#Locarno77 Erleben

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Auswandern

 

Der letzte komplette Festivaltag.
Das Thermometer zeigt schon vor 10 Uhr 30° an, Regen ist erst für Samstag angekündigt.
Auf dem Programm heute, zwei Kurzfilmvorführungen, aber zuerst einer der vielen Schweizer Filme im diesjährigen Wettbewerb: Hanami von Denise Fernandes.
Hanami, das japanische Kirschblütenfest als Titel für einen Schweizer Film, dessen Geschichte auf den Kapverden spielt. Klingt ungewöhnlich, passt aber insofern, als Vergänglichkeit und Schönheit, die beim Kirschblütenfest gefeiert werden, auch in diesem Film essenziell sind.
Die Kapverden als Ort der Auswanderung, wo eine mittlere Generation fast komplett fehlt, weil sie in alle Richtungen ausgewandert ist. Es bleiben die Grosseltern und die kleinen Kinder, es bleiben die Märchen, die Sagen und die Überlieferungen, und eine windzerzauste, traumhafte Landschaft. Nana wird, gerade erst geboren, von ihrer Mutter in die Obhut der Grossmütter gegeben, sie wächst auf mit einem Gefühl von Fehlen, aber auch fest verwurzelt auf der Insel. 13 Jahre später kommen zu einem Familienfest erstmals alle Ausgewanderten, auch Nanas Mutter, zurück.
Die Kluft zwischen Ausgewanderten und Dagebliebenen ist riesig. Die Cousins und Cousinen sprechen plötzlich eher Französisch oder Englisch statt Kreolisch,
und doch birgt dieser vergängliche Moment viel Schönheit und Liebe. Eine stimmungsvoll erzählte Geschichte in traumhafter Landschaft.

 

 

Vielseitig

Einer der wenigen, wenn nicht der einzige Film, der in 35 mm läuft, der Experimentalfilm Revolving Rounds von Johann Lurf und Christina Jauernik. Langsame Annäherungen an leere Gewächshäuser, in denen auf einer Art Bildschrirmen Pflanzen zu sehen sind. Die Kamera taucht ein in die Blätter, ein animierter Taumel, hypnotisch. Bis die Kamera mit dem Zuschauer wieder verschwindet.

Better Not Kill the Groove von Jonathan Leggett ist eine wilde Collage von Internet-Clips, teils verfremdet, teils einander überlagernd. Und immer die Frage, die Suche nach einem männlichen (Selbst)Bild, das das Internet aber nicht bieten kann.

Linnud läinud (On Weary Wings Go By) von Anu-Laura Tuttelberg ist ein träumerischer Stop-Motion-Film mit Porzelanpuppen in einer herbstlich-winterlichen Real-Bild-Landschaft. Ein Abschied mit Puppe und Tieren.

Mit 54 Minuten der längste Kurzfilm: What Mary Didn’t Know von Konstantina Kotzamani. Eine Familienreise auf einem Luxuskreuzfahrtschiff, wo alle über 80 zu sein scheinen. Mary, die Teenager-Tochter der schwedischen Familie, langweilt sich, bis sie in der Schiffsküche den jungen Koch Abdel sieht. Im romantischen Ambiente der Kreuzfahrt entspinnt sich eine leise Liebesgeschichte. Kitschig überkolorierte Bilder spiegeln den kitschigen Zustand einer ersten Verliebtheit wider, malerisch versinkender Vollmond inklusive. Sehr schön und toll gespielt.

 

 

Vielfältig

Die beste Methode abzukühlen ist, den weitesten Weg zwischen zwei Kinos in Locarno während der Tageshöchsttemperaturen zu Fuss zu gehen, und sich dann, verschwitzt, im kühlen Kino abkühlen lassen. Low-Tech-Sauna.
Ein letztes Mal Kurzfilme aus dem Programm der Pardi di Domani.

Der Film von Denis Côté ist angeblich für den Pardo Verde, also für Filme, deren Inhalt oder Anliegen der Umwelt nützen oder diese zum Thema haben, nominiert. Wie das Jours avant la mort de Nicky aber erfüllt, ist nicht zu sehen.
Eine Kamera hinten im Auto nimmt Nicky auf, wie sie fährt, mal vorwärts auf langen Strassen, mal rückwärts, irgendwo weg, manchmal steht sie vor dem Auto, pinkelt, trifft Leute, nimmt ein Gewehr mit. Die Kameraposition ändert sich nie, was sich allerdings ändert, ist die Qualität der Bilder. Manchmal ganz schlecht, verpixelt, unscharf, manchmal scharf und manchmal schwarzweiss, mit Schrammen. Aber warum? Die Szenen haben eine tiefe Traurigkeit, aber mehr nicht.

Progress Mining von Gabriel Böhmer ist ein dystopischer Stop-Motion-Film. Eine Mine mit Figuren aus Filz, Pappe und Holz, in der nach Fortschritt gegraben wird. Aber vieles scheint kaputt zu sein, die Mine sollte geschlossen werden, aber dann gibt es weder Fortschritt noch Geld für die Arbeiter. Ein Dilemma. Toll gemacht.

Für Sky Rogers: manager de stars scheint Ciel Sourdeau alle filmischen Mittel, die leicht und kostengünstig aufzutreiben waren, ausprobiert zu haben. Heraus kommt eine etwas wirre, aber sehr bunte und auch irgendwie lustige Geschichte von einem – ausserirdischen – Musik-Manager, der nichts auf die Beine bringt. Grell.

Nochmal ein längerer Kurzfilm: Que te vaya bonito, Rico von Joel Alfonso Vargas. Rico ist auf dem besten Weg, in die Kleinkriminalität abzurutschen. Er verkauft am Strand in New York selbst gemixten Schnaps, illegal. Zu Hause schreit er mit seiner jüngeren Schwester, belügt seine Mutter und schleppt dann seine schwangere Freundin an. Aber ein glückliches Leben kann das so nicht werden. Als er von der Polizei einmal zu viel geschnappt wird, fallen Entscheidungen, die vielleicht Veränderung bringen werden. Rau, hektisch und gut gemacht.

 

Applaus

Den ganz grossen Enthusiasmus hat es auf der Piazza noch nicht gegeben.
Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof bekam stehende Applaus, aber vor seinem Film, für seine politische Haltung. Der Film wurde gut aufgenommen, vor allem wohl, weil die gute Sache einen, wenn auch nur kleinen, Sieg davon trägt. Sauvage bekam fröhlich johlenden Applaus, hauptsächlich aus der Ecke der Jugendlichen, die an den Kunstvermittlungs-Workshops teilnehmen, und an dem Abend eingeladen waren. Und Sew Torn bekam so weit sicher den grössten Applaus, aber von viel weniger Zuschauer, der Film lief nach Mitternacht.
Ob das dann reicht, um den Publikumspreis zu bekommen?

Vielleicht ist das Publikum in diesem Jahr auch eher zurückhaltend in seinen Gefühlsäusserungen. Das würde zur Auswahl der Filme auf der Piazza Grande passen, die zwar gut waren, aber ohne ganz grosse Highlights.

Mit sehr viel Beifall wurde am heutigen Abend Jane Campion empfangen, der Ehrenleopard für die grosse neuseeländische Regisseurin ist mehr als verdient.

 

Jane Campion
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Kindersicht

Rita von Paz Vega ist ein weiterer Film, der häusliche Gewalt thematisiert.
Spanien 1984, seit gerade mal 3 Jahren ist das Recht auf Ehescheidung in Kraft, aber sozial anerkannt sind Geschiedene noch lange nicht. Vor diesem Hintergrund und aus der Sicht der sieben-jährigen Rita erzählt der Film eine Katastrophe mit Ansage. Die Kamera nimmt, so oft es geht, die niedrige Kinderperspektive ein, und auch die wüsten Beschimpfungen und Attacken des Vaters werden fast ausschliesslich über die Tonebene vermittelt. Die Angst der beiden Kinder wird dadurch schauderhaft spürbar. Aber Rita ist eine Beschützerin, sie tröstet den jüngeren Bruder, kümmert sich ohne zu murren um Hausarbeiten, damit die Mutter einen Moment zum Erholen hat. Sie hört, sie sieht, sie versucht, was sie kann, um Leid zu lindern, aber sie ist eben erst sieben.
Ihre Frage, warum eigentlich immer der Vater bestimmt, was zu tun ist, lässt die Mutter unbeantwortet. Ganz hervorragend ist die kleine Sofía Allepuz in der Rolle der Rita. Ein sehr beeindruckender Erstlingsfilm.

 

Nichts für hohe Absätze
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Locarno 2020 Es geht weiter

Neue Maske kein Abstand
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Die Zukunft der Vergangenheit des Kinos

 

 

17 Uhr Roundtable Diskussion, zum Thema: Wie umgehen mit dem filmischen Erbe, nur restaurieren und aufbewahren oder auch streamen?
Angekündigt sind: Frédéric Maire (Cinémathèque Suisse), Emilie Cauquy (Cinémathèque Française/HENRI), Penelope Bartlett (The Criterion Channel), Geremia Biagiotti (Intramovies)  ·  Moderated by Nick Vivarelli (Variety)

 

Streaming geht noch nicht
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Theoretisch sollten die Diskussionen direkt auf der Webseite des Festivals laufen. Praktisch gibt es um 17 Uhr nur den Hinweis, dass es derzeit kein Streaming gibt. Falsch, denn auf dem Locarno Festival Youtube Kanal läuft die Diskussion, allerdings mit soviel Bild-Ton Versatz, dass das wirklich keinen Spass macht.

Nach etwa 10 Minuten läuft dann auch auf der Festivalwebseite die Diskussion, ohne Versatz!
Alle Cinemathek Verantwortlichen oder Plattformbetreiber sind sich einig, historische/klassische Filme nur im Vertrauen auf cinephile Kinobesucher aufzubewahren, ist weder zeitgemäss, noch angebracht. Und alle haben in letzter Zeit gute Erfahrungen gemacht mit ihren diversen Modellen dieses filmische Erbe online an Zuschauer zu bringen. Einig sind sich aber auch alle, dass das langfristig nur mit dem einen oder anderen Bezahlmodell gehen wird. Es ist schon jetzt nicht in allen Ländern und in allen Cinematheken gewährleistet, dass Filme adäquat aufbewahrt und restauriert werden. Dieses Filmerbe ist aber überall kulturell enorm wichtig und darf nicht einfach irgendwo vergessen werden.

 

Roundtable FilmErbe
Roundtable FilmErbe
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Sommerkino

 

Zurzeit ist es in Wien auch nicht weniger heiss als in Locarno und so stellt sich die hier wie da die Frage: Eis essen oder Film schauen? Schwimmen oder schreiben?
Während also draussen die Strasse vor sich hin köchelt und die Wiener Tauben gurren – statt pfeifender Locarneser Mauersegler – drinnen die letzten Kurzfilme anschauen; Eis geht schliesslich immer.
Seit heute sind alle Kurzfilme der Pardi di Domani online abrufbar.

 

Nochmal einige FilmTipps

 

Mit 40 Minuten der längste und thematisch, wenn man so zum Mont Blanc schaut, der aktuellste Film ist Icemeltland Park von Liliana Colombo (GB/I).
Eine fiktive Vergnügungsparkattraktion: schmelzenden, bröckelnde Gletscher schauen und mit dem Handy filmen gehen. Auf der Tonspur, fröhliche Kommentare bei jedem Abbruch. Im Bild Gletscher, die Teile ihres Eis ins Meer werfen. Im Verlauf des Films kommen die Auswirkungen, wie Überflutungen, riesige Flutwellen etc dazu, in Bildteilung in direkten Bezug zum Gletscher gebracht. Eine Science-Fiction-Experimental Dokumentation, die Spass macht und trotzdem mehr als nachdenklich stimmt. Der Film nutzt die volle Kraft der Montage und Kollage!

Off Texte: für und wider

 

Auffallend viele Filme dieses Jahr arbeiten mit Off Texten, das geht manchmal gut, meistens aber entlarvt der Film damit seine Mangel an visueller und narrativer Kraft.

Sehr gut funktioniert das Konzept bei Burnt. Land of Fire (Grigio. Terra bruciata) von Ben Donateo (CH). Unter der sehr schönen und poetische Dokumentation über den Verfall eines Orts, liegt ein geflüsterter, fast gehauchter Text, der die schönen und quadratischen Bilder sanft unterstützt. Die Erklärung, das Verständnis geht aber immer von den Bildern aus, wäre auch ohne den Text klar verständlich. Wunderbar ins Bild gesetzt der malerische Verfall der Häuser, die flirrende Luft und der Dorfhund, der auch alt und verfallen zu sein scheint. Ein visueller Höhepunkt: die Gesichter der alten Dorfbewohner, die still in die Kamera schauen und dabei immer aussehen, als würden sie gleich zu reden anfangen, aber, dann, nein, doch nicht.


Der serbische Film How I Beat Glue and Bronze (Kako sam pobedio lepak i bronzu) von Vladimir Vulević, wählt auch Off Texte, während in der Handlung des Films eigentlich nicht gesprochen wird. Ein seltsamer Mann, lange Passagen, in denen er, in stets düsteren Bildern, seinem Alltag nachgeht, aufstehen, dem Nachbarn die Zeitung bringen, zum Friedhof und zur Arbeit gehen. Die Texte dazu sind etwas zeitverschobene Zeugnisse seines Daseins, seines Lebens, dessen was man von ihm weiss oder zu wissen glaubt. Das funktioniert einigermassen.

glue_and_bronze
glue_and_bronze
(c) Vladimir Vulević

 

In The End of Suffering (A Proposal) von Jacqueline Lentzou (Griechenland) funktioniert das ganz und gar nicht.
Eine verzweifelte junge Frau, in der U-Bahn, weinend, rennend, durch das analoge Filmmaterial entstehen sehr schöne und organische Bilder, man weiss zwar nicht was passiert, aber man erkennt die Verzweiflung und schaut gespannt zu. Aber dann mischt sich das Universum ein, in Form eines Off (Telefon) Dialogs, allerdings zieht es das Universum vor nur in Untertiteln zu reden. Ab da reihen sich zwar weiterhin interessante Filmbilder unter den Off Dialog, aber die illustrieren eher symbolhaft den Text, dadurch geht die Einheit des Films komplett verloren.
Jung und verzweifelt

 

Spotted Yellow (Zarde khaldar) von Baran Sarmad (Iran).
Auch hier eine verzweifelte junge Frau, diesmal ohne off Texte, eigentlich überhaupt ohne jeglichen Dialog.
Die Frau mit Hang zu gelben Accessoires und einem gelblichen Mal im Gesicht, driftet langsam in eine schräge, eigene Welt ab. Wunderbar versponnen, ganz reduziert aber toll gespielt, eine schöne Kamera und die Sprache, wenn überhaupt, nur als Atmo vorhanden.

spotted_yellow
spotted_yellow
(c) Baran Sarmad


Black Hole (Trou Noir) von Tristan Aymon (CH)
Ein Sommertag, eine Sommernacht, eine Bande von Jungs ausgelassen skatend, rauchend, feiernd. Eine hermetische Gruppe, doch für einen soll es schon am folgenden Tag in ein Internat gehen. Ein dunkles Loch, aus dem er ein Tier gehört haben will, lenkt ihn von seiner Grübelei ab und zeigt einen metaphorischen Neuanfang, der in den meisten Enden steckt. Die Bildersprache übersetzt sehr gut den jeweiligen Gemütszustand der Gruppe und des Einzelnen.
Einfach nur schön

 

A Boring Film (Ekti ekgheye film) von Mahde Hasan (Bangladesch)
Ein Kameraspiel in schwarz-weiss, eine Übung in Bildkomposition, Tiefe, Schärfe, Unschärfe, Vorder- und Hintergrund. Ein Mann, Räume innen und aussen, Geräusche, Lärm, jedes Bild einfach nur schön, das Auge folgt, braucht weder Geschichte noch Erklärung; alles andere als langweilig, und auf einer grossen Leinwand sicher noch spannender anzuschauen. Die Beschreibung des Films, nach der es um Selbstquarantäne und Schlaflosigkeit geht, erschliesst sich nicht zwingend, ist aber auch nicht notwendig.



The Unseen River (Giòng sông không nhìn thấy) von Pham Ngoc Lan (Vietnam/Laos)
Von Anfang an betört der Film mit Verwirrung: bewegt sich das Boot, oder der Motorroller, was ist Innen, was Aussen, Natur, oder menschgebaut? Im Verlauf scheint sich auch die Zeit der Einordnung zu entziehen. Aber alles bleibt in einem harmonischen Fluss, dem man gerne folgt, ohne ihn wirklich zu verstehen.
Surreale Animation

 

O Black Hole! von Renee Zhan (GB)
Grossartiges animiertes Musical, über Liebe, Vergänglichkeit, Loslassen und die Freiheit der Einzigartigkeit. Sensationelle Mischung diverser Animationsarten, Zeichnung und Stopmotion mit Plastilinfiguren. Super.

 

Push This Button If You Begin to Panic von Gabriel Böhmer (GB/CH)
Wegen eines Lochs im Kopf geht ein Mann zum Arzt, um ein MRT machen zu lassen. Dort geschieht allerlei Obskures und Verträumtes, und so ein  MRT ist auch komplexer als gedacht. Verschiedene Animationstechniken und randvoll mit skurrilen Idee.