Heilig oder Tabu
Sieben Tage lang ist Solothurn wieder der Nabel der Schweizer Filmwelt. Da kann es dann auch egal sein, dass der Schnee hier in Form von hässlichem Regen auftritt, künstlerische Freiheit sozusagen.
Eine Woche wird es in den Solothurner Spielstätten zu sehen und zu bewerten geben, was im letzten Jahr an Schweizer Filmen entstanden ist – und es in durch die Auswahl ins Programm geschafft hat.
Launig und doch auch kritisch zeigt sich der künstlerische Leiter Niccolò Castelli. Er versteht (Film)Kunst als Reflexionsfläche aktueller Diskurse, neuer Strömungen, kontroversieller Sichtweisen, die auch den zeitlichen Wandel dokumentieren. Die Aufreger von früher sind heute möglicherweise Kanon. Was heute vielleicht nicht verstanden wird, kann morgen Alltag sein, oder vergessen worden sein. Was heilig ist oder ein Tabu, das weiss man oft erst später, wenn das Fremde nicht mehr neu ist, sondern selbstverständlich geworden ist. «Solange es Tabus gibt, wird die Aufgabe des Kinos nicht erschöpft sein. Deshalb ist es nur richtig, dass die Öffentlichkeit, dass Sie und wir alle uns daran beteiligen, dass mutige Filme entstehen und dass sie gezeigt werden können».
Mutterschaft ablehnen
Und so eröffnet das Festival mit einem Film, der ein eher wenig öffentlich besprochenes, eher tabuisiertes Thema behandelt.
In Les paradis de Diane von Carmen Jaquier und Jan Gassmann lehnt eine junge Mutter unmittelbar nach der Geburt ihre Mutterschaft ab.
Mit dem Akt des Gebärens scheint sie sich auch von dieser Rolle abgenabelt zu haben. Mit einer fast schwebenden, zart bewegten und oft sehr nahen Kamera folgt man dem harten Gefühlschaos, das die junge Frau dazu bringt, in der Nacht nach der Geburt aus dem Krankenhaus abzuhauen. Gehetzt, wie ein verletztes Tier, flüchtet sie, um im Morgengrauen völlig fertig im trostlosen Busbahnhof von Benidorm zu landen. Der Film zerredet nichts, erklärt nichts, liefert weder Erklärungen noch Hintergründe. Er folgt einfach der Protagonistin, so wie diese einfach Schritt für Schritt weiterläuft. Eine Frau, die nicht weiss, ob sie ein Monster ist, weil sie davon ausgehen muss, dass man sie so sieht. Und so folgen schlafwandlerisch-rauschhafte Szenen auf Situationen voller stiller Zartheit. Und immer findet die Kamera die genau passende Nähe oder Distanz, setzt auf wilde Lichtreflexe und Spiegelungen oder auf sanft bewegte Begleitung der Bewegungen. Als Zuschauer fürchtet man sich gleichermassen mit und für die junge Frau, und das ist wohl das Beste, was ein Film bewirken kann. Dass das hier so fabelhaft zusammenspielt, ist der Kamera von Thomas Szczepanski und dem Spiel von Dorothée de Koon zu danken. Der Film ist auch zur Berlinale eingeladen, die Chancen, dass er europaweit in die Kinos kommt, ist also gross.
So weit also ein starker Einstieg in die 59. Solothurner Filmtage.