EIn Runder Geburtstag in Solothurn
Ein Blick durch das Programm der gerade zu Ende gegangenen 60. Schweizer Filmtage.
Und die Frage: Was ist der Schweizer Film?
Das Ich und die Heimat
Die Definition von Heimat spielt in Filmen immer wieder eine prominente Rolle, als Aufhänger für Persönliches, als gesellschaftliche Frage, als Ausgangs- oder Endpunkt. Zwei sehr starke Filme nehmen sich im weiteren Sinn des Themas an. Zwei politische Filme, die dennoch sehr persönlich sind.
Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer von Samir erzählt in einem sehr weiten Bogen von Menschen, die zum Arbeiten kamen und zum Leben blieben. Die Geschichte der Gastarbeiter, die heute häufig eher Arbeitsmigranten oder manchmal gar als Asylsuchende betitelt werden.
Doch von Vorne:
Nach dem Krieg hat auch die Schweiz massenweise Arbeiter für den Billiglohnsektor ins Land geholt.Diese meist aus Italien und Spanien kommenden Arbeiter wurden schnell ausgegrenzt, mit Schimpfnamen bedacht, oder als Messerstecher diffamiert. Samir erzählt die Geschichte anhand von Photos, Filmausschnitten und Interviews mit Menschen, die damals als Kinder oder junge Erwachsenen kamen. Als roter Faden strukturieren animierte Sequenzen, die Samirs Geschichte als Sohn eines Irakers und einer Schweizerin, der in den frühen 60er Jahre in die Schweiz kam, den Film. Dieses Element erlaubt auch die Kommentarstimme des Regisseurs; er ist ein Erzähler, aber auch ein Protagonist.
Es ist ein zugegebenermassen langer Film, manchmal etwas zu ausufernd, wenn zusätzlich noch die Geschichte der Gewerkschaften mit hineinspielt. Andererseits gehört das eben auch alles zusammen. Und die Probleme von damals sind die gleichen, bloss die Ankommenden heute sind aus anderen Ländern.
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In Il ragazzo della Drina folgt Zijad Ibrahimovic seinem Protagonisten in die andere Richtung.1992 flieht Irvin mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus Bosnien nach Italien, 2015 kehrt er zurück nach Srebrenica. Zurück, um dem Kriegstrauma der Kindheit in die Augen zu schauen. Was ihm dort begegnet ist eine leere Gegend, kaputte Häuser, kaum Menschen, Erinnerungen, Geister, die nicht schweigen, und immer wieder Krieg und Massaker.
Ein filmisches Tagebuch, sensibel, persönlich, in ruhigen Bildern erzählt und sparsam im Einsatz von Musik. Die Kamera bleibt oft hinter dem Protagonisten, der auf einer überwucherten Lichtung alleine und in traditioneller Bauweise Holzhütten baut. Ein Versuch zurückzubauen, was verloren ging, die Heilung einer Wunde, einer inneren wie ein äusseren. Dabei kommentiert er, in Art eines Selbstgesprächs, in der emotionalen Sicherheit des Italienischen, der Sprache der Zuflucht und des Schutzes. Eine Beobachtung über vier Jahre, ein Reflektieren über Verlust, Heimat und Rückkehr. Sehr schön.
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Enge und Weite
In nur 48 Minuten zeigt Galaxi Urnäsch 3000 von Nina Fritz, Lola Scurlock, Felix Scherer und Lasse Linder die Analogie von Mikro- und Makrokosmos.
Das Kleine im Ganzen, das Individuum als Teil des Universums, als Abgrenzung, drinnen und auch draussen. Das Portrait eines Appenzeller-Dorfes, in relativ statischen 4:3 Bildern gedreht, zeigt Traditionen, Alltag und die feinen Risse, die entstehen, wenn die Zeit vergeht und sich Veränderungen subtil einschleichen.Parallel zum dörflichen Treiben: ein Astronom, der von den unglaublichen Weiten des Alls erzählt, aber eben auch von den Winzigkeiten, die sich dort ergeben. Und so stehen Kälbergeburt, traditioneller Gesang und Rap nebeneinander, während der Gemeinderat über das Abschalten der Kirchenglocken in der Nacht berät.
Tradition oder Moderne? Beides!
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Weiter weg geht Maja Tschumi für ihren Film Immortals .
Strukturiert und spannend wie ein Spielfilm erzählt Immortals von Milo, einer jungen Irakerin, die nach den Protesten von 2019 von ihrer Familie eingesperrt wird. Die sich als junger Mann verkleidet wegschleicht, weg will, weg muss, um zu überleben. Und doch wird sie immer wieder zurückgeworfen, zurückgehalten. Der zweite Protagonist, Khalili, hat mit seinen Kameras die Proteste 2019 festgehalten, egal, wie oft er dabei selber verletzt wurde, er ist zurück ins Geschehen. Der Film erzählt in drei Teilen, erst Milos Geschichte, dann Khallils Geschichte, Teil drei, die Entscheidung, schneidet beide Geschichten zusammen. Was bleibt 2022 von den Protesten im Irak? Eine weiterhin korrupte Regierung. Milo, die weiterhin weg müsste, wenn sie überleben will, die aber ihre Freundin nicht zurücklassen will. Und Khalili, der sich scheinbar den Gegebenheiten ergibt, seine Kameras in den hintersten Winkel seines Schranks mehr stösst als stellt, der heiratet, und doch bei den erneuten Protesten seine Kamera packt und wieder mitgeht, schaut, dreht, dokumentiert. Spannend bis zur letzten Filmminute. Und so ein sehr verdienter Prix de Soleure.
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Familie immer wieder
Bagger Drama von Piet Baumgartner
Eine Familie zerlegt sich. Im vierten Jahr nach dem Unfalltod der Tochter ist vom vormaligen Familienglück nichts mehr übrig. Während die Emotionen eigentlich offen daliegen, gehen sie nicht in die Tiefe, weder bei den Figuren, noch beim Zuschauer. Die Eröffnung des Sohns, er sei Homosexuell, quittiert die Mutter mit einem freundlichen „ich weiss“ gefolgt von Tränen, da sie jetzt wohl keine Enkel mehr bekommt. Aber auch diese Situation bleibt völlig blutleer. Maschinell, wie ihre programmierbaren Bagger, die wunderhübsch Ballett tanzen, oder der Saugroboter, der still im Hintergrund seine Kreise zieht, zerfällt die Familie.
Allein der Familienhund scheint wirklich lebendig, doch sein ständiges und lebhaftes Bellen verheisst für ihn nichts Gutes. Sehr schöne verspielte Bilder, die aber über die Länge nur noch sich selbst bezwecken.
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Road’s End In Taiwan von Maria Nicollier
Als der Genfer Damien einen Brief aus Taiwan bekommt, in dem er vom Tod seines Vaters informiert wird, stellt er fest, dass nichts von dem, was seine Mutter erzählt hat, stimmen kann. In Taiwan erfährt er zusätzlich, dass, um die Erbschaft anzutreten, alle Berechtigten – zwei weitere Halbbrüder und eine Ehefrau – unterschreiben müssen. Mit einem der beiden Brüder fährt er zusammen durchs Land, auf der Suche nach den anderen. Während für Damien vor allem wichtig ist, zu erfahren, wer sein Vater war, wollen die beiden Halbbrüder einfach nur das Erbe. Eine Fahrt in eine Vergangenheit und eine Familiengeschichte, die alles andere als schön und heil ist. Schön gemacht, gut gespielt und spannend.
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Selbst(er)findung
Hôtel Silence von Léa Pool ist eine Romanverfilmung.
Jean, ein lebensmüder Kanadier, packt seine Sachen, Werkzeug und Haken inklusive, und fährt in ein fiktives Land, das nach fünf Jahren Bürgerkrieg gerade zur Ruhe kommt. Sein Plan: sich dort anonym, und ohne ihm nahestehende Menschen zu belästigen, umzubringen.
Der Mann, der alles reparieren, oder flicken kann, nur anscheinend seine eigenen Wunden nicht. Seine Lebensmüdigkeit prallt dort am Lebenswillen und der Resilienz der Überlebenden ab. Der Film suggeriert immer wieder, dass Jean möglicherweise in die Geschehnisse des Krieges involviert sein könnte. Die daraus entstehende vermeintliche Spannung ist eigentlich völlig überflüssig, besonders, da ihre Auflösung eher unbefriedigend gerät. Dabei ist der Kontrast von Überdruss zu Lebensmut eigentlich Geschichte genug. Die Bilder, die Anfangs wie mit einer Art bräunlichen Firnis überzogen sind, werden im Verlauf der Geschichte unmerklich heller, fröhlicher.
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Nochmals eine Selbstsuche, diesmal dokumentarisch in Osteria all’undici von Filippo Demarchi. Ein filmisches Selbstportrait zur Selbstheilung.Der Regisseur arbeitet nach einen Zusammenbruch, oder Burnout, als Kellner in einem Restaurant, das psychisch labilen Personen eine Chance auf einne Neustart bietet.Er nutzt das Medium Film, um zurück zu einem Ich zu finden, das Film-Kunst und Wertschätzung zusammenbringt.Vielleicht kein umwerfender Film, aber doch mit Humor und handwerklichem Können gestaltet.
Schräge Welten
Milchzähne von Sophia Bösch
Eine merkwürdige Gemeinschaft im Nirgendwo, ein Wald, ein Fluss, archaische Regeln. Und ein diffuser nicht wirklich näher benannter Aberglaube an einen Feind. Laut Katalogtext eine „dystopische Zukunft“.
Warum allerdings Geschichten, die von einer dystopischen Zukunft handeln, immer dazu neigen, hierarchisch-autoritär organisierte Welten zu zeigen, in denen das Andersartige unfehlbar als Feind gebrandmarkt und ausgegrenzt werden muss, bleibt ein Rätsel. Wenig originell ist es auf jeden Fall. Selbst wenn es bei Milchzähne hübsch gemacht ist.
Ein kleines Mädchen taucht auf, parallel dazu verschwindet erst Vieh und dann noch zwei Kinder. Die Gemeinschaft ist sicher, das Mädchen ist einem Aberglauben folgend ein Wolfskind, eingeschleust, um Unglück zu bringen. Natürlich kümmern sich die zwei als Aussenseiterinnnen geltenden Frauen um das Kind, natürlich bringt das allen Ärger, den man sich in der Konstellation denken kann.
Es ist schon ok, wenn eine Geschichte nicht jeden Hintergrund, jede Motivation genau auserzählt, aber hier gibt es winzige Andeutungen, und der Rest bleibt verborgen. Man ist allein mit einer Welt, die, bis auf Autos und moderne Waffen, auch vor zweihundert Jahren angesiedelt sein könnte. Das macht den Film eher langweilig, als spannend, das Mitfühlen mit den Figuren und ihren Problemen fällt aus, weil man ihnen nie nah kommen kann.
Zurücklehnen
Ein wenig zurückgelehnte Entspannung macht es dagegen leicht dem Animationsfilm Reise der Schatten von Yves Netzhammer zu folgen.
Alles entsteht aus Allem, eine surreale Reise in eine animierte Welt, in der viel Böses passiert. Gesichtlose, geschlechtslose Humanoide in stetigem Wandel. Mal in eine heftige, befremdliche Sexualität verstrickt, dann in böse Gewalttätigkeit. Ein Menschenaffe – mit Gesicht – in einem Käfig, ein Anglerfisch im Aquarium und rote Kugeln, die Gegenwart und Zukunft zu spiegeln scheinen, ziehen sich durch den Film, leiten die Figuren.
Am Ende steht der Anfang.
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Blut
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Schräg, wenn auch ein wenig hölzern, ist die schweizerisch-österreichische Koproduktion Bernadette will töten von Oliver Paulus und Robert Herzl.
Eine Internet-Splatter-Satire, vermutlich mit zu viel Blut und Gedärm für reine Satire-Fans, dafür mit etwas zu viel Gerede für reine Splatter-Freunde.
Nach einem vereitelten Selbstmord, beschliesst die titelgebenden Bernadette, dass sie nicht mehr sterben, sondern lieber Töten will. Eine seltsame Psychologin lockt sie auf eine einschlägige Plattform im Darknet. Die naive, internetunaffine junge Frau gerät in eine intrigenschwangere Mordverabredung. Blut, Spass und sehr wienerische Figuren.
Wasser
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Einer der schönsten Filme ist: Vracht von Max Carlo Kohal.
Vier Jahre Lehre auf einem Frachtschiff. Vom unsicheren Anfänger, der sich quälend mit dem Tau abmüht, zum Kapitän, der souverän rückwärts ins Hafenbecken einparkt. Ein faszinierender Einblick in die Welt der Frachtschifffahrt auf dem Rhein. Bilder, die ruhig, sachlich und trotzdem schön vom Alltag an Bord erzählen.
Eine hermetische Welt, deren wirkliche Grösse zu keinem Zeitpunkt wirklich sichtbar wird, und die der Film zu keinem Zeitpunkt verlässt. So bleibt man immer ganz nah an den Protagonisten und deren Entwicklung. Ein wirklich faszinierender Film.
Was ist nun der Schweizer Film? Er ist sicher nicht auf ein, zwei Schlagworte zu reduzieren. Er ist vielfältig, oft ungewöhnlich, immer öfter koproduziert und wird, nicht zuletzt durch diese Koproduktionen, immer sichtbarer. Es gilt also, ihn auch in den Kinos ausserhalb der Schweiz, ausserhalb eines Festivals anzuschauen und zu entdecken.