#Locarno77 Emotionen

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Die Tücken der Technik

Der neue Leopard funktioniert wunderbar auf allen Photos, auf der Leinwand nur dann, wenn die grosse Katze relativ statisch in die Kamera faucht, sobald mehr Bewegung ins Spiel kommt, ist der Spass vorbei.
Der alte, auf 35 mm gedrehte Leopard, schritt majestätisch und das Fell sah aus, als wollte man es berühren, der neue, digital gedreht, ist so überscharf, dass er in der Bewegung visuelle Artefakte generiert, die Augen und Hirn irritieren, das ist unschön.

Obwohl seit Jahren ein Telekommunikationsunternehmen Hauptsponsor des Festivals ist, gibt es weiterhin kein halbwegs flächendeckendes WLAN für Gäste und Besucher des Festivals, das ist, bedenkt man die teuren Roaminggebühren, wirklich blöd.

Weitere Neuerungen, die eigentlich keiner so braucht: die Bar beim Spazio Cinema, der einzige Ort, wo man in der Ecke Essen und Trinken bekommt, wünscht nur noch Kartenzahlung. Auf Nachfrage heisst es, dass das Festival das so will. So muss für jeden kleinen Espresso die Karte gezückt werden. Wozu?

 

 

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Alpakas und Fussball

 

Die Sektion Open Doors zeigt im dritten und letzten Jahr Filme aus Lateinamerika und der Karibik, Filmländer, die in Europa nahezu unbekannt sind, und eigentlich ein Gewinn sind.
Raíz von Franco García Becerra, der erste Film, der in der Reihe gezeigt wird, zieht um elf Uhr am Morgen eine riesige Schlange vors Kino – ausverkauft. Was auch heisst, das Gerangel um die letzten freien Plätze dauert und dauert und führt gleich am Morgen zu einer erheblichen Verspätung.
Aber der Film ist das Warten wert.
Der junge Feliciano hütet für seine Familie irgendwo in den Anden Alpakas, immer dabei: sein Hund Rambo und sein Alpaka-Junges Ronaldo. Und damit ist schon Felicianos Passion erzählt, er ist, wie der ganze Ort, Fan der peruanischen Fussballnationalmannschaft.
Die Idylle scheint perfekt, Peru ist kurz davor, nach Jahrzehnten wieder an einer WM teilzunehmen, die Alpakas haben Wolle von toller Qualität, aber eine Mine versucht sich immer mehr in die Landschaft zu graben. Die kleinbäuerliche Gemeinde wehrt sich, so gut es geht. Aber die Minenbetreiber wenden unlautere, brutale Mittel an, um sich Land zu beschaffen. In sehr schönen Bildern, stimmungsvoll und wild-romantisch, erzählt der Film den Konflikt, die Begeisterung für Fussball und mischt noch etwas andinischen Volksglauben von einem wilden Monster dazu. Einziger Minuspunkt: die etwas hölzern wirkenden Dialoge. Dennoch, der Film packt und am Ende fiebert man mit den Protagonisten dem Schluss des letzten Qualifikationsspieles entgegen. Peru ist nach mehr als 30 Jahren für eine WM qualifiziert.

Explosive Emotionen


Die erste Runde des Kurzfilmprogramms startet mit einigen sehr guten Einfällen, originell, bilderstark und emotional.
La Fille qui explose von Caroline Poggi und Jonathan Vinel ist eine Computeranimation, erstellt mithilfe von Videospiele-Software. Die Protagonistin und Off-Erzählerin der Geschichte explodiert, täglich, manchmal mehrmals täglich. Jedes Mal setzt sie sich wieder zusammen, allerdings sieht sie dabei immer mehr wie der elektronische Bruder eines Zombies aus. Eine poppig bunte Allegorie auf Schmerz, Liebe und das Verzweifeln an beidem. Sehr schön.

Biblisch, aber nicht weniger emotional geht Nakhane das Thema in B(l)ind the Sacrifice an. Eine Gruppe Nomaden lebt in Südafrika, mitten im sprichwörtlichen Nichts. Bibeltreu und patriarchalisch strukturiert, ist das Leben dort für einen jungen Homosexuellen nicht einfach. Suff und Stress sind da fast schon vorprogrammiert. Als sein Vater ihn, nach biblischem Vorbild, opfern will, und wie im Vorbild im letzten Moment den göttlichen Befehl bekommt, das Opfern abzubrechen, verschärft sich der Konflikt. Der Rat der Mutter, immer zu tun, was einem Gottes Stimme eingibt, endet dann unerwartet fatal.

Gimn chume von Ataka51 zeigt Spuk und Horror in einem alten sowjetischen Aufnahmestudio, wo ein Orchester ein Stück nach Puschkins „Das Festmahl zur Zeit der Pest“ vertont. Zunächst langsam, dann immer massiver, fliegen Dinge durch die Gegend, verschwindet erst ein Kind, dann die Musiker. Auch hier eine starke Allegorie auf Krieg und Zerstörung, sehr schön und gespenstisch in Szenen gesetzt.

In Tinderboys von Sarah Bucher und Carlos Tapia lädt eine junge Frau Männer zu sich ein, die sie auf Tinder gefunden hat. Aber es geht ihr nicht um Sex oder Beziehung, sondern darum, ihnen unvermittelt und überraschend eine Art Kunstperformance vorzuführen. Das ist sowohl witzig als auch verstörend. Die Verstörung wird durch die Kameraperspektiven genüsslich auf- und ausgebaut.

Freak von Claire Barnett ist dagegen sehr schwach. Schrappelige Camcorder-Bilder zeigen ein Paar, das sich mit eben diesem Camcorder filmt. Was anfängt wie ein lustiger Spass, wird unangenehm und peinlich, je weiter der Abend fortschreitet, und die Fragen intimer werden. Das ist weder bildlich noch inhaltlich interessant.

 

Jedes Jahr wieder
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Fundstücke nach nur einem Festivaltag: geborstenen Stühle!

 

Spannungslos


La Mort viendra
von Christoph Hochhäusler will ein Thriller sein, mit Gangsterpaten, die sich gegenseitig Böses wollen, mit einer androgynen Killerin, die den Mord an einem Kurier aufklären soll, und das alles im Raum zwischen Brüssel und Luxemburg. Klingt leider weitaus besser als ist. Ein Dialog kurz vor Schluss des Films zwischen der Killerin und einem der Unterlinge eines der Bosse fasst den Film perfekt zusammen: „Aber das ergibt alles doch überhaupt keinen Sinn.“, lapidare Antwort: „Am Ende vielleicht schon.“
Bloss, Spoiler-Alarm: nein, es ergibt auch am Schluss keinen Sinn. Dazwischen erzählt der Film ohne jegliche Spannung vor sich hin, sodass einem auch völlig egal ist, wer, wen und warum umbringen oder von der Spitze vertreiben will. Das freundlichste, das man sagen kann, der Film ist ordentlich gedreht, die Bilder genretypisch düster, aber insgesamt ist es bieder gemacht und selbst die kurze exzessive Gewaltszene kann da nichts mehr retten.

 

 

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Politik und Familie

 

Auf der Piazza Grande ein freundlicher Film, der die Zuschauer nach Peru und in die 90er Jahre bringt. Reinas von Klaudia Reynicke erzählt gleichzeitig eine Familiengeschichte und die Geschichte der politischen Verhältnisse in Peru. Inflation, Ausgangssperren, Polizeigewalt, vor diesem Hintergrund bereitet eine Mutter sich und ihre beiden Töchter auf die Ausreise in die USA vor. Was noch fehlt, ist die Unterschrift des geschiedenen Vaters der Mädchen, damit sie ausreisen dürfen. Der Vater ist allerdings ein zwar liebenswürdiger, aber chaotischer Träumer, den die Töchter erst gar nicht sehen wollen, und dessen Charme sie dann doch erliegen. Doch seine versponnen Geschichten kombiniert mit der Trotzigkeit der älteren Teenager-Tochter bringt nicht nur die Auswanderungspläne, sondern die ganze Familie in Gefahr. Schön erzählt, sehr gut gespielt, vor allem von den beiden Mädchen, insgesamt vielleicht etwas zu lang. Freundlicher Applaus, aber viel mehr war an diesem Abend nicht zu holen.

 

#Locarno75 _ Schmelzender Asphalt

 

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Sommerhitze am Lago Maggiore

 

Wer bei diesem Wetter lieber am See liegen mag, kann trotzdem  ein Festivalzeichen setzen, mit leopardengemusterte Flipflops oder Badehandtüchern, die es, neben weiterem Marketing-Schnickschnack, zu kaufen gibt.

Für alle anderen gilt, von Kino zu Schatten und von Schatten zu Kino zu gelangen, ohne sich dabei komplett aufzulösen. Die nicht kommerziellen Schattenplätze sind allerdings dünn gesät, auch wenn dieses Jahr wieder der Spazio Cinema zwischen Fevi Kino und La Sala in Betrieb ist.

 

Publikumspreis

 

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Kleiner Nachtrag zum Eröffnungsabend, die Piazza war mit 8000 Besuchern ausverkauft, nochmal etwa 2000 hatten gleichzeitig im Fevi Platz, wo die Filme der Piazza jeden Abend parallel gezeigt werden.

 

 

 

 

An sich sollte die Abstimmung für den Prix du Public via Festival App funktionieren. Klingt leicht genug. Code des Tickets einscannen, Namen eintippen, wenn man möchte, und schon kann man Sterne vergeben. Bloss, mit einem Festivalpass (egal welchem) funktioniert das nicht. Da man als Passbesitzer für die Piazza kein Ticket zu reservieren braucht, fehlt der Beweis, dass man wirklich am Abend den Film geschaut hat.
Also: keine Chance abzustimmen.

QR-Code in Blumensamen

Zwei Festivalmitarbeiter und drei Anrufe später ist klar wie man doch mitmachen kann. Nahezu altmodisch mutet der notwendige Trick an: nach dem Einlass auf die Piazza verteilen Mitarbeiter Kärtchen mit einem individuellen Code, der dann wiederum in der App eingescannt werden kann, der Abstimmung steht dann nichts mehr im Wege. Vermutlich wird es ein bisschen dauern, bis sich das herumgesprochen hat, es sei denn, es wird irgendwie in der App noch als Weg eingetragen. Die Karten sind übrigens abbaubar und mit Blumensamen „getränkt“.

 

 

Lateinamerikanisches Kino

 

Die Sektion Open Doors widmet sich immer dem Filmschaffen ganzer Regionen, ab diesem Jahr und noch bis 2024 ist das Lateinamerika und die Karibik.
Der erste Tag startet mit einem Film aus der Dominikanischen Republik.
Una película sobre parejas von Natalia Cabral und Oriol Estrada.
Ein Film über das Filmen eines Dokumentarfilms. Das Regiepaar Cabral/Estrada spielt ein Regiepaar auf der Suche nach einem Thema für seinen nächsten Dokumentarfilm. Geldgeber wurden überzeugt, auch wenn man nicht genau weiss auf Basis welcher Idee. Und so entspinnt sich ein gleichermassen witziges und wahres Portrait über die Mühen, als Paar einen Film zu machen und gleichzeitig als Paar zu bestehen. Witzig, sensibel und sehr gut gemacht.

 

Metaphern und Mehr

 

Das erste Kurzfilmprogramm zeigt sich vielschichtig und mit reichlich Freude am Experimentieren.
In Tiger stabs Tiger von SHEN Jie geht es subtil um Gewalt. Der Animationsfilm nutzt dafür nur Schwarz-, Weiss- und Grautöne und hin und wieder ein schockierendes Rot, ganz zart, subtil und grausam. Die Figuren in einer Art, mit einem Strich, der an Schiele erinnert, bloss statt ausgemergelt eher rundlich. Verstörend und schön.

Unsere Erde brennt, nicht nur metaphorisch, sondern ganz real. In Il faut regarder le feu ou brûler dedans von Caroline Poggi und Jonathan Vinel, mischen sich reale Nachrichtenbilder von Feuern in Korsika mit der fiktiven Geschichte einer Brandstifterin. Feuerlegen als vermeintliche Rettung einer zubetonierten Welt, in der es nicht mehr lebenswert zu sein scheint.

Auch Der Molchkongress von Matthias Sahli und Immanuel Esser spielt mit Metaphern. Molche, eingesetzt, um zu dienen, zu buddeln und zu gestalten, nehmen überhand und scheinen damit die Welt immer mehr zu beherrschen. Der Mensch steht machtlos vor den Kreaturen, die er schuf und rief. Sehr schön sind die grossen Molchpuppen, und die Puppenspielarbeit mit ihnen inmitten realer Darsteller.

Asyl, Scheinehe oder doch eine echte (lesbische) Liebe? Madar tamame rooz doa mikhanad von Hoda Taheri mischt die Möglichkeiten und lässt den Zuschauer über die „wahren Absichten“ im Dunkeln. Ein bisschen zu lang, und mit teilweise zu lautem, klirrenden Ton, was in Dialogpassagen wirklich unschön ist.

 

 

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Im Kreis drehen

 

Der indonesisch-malayische Film Stone Turtle von Ming Jin Woo begeistert und nimmt mit.
Am Anfang die Ermordung einer Frau, begründet mit verlorener Ehre, die nur durch Blut wiederhergestellt werden kann. In der Folge reiht der Film Gewalt und lang gepflegte Rache in sich wiederholenden Kreisen aneinander. In jeder Wiederholung erfährt man mehr vom Hintergrund der Geschichte, in jeder Wiederholung spielt sich die Gewalt etwas anders ab, um am Ende doch wieder dasselbe Ergebnis zu haben. Jeder neue Versuch macht es klarer, nichts wird besser durch Rache und Gewalt, aber niemand kann aus seiner Haut. Die Geister sind, einmal losgelassen, unbarmherzig. Eine Parabel auf die Sinnlosigkeit dieses Teufelskreises, und innerhalb der Parabel noch eine Parabel, die gezeichnete Geschichte der Steinschildkröte, und ihrer sinnlos gewordenen Aufgabe.

 

Bühne frei für Udo Kier

 

Zum 75. Geburtstag gehört die Bühne der Piazza am Abend zunächst einer grossen Anzahl ehemaliger künstlerischer und operativer Leiter, jeder und jede mit einer kurzen Erinnerung an die Zeit in Locarno. Matt Dillon bekommt einen Leoparden für sein Lebenswerk, auch wenn er betont dafür doch deutlich zu jung zu sein, und potentielle Regisseure unter den Zuschauern anbietet ihn zu besetzten.

My neighbor Adolf von Leon Prudovsky bringt dann nicht nur den Regisseur auf die Bühne, sondern auch die drei Hauptdarsteller. Udo Kier wäre nicht, wer er ist, würde er diese Chance nicht nutzen.
Die Folge: ein Spektakel, das nur noch schwer zu stoppen ist, eine, im besten Sinne, Rampensau bei der Arbeit – herrlich.

My neighbor Adolf spielt mit der Idee, dass ein Holocaustüberlebender in seinem südamerikanischen Exil plötzlich einen deutschen Nachbarn bekommt, den er für Hitler hält. Verschreckt, aber auch entschlossen, sucht er nach Belegen. Er setzt sich mit der israelischen Botschaft in Verbindung, wo man versucht, ihn als Spinner abzuwimmeln. Der Film wird getragen vom Spiel der beiden Hauptdarsteller, Udo Kier und David Hayman, die zwei skurrile alte Männer mit extrem viel Charme, Stolz und Würde spielen. Die Wendung, die der Film dann nimmt, sieht man tatsächlich nicht kommen; eine rührende Satire, oder eine traurige Komödie, die viel Applaus bekam.

 

 

Erst heiß, dann nass

 

 

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Während sämtliche Wettervorhersagen behaupten, es gäbe heute Regen, scheint unbeirrt weiter die Sonne.

Aus Gesprächen ist herauszuhören, dass die Blumenkärtchen zum Abstimmen für Festivalpass-Besitzer nur schleppend funktionieren; zu wenig Kärtchen, zu wenig klar, wie man abstimmen kann. Nicht abstimmen können, das kommt in der Schweiz nicht gut an.
Verbesserungsbedarf besteht auch eindeutig bei der Abdeckung mit WLAN, es gibt zwar seit letztem Jahr ein Festivalnetz, aber das besteht nicht überall in der Stadt (und die ist klein). Und so steht man oft ohne Internet da, während fast alles über Handy Apps laufen soll. Prinzipiell ist die Festival App auch off-line arbeitsfähig, ausser sie hat einen mal wieder abgemeldet, denn ohne Netz ist keine neue Anmeldung möglich.

 

Inneres nach Aussen

 

Petrol von Alena Lodkina ist ein seltsamer Film. Angefangen beim Titel, dessen bedeutung sich innerhalb des Films nicht erschliesst. Der Erklärung der Regisseurin nach, ist es eine Art Metaebene, eine Anspielung auf urbanes Leben, auf das was unter dem Asphalt liegt in unseren Städten. Es bleibt auch mit dieser Erklärung wirr.
Ähnlich geht es einem mit der Geschichte. Zwei junge Frauen, die eine Regiestudentin, die andere Künstlerin, treffen aufeinander, beide scheinen angetrieben von irgendwelchen Geheimnissen, Sehnsüchten oder Geistern. Wind bläst, wirft Dinge um, erschrickt. Inneres wird scheinbar nach aussen gekehrt, aber was dieses Innere ist, warum es raus will, bleibt das Geheimnis der Regisseurin. Was schade ist, denn eigentlich möchte man den Figuren folgen, sich ihrer Sinnsuche/Selbstfindung hingeben, mitleiden, mitfiebern, mitlernen. Aber man bleibt draussen und man bleibt verwirrt. Und das ist in diesem Fall kein positiver Zustand am Ende eines Films.

 

 

 

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Publikumsgespräch

 

Im Vorbeigehen ein kurzer Blick zum Publikumsgespräch mit Udo Kier, schon von Weitem ist klar: der Mann geniesst auch heute das Rampenlicht. Die vielen Zuschauer hängen gebannt an seinen Lippen. Da ich nur vorbeischaue, um gleich weiterzugehen, stehe ich hinten, und werde kurz zum Fokus von Kier, ein fröhliches „hallo dahinten“ gilt eindeutig mir. Wir haben uns für ein paar Sekunden das Rampenlicht geteilt.

 

Off-Stimmen

 

Laut Moderatorin, ist das Gemeinsame der heutigen Kurzfilme, dass sie alle von Wahrheit erzählen.Tatsächlich ist ihnen hauptsächlich der Einsatz einer Off-Stimme gemeinsam.

Songy Seans von Darezhan Omirbaev treibt das System dabei auf die Spitze. Ein Schüler, mal Zuhause, mal in der Schule, viel in Bussen und U-Bahnen unterwegs, und immer Stimmen aus dem Off. Anfangs wirkt das noch interessant, erinnert an die Engel in der U-Bahn in „Himmel über Berlin“. Aber mit der Zeit scheinen die Texte wichtiger zu werden, als das Bild, und der Film wird zäh anzuschauen und führt nirgendwo hin. In I’m the only one I wanna see von Lucia Martinez Garcia ist nicht ganz klar, was die Stimmen, die über einer erotisch tanzenden Frau liegen, darstellen sollen. Im Verlauf des Films scheinen sie, im Wesentlichen, böse, hasserfüllte und sexistische Internet Kommentare zu sein. Castells von Blanca Camell Galí fängt an mit einer Frau, die durch Barcelona geht, im Ohr die Stimme ihres französischen Liebhabers, den sie verlassen zu haben scheint. Eine Frau, die weggeht, um am Ende zurückkommen zu können, dazwischen viel katalanisches Lokalkolorit und einige flüchtige Liebschaften.
Misaligned von Marta Magnuska ist der einzige Animationsfilm in diesem Program. Wunderschöne Kohlezeichnungen, leicht verschwommen, schwebend, erzählen sie vom Nebeneinander eines Paars. Eine Lebensführung, die immer rasanter wird und in der die Figuren nicht zusammenkommen. Sehr schön.
Mulika von Masha Maene kombiniert wieder eine Off-Erzählstimme mit extrem spannenden, verrückten Bildern. Ein auf der Erde gestrandeter Astronaut, glitzernd und leuchtend geht er durch ein afrikanisches Dorf, Tradition und Science-Fiktion treffen aufeinander, zeigen Verbindendes. Die Zukunft der Vergangenheit, oder die Vergangenheit der Zukunft, Rettung ist eine Möglichkeit.

 

Dunkle Wolken
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Raus aus dem Kino, der Himmel ist schwarz, Wind ist aufgekommen und bringt die Leute zum kollektiven Aufatmen. Zu dick war die Luft bis jetzt. Ab in den nächsten Kinosaal, das mögliche Gewitter bleibt draussen.

 

 

Schwärzer als schwarz

 

Die Regisseurin Patricia Mazuy beschreibt vor der Vorführung ihren Film Bowling Saturne als die Auslotung des Schwarzen. Dem kann man am Ende uneingeschränkt zustimmen. Wenige Psychothriller sind so konsequent düster und offensichtlich brutal. Zwei Halbbrüder, die über lange Phasen der Geschichte echte Antagonisten sind, der eine Polizist, der andere Psychopath mit mörderischen Neigungen. Ein Film, in dem fast immer Nacht zu sein scheint, die wenigen Szenen bei Tag haben dafür innere Düsternis, und am Ende gibt es viele hässlich zugerichtete Leichen und viel Raum für alle Schattierungen von Schwarz.

 Der Regen hat diese Vorführung genutzt, um etwas Abkühlung zu bringen, und sich dann wieder verzogen, einem trockenen Abend auf der Piazza steht nichts im Weg.

Grosse Gefühle

 

Die Literaturverfilmung Where the Crawdads Sing von Olivia Newman beeindruckt in erster Linie durch die tollen Bilder einer traumhaft schönen Landschaft, und durch das Spiel der jungen Hauptdarstellerin, Daisy Edgar-Jones. Die Geschichte bietet ein Panorama an menschlichen Dramen. Prügelnder Familienvater, verlassenes kleines Mädchen, Vorurteile, Liebe, Verrat und ein möglicher Mord. Parallel montiert in Rückblenden und während der Gerichtsverhandlung hält der Film seine Spannung, liefert ganz grosse Gefühle und am Ende eine kleine gemeine Wendung, als Fussnote sozusagen. In den letzten Minuten fing es dann passenderweise an, leise zu regnen, aber nichts, was die Zuschauer hätte vertreiben können.

 

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