kotzamani. Eine Familienreise auf einem Luxuskreuzfahrtschiff, wo alle über 80 zu sein scheinen. Mary, die Teenager-Tochter der schwedischen Familie, langweilt sich, bis sie in der Schiffsküche den jungen Koch Abdel sieht. Im romantischen Ambiente der Kreuzfahrt entspinnt sich eine leise Liebesgeschichte. Kitschig überkolorierte Bilder spiegeln den kitschigen Zustand einer ersten Verliebtheit wider, malerisch versinkender Vollmond inklusive. Sehr schön und toll gespielt.
Vielfältig
Die beste Methode abzukühlen ist, den weitesten Weg zwischen zwei Kinos in Locarno während der Tageshöchsttemperaturen zu Fuss zu gehen, und sich dann, verschwitzt, im kühlen Kino abkühlen lassen. Low-Tech-Sauna.
Ein letztes Mal Kurzfilme aus dem Programm der Pardi di Domani.
Der Film von Denis Côté ist angeblich für den Pardo Verde, also für Filme, deren Inhalt oder Anliegen der Umwelt nützen oder diese zum Thema haben, nominiert. Wie das Jours avant la mort de Nicky aber erfüllt, ist nicht zu sehen.
Eine Kamera hinten im Auto nimmt Nicky auf, wie sie fährt, mal vorwärts auf langen Strassen, mal rückwärts, irgendwo weg, manchmal steht sie vor dem Auto, pinkelt, trifft Leute, nimmt ein Gewehr mit. Die Kameraposition ändert sich nie, was sich allerdings ändert, ist die Qualität der Bilder. Manchmal ganz schlecht, verpixelt, unscharf, manchmal scharf und manchmal schwarzweiss, mit Schrammen. Aber warum? Die Szenen haben eine tiefe Traurigkeit, aber mehr nicht.
Progress Mining von Gabriel Böhmer ist ein dystopischer Stop-Motion-Film. Eine Mine mit Figuren aus Filz, Pappe und Holz, in der nach Fortschritt gegraben wird. Aber vieles scheint kaputt zu sein, die Mine sollte geschlossen werden, aber dann gibt es weder Fortschritt noch Geld für die Arbeiter. Ein Dilemma. Toll gemacht.
Für Sky Rogers: manager de stars scheint Ciel Sourdeau alle filmischen Mittel, die leicht und kostengünstig aufzutreiben waren, ausprobiert zu haben. Heraus kommt eine etwas wirre, aber sehr bunte und auch irgendwie lustige Geschichte von einem – ausserirdischen – Musik-Manager, der nichts auf die Beine bringt. Grell.
Nochmal ein längerer Kurzfilm: Que te vaya bonito, Rico von Joel Alfonso Vargas. Rico ist auf dem besten Weg, in die Kleinkriminalität abzurutschen. Er verkauft am Strand in New York selbst gemixten Schnaps, illegal. Zu Hause schreit er mit seiner jüngeren Schwester, belügt seine Mutter und schleppt dann seine schwangere Freundin an. Aber ein glückliches Leben kann das so nicht werden. Als er von der Polizei einmal zu viel geschnappt wird, fallen Entscheidungen, die vielleicht Veränderung bringen werden. Rau, hektisch und gut gemacht.
Applaus
Den ganz grossen Enthusiasmus hat es auf der Piazza noch nicht gegeben.
Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof bekam stehende Applaus, aber vor seinem Film, für seine politische Haltung. Der Film wurde gut aufgenommen, vor allem wohl, weil die gute Sache einen, wenn auch nur kleinen, Sieg davon trägt. Sauvage bekam fröhlich johlenden Applaus, hauptsächlich aus der Ecke der Jugendlichen, die an den Kunstvermittlungs-Workshops teilnehmen, und an dem Abend eingeladen waren. Und Sew Torn bekam so weit sicher den grössten Applaus, aber von viel weniger Zuschauer, der Film lief nach Mitternacht.
Ob das dann reicht, um den Publikumspreis zu bekommen?
Vielleicht ist das Publikum in diesem Jahr auch eher zurückhaltend in seinen Gefühlsäusserungen. Das würde zur Auswahl der Filme auf der Piazza Grande passen, die zwar gut waren, aber ohne ganz grosse Highlights.
Mit sehr viel Beifall wurde am heutigen Abend Jane Campion empfangen, der Ehrenleopard für die grosse neuseeländische Regisseurin ist mehr als verdient.
Kindersicht
Rita von Paz Vega ist ein weiterer Film, der häusliche Gewalt thematisiert.
Spanien 1984, seit gerade mal 3 Jahren ist das Recht auf Ehescheidung in Kraft, aber sozial anerkannt sind Geschiedene noch lange nicht. Vor diesem Hintergrund und aus der Sicht der sieben-jährigen Rita erzählt der Film eine Katastrophe mit Ansage. Die Kamera nimmt, so oft es geht, die niedrige Kinderperspektive ein, und auch die wüsten Beschimpfungen und Attacken des Vaters werden fast ausschliesslich über die Tonebene vermittelt. Die Angst der beiden Kinder wird dadurch schauderhaft spürbar. Aber Rita ist eine Beschützerin, sie tröstet den jüngeren Bruder, kümmert sich ohne zu murren um Hausarbeiten, damit die Mutter einen Moment zum Erholen hat. Sie hört, sie sieht, sie versucht, was sie kann, um Leid zu lindern, aber sie ist eben erst sieben.
Ihre Frage, warum eigentlich immer der Vater bestimmt, was zu tun ist, lässt die Mutter unbeantwortet. Ganz hervorragend ist die kleine Sofía Allepuz in der Rolle der Rita. Ein sehr beeindruckender Erstlingsfilm.