#Locarno Letzter Tag und die Preise

Leoparden auch gespiegelt
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Zum Ende hin

 

Noch ein bisschen mehr Statistik. Die Vorstellungen fangen in diesem Jahr alle pünktlich an, am entzerrten Programm allein kann das nicht liegen. Aber es ist auf jeden Fall erfreulich. Auch auf der Piazza kann man damit rechnen, dass um Schlag 21:30 die Anfangsfanfare zu hören ist. Die Ehrungen fallen dieses Jahr etwas schlanker aus, die Abendvorstellung beginnt dadurch auch etwas früher.
Dem neuen künstlerischen Leiter Nazzaro merkt man jetzt langsam an, dass so ein Festival anstrengt, er wirkt bei manchen Präsentationen etwas müde, weniger fröhlich als am Anfang und vergisst auf der Piazza auch schon mal kurz, wie der Ablauf zu gehen hat, zum Glück ist in solchen Fällen seine Ko-Präsentatorin Giada Marsadri zur Stelle.

 

Geschwister

Schwesterlein von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond ist zuallererst ein Ensemblefilm, eine Plattform für das schauspielerische Können von Nina Hoss, Lars Eidinger und Marthe Keller.
Als ihr Zwillingsbruder schwer an Krebs erkrankt, zerlegt sich für seine Schwester nicht nur die Welt ihrer Kindheit, sondern es werden fundamentale Entscheidungen zu treffen sein, die auch nach dem Tod des Bruders noch Bestand haben müssen. Die Bilder der sanft beweglichen Kamera verschaffen der eher schweren Geschichte dann doch etwas Leichtigkeit.

 

Fevi_praktisch aber nicht schön
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Kurzfilme – Kinder

 

How do you measure a year? von Jay Rosenblatt ist eine wirklich lange Langzeitbeobachtung. Von ihrem 2. bis zu ihrem 18. Geburtstag filmt der Regisseur seine Tochter, auf immer demselben Sofa, in immer relativ demselben Ausschnitt und mit sich wiederholenden Fragen. Eine sehr private Studie von einer Vater-Tochter Beziehung, vom Werden und Wachsen des Selbstverständnisses, und zum Teil extrem lustig.

Papynik krosivky (Dad’s Sneakers) von Olha Zhurba. Ein Kinderheim irgendwo in der Ukraine, ein Junge soll am selben Tag an eine Familie in den USA vermittelt und abgeholt werden. Was er aber am meisten will, ist, Kontakt zu seinem Vater aufnehmen. Als er ihn am Telephon erreicht, legt dieser auf. Eine kleine, tieftraurige Geschichte.

Kaum etwas ist ermüdender, als ein Film, auch ein kurzer, bei dem man überhaupt nicht weiss, was er soll, wohin er will, so wie after a room von Naomi Pacifique. Ein Zimmer, zwei Frauen, ein Mann, alle nackt, irgendwelche Gespräche über Tattoos, Familie. Vermutlich sehr autobiografisch, trotzdem: Mühsam.

Squish! von Tulapop Saenjaroen ist ein ziemlich verrückter, teils animierter, teils real gedrehter Film, in dem es um unfertige Animationsfiguren geht. Grell, bunt, sinnlich.

 

 

Piazza Nachmittag
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Zauberei

Der nigerianische Episodenfilm Juju Stories von C.J. „Fiery“ Obasi, Abba T. Makama und Michael Omonua erzählt drei verschieden Aspekte der „Hexerei“. In der ersten Geschichte verhilft ein Zaubertrank einer Frau zu ihrem Traummann. Aber wie immer: aufgepasst beim Wünschen, der Traummann erweist sich in der Praxis als weniger traumhaft. Die Episode spielt sehr schön mit Real- und Wunschwelt, und spielt die Varianten durch. Die zweite Episode zeigt Zauberei, die unaufgefordert einsetzt. Ein kleiner Strassendieb findet Geld und wird in eine Yamswurzel verwandelt, die wiederum von einem Mechaniker verkocht und verspeist wird. Da ist der Wahnsinn nicht mehr weit. In der letzten Episode erweist sich eine Schülerin als sprichwörtliche Hexe, und räumt alle Mitschüler aus dem Weg, die zwischen ihr und ihrer besten Freundin stehen oder stehen könnten. Alle Episoden sind gut gemacht, aber eine weitere als die thematische Verbindung wäre schon auch schön gewesen.

 

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Kälte und Kameradschaft

 

Mit John Landis wurde ein weiterer Grosser des amerikanischen Kinos am vorletzten Abend auf der Piazza geehrt. Es gab viel Beifall für sein launig freundliches Erzählen über seine Arbeit, aber echter Enthusiasmus kam nicht auf.
Es sind diese Momente, in denen besonders auffällt, dass viel weniger Publikum am Abend unter freiem Himmel sitzt.
Danach dann der neue Film des russischen Regisseurs Gleb Panfilov, 100 Minutes. Die Geschichte, nach einer Kurzgeschichte von A. Solschenizyn, vom russischen Soldaten, der 1941 von deutschen Soldaten gefangen genommen wird, aber relativ schnell zu seiner Einheit zurückgeschickt wird. Dort wird er für einen Spion gehalten und umgehend für 10 Jahre in ein Lager für politische Gefangene geschickt. Hauptsächlich wird der harte Alltag im Lager erzählt, es ist kalt, schmutzig und das Essen ist widerlich. Aber in allen Szenen schwingt immer auch eine Art Verklärung der Solidarität und Kameradschaft mit. Die Geschichte will angeblich ergründen, was Menschen in solchen Situationen am Leben, am Hoffen, am Durchhalten hält. Ein etwas altmodischer Film sowohl in der Machart als auch in der Behandlung des Themas.

 

Die Zielgerade

 

 

Morgenlicht mit PardoKuh
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Während in Locarno die Sonne alle Bewegungen verlangsamt, laufen die letzten Filme in den kühlen Kinos.
Anders als üblich werden die Gold – und Silberleoparden nicht auf der Piazza Grande vergeben, sondern in einer gesonderten Veranstaltung am Nachmittag.

Ein bisschen Statistik geht noch: Das Verhältnis von männlichen und weiblichen Regisseuren ist in Locarno ziemlich ausgeglichen, gleiches gilt für die Jurymitglieder. Es geht also, wenn man will.

 

 

Ausweglos

Der tunesische Film Streams von Mehdi Hmili zeigt, wie durch patriarchale, sexualisierte Strukturen Schritt für Schritt Leben zerstört wird. Statt den Vergewaltiger einzusperren, wird das Opfer sowohl des Ehebruchs als auch der Prostitution bezichtigt und eingesperrt. In der Folge prügelt ihr Sohn einen Mitspieler seines Fussballvereins krankenhausreif, aus dieser Abwärtsspirale gibt es bald kein entkommen mehr. Während die Mutter nach dem Gefängnis versucht irgendwie wieder Fuss im Leben zu fassen, flüchtet sich der Sohn zu Kleinkriminellen und versinkt in einer immer dunkleren Welt. Auch in dieser Welt hat der Stärkere die Macht und übt sie mit Schwanz und Fäusten aus, ein Verhalten, gedeckt von einem politischen und sozialen System, das diese Strukturen vorlebt.

 

Der letzte Abend

Zwar wurden auf der Piazza Grande am Abend nicht die Preise vergeben, aber alle Jurymitglieder und alle Preisträger durften auf die Bühne. Ein Preis wurde dann doch ausschliesslich auf der Piazza bekannt gegeben, der Publikumspreis für den besten Film auf der Piazza Grande. Völlig verdient gewann Hinterland von Stefan  Ruzowitzky.

 

Dario Argento
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Einen allerletzten Ehrenleoparden gab es dann doch noch, ein spontaner Leopard, als besten Nachwuchsdarsteller des Festivals und für sein Lebenswerk bekam Dario Argento den Preis, überreicht von John Landis. Viel Kino auf einer Bühne.

 

Musikalisch

Zum Abschluss dann Respect,, die Lebensgeschichte der Soulsängerin Aretha Franklin, von Liesl Tommy. Der Film erzählt nicht nur von ihrer Karriere als Sängerin, sondern auch von der amerikanischen Geschichte der 50er und 60er Jahre. Eine Lebensgeschichte, der es an Drama nicht mangelt und dazu mitreissende Musik, ein guter Film für einen warmen Sommerabend und für die grosse Leinwand.

 

 

Die Leoparden

 

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Der wunderbar schräge Film Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas (Vengeance is Mine, All Others Pay Cash) des indonesischen Regisseurs Edwin gewinnt den goldenen Leoparden. Das ist aus vielen gründen toll, erstens, weil es wirklich ein gelungener Action-Film ist, der aber zweitens eine fabelhafte Frauenfigur sowie eine genreunübliche entspannte Sicht auf Sexualität in die Geschichte integriert.
Nicht nachvollziehbar ist der Leopard für die beste Regie, der an Abel Ferrara geht.

In der Nebenreihe Cineasti del presente gewinnt der tschechische Dokumentarfilm Brotherhood von Francesco Montagner. Auch wenn der Film einige Schwächen hat, ist es ein verdienter Preis.
Im gleichen Wettbewerb gewinnt Hleb Papou mit Il Legionario den Preis für die beste Nachwuchsregie. Auch das eine erfreuliche Entscheidung der Jury.


Bei den Kurzfilmen international gewinnt der sehr schöne brasilianische Film

Fantasma Neon (Neon Phantom) von Leonardo Martinelli den Pardino d’oro, der Pardino d’argento geht an Les démons de Dorothy (The Demons of Dorothy) von Alexis Langlois. Der Kurzfilm In flow of words von Eliane Esther Bots gewinnt den Preis für die beste Regie, und kommt damit in den Wettbewerb der European Film Awards.

Im nationalen Wettbewerb gehen die Preise an:

Chute (Strangers) von Nora Longatt Pardino d’oro und After a room von Naomi Pacifique Pardino d’argento.

Alle Preise: hier

Geschlossen bis nächstes Jahr
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Das Kino ist zurück, der Film ist zurück auf der Leinwand und zurück beim Publikum. Am 3. August 2022 wird dann die 75. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno eröffnet werden.

#Locarno Das Kino ist zurück

 

PardoKuh in Gesllschaft
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Taschenkontrollen

 

Kontrollen werden in Locarno ernst genommen, das heisst, dass sowohl Impfbelege als auch Testnachweise nicht nur gescannt werden, sondern es werden auch wirklich die dazu gehörenden Ausweise geprüft. So kramt man ständig in Taschen oder Rucksäcken nach nach dem, was gerade vorgezeigt werden soll. Dafür sind diese Taschen dann wieder Objekt der Kontrolle und da wird dann der Ernst doch etwas übertrieben.
Selbst wenn man die Sinnhaftigkeit von Taschenkontrollen nicht in Frage stellt, dass man immer wieder über einzelne Trinkflaschen oder sonstigen Tascheninhalt „diskutieren“ muss, ist nervenaufreibend. Neueste Idee der Kontrollierer: Rucksäcke abgeben lassen.
Nein, so geht das nicht!
Die Reaktion auf die Weigerung brachte dann eine genaue Untersuchung des Tascheninhalts und der Rucksack durfte mit ins Kino.

Kurzfilme, wild

 

Neues bei den Kurzfilmen: Eine neue Sektion corti d’autori, also Kurzfilme von schon erfolgreichen Filmemachern, wurde ins Leben gerufen. Und seit diesem Jahr werden die nationalen und internationalen Kurzfilme nicht mehr in getrennten Programmen gezeigt , sondern gemischt mit den corti d’autori vorgeführt. Das erhöht das Sehvergnügen und die Vielfalt der einzelnen Programme.

Diese erste Auswahl ist insgesamt sensationell:
Caricaturana des Berlinale Siegers Radu Jude nimmt eine Idee Eisensteins bezüglich Daumiers Karikaturen auf, und baut daraus eine filmische Variation zum Thema Bewegung und Kontext. Sehr witzig und gewitzt.

Steakhouse von Špela Čadež ist ein böser Animationsfilm über (eheliches) Miteinander, das sich als toxisches Gegeneinander herausstellt. Schön gezeichnet, zunächst in Ellipsen und Parallelmontagen erzählt, um dann einer Art Horrorfilmmontage zu weichen.

In flow of words von Eliane Esther Bots ist ein einfühlsam erzählter Dokumentarfilm über Simultandolmetscher im Den Haager Tribunal. Essayistisch gestaltet, mit eigenwilliger Visualisierung der Einsichten und Ansichten der Dolmetscher. Und dabei auch ein Stück europäische Geschichte.

Es muss von Flavio Luca Marano und Jumana Issa erzählt von einer Frau, deren Tag alles andere als gut läuft. Kurz vor der Pensionierung wird sie entlassen, die Polizei hält sie wegen einer Nichtigkeit an, und summiert dann noch weiterer Fehler dazu; als wäre das noch nicht genug, folgt am Ende des Tages der Verlust des Solistenparts im Chor. In Summe: ein Scheisstag, mit einem schrägen, coolen Ende.

Les Démons de Dorothy von Alexis Langlois fährt alles auf, was man sich an Stereotypen zu lesbischen Gore-Porn-Horror-Filmen so ausdenken kann, nutzt alle visuellen, kostümbildnerischen und Maskentricks und schickt die arme titelgebenden Dorothy in einen Albtraum. Der Albtraum wohl vieler Filmemacher, die jenseits des Allgemeintauglichen Geschichten erzählen wollen. Ganz grossartig.

 

Lieblingssitz
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Heilige, Sünder und der Kommunismus

 

Definitiv so weit ein toller Festivaltag mit wirklich spannenden und ungewöhnlichen Filmen.
Auch Nebesa von Srdjan Dragojević reiht sich nahtlos ins filmische Vergnügen.
Der Film ist barock, böse und blasphemisch!
Die Geschichte spannt sich von 1993 bis 2026 – zählt der Film damit schon zum Sciencefiction Genre? – und fängt zunächst brüllend komisch an. Der liebenswerte, freundliche und kriegsvertriebe Stojan lebt mit Frau und Tochter in ärmlichsten Verhältnissen, bis ihm beim Wechseln einer Glühbirne plötzlich ein Heiligenschein wächst.
Die Nachbarn wittern den Teufel oder werfen sich vor dem frisch gebackenen Heiligen auf die Knie, die einzige Lösung den Heiligenschein loszuwerden, scheint: sündig werden. Leichter gesagt als getan. Bis es dann plötzlich doch sehr leicht wird, und damit das ganze Komödiantische ins Böse kippt. Ein Märchen über Gier, (Aber)Glauben, eine Welt in Veränderung, bevölkert von skurrilen Figuren, wahren und falschen Heiligen, und Realitäten, die instabil und unzuverlässig sind. Ein komplexes Weltbild, das man sich leicht ein zweites Mal ansehen kann. Und Heiligenschein wird man selbst dann nicht mehr los, wenn man sich in einen ausgemachten Dreckskerl verwandelt hat.

Selbstwahrnehmung

 

Auf der Piazza Grande, diesmal ohne Regen, der französische Film Rose von Aurélie Saada. Die Geschichte einer Frau – Mutter und Grossmutter – die mit 78, nach dem Tod ihres Mannes, lernt, sich aus sich selbst heraus zu definieren. Die Befreiung von Zwängen und das Ichwerden hat nette und lustige Seiten, aber insgesamt stellt sich doch die Frage, warum alte Frauen, die sich herausnehmen, „egoistisch“ zu werden, im Film immer auf Opposition der Familie treffen. Und warum müssen diese Geschichten fast immer in Form eher sanfter Komödien erzählt werden? Es wird Zeit für starke Frauenfiguren, auch jenseits der 70, die vielleicht auch mal richtig auf den Tisch hauen, „Ich“ sagen und ernstgenommen werden (dürfen).

 

Stuhlfriedhof
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Die Stühle, die auf der Piazza jeden Abend verlässlich und laut zerbrechen, scheinen  einen feinen Sinn für Humor zu haben, und wählen gerne dramaturgische Pausen, um sich krachend  zu zerlegen.

 

Sommerstimmung

 

 

 

Morgensonne
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Einige Änderungen in Locarno sind wirklich schade, so wurde zum Beispiel das Forum Spazio Cinema, zwischen den grossen Mehrzweckhallen-Kinos, zurückgebaut. Was heisst, dass man in dieser Ecke so gut wie keine Möglichkeit mehr hat sich irgendwo halbwegs zivilisiert hinzusetzen. Die Zeit zwischen zwei Vorstellungen reicht aber nicht immer, wieder stadteinwärts zu gehen, so bleiben nur Wiesen in der prallen Sonne (oder im Regen), Bordsteinkanten und einige wenige Steinbänke. Auch ein Austausch mit anderen Festivalbesuchern wird so schwieriger. Gut ist hingegen, dass es endlich ein halbwegs verlässliches öffentliches WLAN gibt, für Besucher ohne Schweizer Handyvertrag nicht unerheblich.

 

Brüder

Ein sehr starker Erstlingsfilm ist Il legionario von Hleb Papou. Der Film vereint Bruderzwist, Rassismus in den Reihen der Polizei und Sozialkritik und macht daraus ein packendes Drama. Als einziger Schwarzer der Bereitschaftspolizei muss sich Daniel mehr behaupten, besser sein, und den Regeln mehr genügen als seine Kollegen. Gleichzeitig ist er aber auch in einem, seit 16 Jahren besetzten und selbstverwaltetem Haus aufgewachsen, in dem immer noch seine Mutter und sein Bruder leben. Er steht emotional und professionell zwischen den Fronten. Die Kamera zeigt diesen Konflikt in sehr nahen Aufnahmen, mit viel Hintergrundunschärfe, teilweise nervösen, schnellen Schnitten, teilweise bleibt sie lang auf Details oder Gesichtern und zieht den Zuschauer damit mitten in die Geschichte, lässt teilhaben am (Gewissens)Konflikt. Ein Film, der Nahe geht und nachdenklich stimmt.

 

Kurzfilme, komplex

Die zweite Runde der pardi di domani zeigt viele künstlerischen Einfälle, aber macht es teilweise trotzdem schwer den Geschichten zu folgen.

Hotel Royal von Salomé Lamas zeigt endlose Hotelflure, Hotelzimmer in verschiedenen Zuständen der Benutzung, darüber, im Off gesprochen, eine Art Szenenanweisung, die etappenweise in etwas konfuse Gedanken eines Teilzeitzimmermädchens abdriften. Die Bilder sind gut gewählt, durch die Wiederholung der Bildkomposition entsteht ein Sog, aber kein Verständnis.

Giochi von Simone Bozzelli zeigt die dunkle Seite vom Spielen. Ein kleiner Junge, der auf seine Mutter nicht mal reagiert, als diese zu ersticken scheint. Sein grosser Bruder, der von seinem Freund wissen will, was er an ein Mädchen aus einem Tanzkurs geschrieben hat. Beziehungen, die nicht so laufen, wie – mindest – eine Seite sie gerne hätte. Und dann ist da noch eine Katze, die zumindest für die Brüder die Emotionen bündelt.

Am spannendsten, auch visuell, ist Love, Dad von Diana Cam Van Nguyen. Teils Realbilder, teils Animation, eine Art digitaler Kollage, die wiederum ein Brief an den Vater ist. Ein Vater, der nur wirklich nah war, als er ein Jahr im Gefängnis verbrachte. Der Versuch einer Annäherung.

Auch die Figur in Chute von Nora Longatti sucht Nähe. Eine junge Frau, die immer wieder, scheinbar grundlos, umkippt. Im Verlauf sieht es aus, als würde sie gezielt in der Nähe von Menschen, die Stress haben, umkippen. Manche kümmern sich um die Gestürzte, andere gehen achtlos weg. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit in einer Stadt, die leer erscheint und keine Nähe zulässt. Besonders schön sind die Bewegungen im und um die Stürzte, eine tänzerische Leichtigkeit, die surreal wirkt.

 

In der Hitze des Wahnsinns

Der soweit schrägste und intensivste Film ist Soul of a beast von Lorenz Merz.
Bilder, Geschichte., Ausstattung, Schnitt, alles schreit laut: Wahnsinn!
Ein alleinerziehender Vater, selbst noch ein Kind, der sich immer wieder kleine Ausbrüche in ein „normales“ Teenagerleben sucht, ein Leben, in dem Adrenalin und schwachsinniges Risiko dominieren. Ein Sommer, in dem die Welt aus – eventuell – kosmischen Gründen durchdreht, und eine neue Liebe, die eine Jungsfreundschaft und das ganze fragile Lebensgebilde auseinanderzureissen droht. Alles in hitzigen Bildern erzählt, oft mit hektischer, Kamera, immer wieder sehr dichte Nahaufnahmen, ein wilder, zunehmend durchdrehender Schnittrhythmus. Wild, wahnsinnig, sensationell, wenn auch an einigen Stellen etwas zu sehr ins Esoterische kippend. Atemlos.

 

Traumata und Rache

 

Was, neben der soweit sehr schönen Filmauswahl, am neuen künstlerischen Leiter Nazzaro auffällt, ist die entspannte Selbstverständlichkeit, mit der er auf der Bühne steht und agiert. Keine Scheu vor dem Publikum, kein sich Herantasten und erst Warmwerden, er scheint vom ersten Tag an ganz Zuhause zu sein auf der Bühne, und ist dabei freundlich, kompetent und vielsprachig .

Hinterland von Stefan Ruzowitzky ist der erste wirklich grosse Film auf der Piazza. Ein wuchtiges Werk, das die grosse Leinwand wirklich nutzt. Angesiedelt im Jahr 1920 zeigt der Film eine kleine Gruppe Kriegsheimkehrer, zerlumpt, verwundet, nach zwei Jahren Gefangenschaft gebrochen. Sie kommen in eine Welt, die nicht mehr die ist, aus der sie aufgebrochen sind. Aber nicht die Traumata und das soziale Elend der Zwischenkriegszeit sind das Thema, sondern die Ermittlung um einen grausamen Serienmörder, der es allem Anschein nach auf Kriegsheimkehrer abgesehen hat. Die solide, spannende Krimi-und Rachegeschichte ist aber nur ein Teil, der den Film so beindruckend und gewaltig macht. Der andere Teil ist das visuelle Konzept, ein nachgebautes, gemaltes, computergestaltetes Wien, das aussieht, als hätten sich Egon Schiele und Marc Chagall zusammengesetzt, um es zu malen. Häuser, Türme, Strassenschluchten, nichts ist gerade, alles kippt und fällt, wie schlechte Zähne, oder wie sich die Welt für die traumatisierten, verwirrten Soldaten sich anfühlen muss. Die dadurch entstehende Künstlichkeit der Szenen gibt dem Film etwas, das die reine Krimigeschichte nicht hätte. Sehr beeindruckend.

 

Leoparden überall
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Cinema is back steht vor jedem Film kurz auf der Leinwand. Was die ersten Tage in Locarno angeht, stimmt das sicher. Ins Kino gehen, in all seinen Facetten ist wieder machbar.