#Locarno77 Entscheidungen

 

(c) ch.dériaz

 

 

Filmglück – Filmpech?

 

Die Auswahl der Filme ist immer etwas beliebig und damit Glückssache.
Welche Filme kann man gemeinsam in einen Tag packen, gibt es Regisseure und Regisseurinnen, deren Filme man dringend sehen mag, klingt ein Titel vielversprechend? So weit war die Auswahl recht ok.
Auf der Piazza Grande war allerdings noch nichts wirklich Aufregendes, und so endete bisher jeder Abend mit freundlichem, aber kurzem Applaus. Da ist definitiv noch Luft nach oben.

 

Fremdbestimmt


Luce
von Silvia Luzi und Luca Bellino ist ein ungeheuer nervöser Film. Die Handkamera ist ständig in Bewegung, die Bildausschnitte fast immer extrem eng, dazu eine Geräuschkomposition, die einen zusätzlich nervös macht. All das reflektiert das Leben, das Innenleben der Protagonistin, einer jungen Frau, die in einer Lederfabrik am Fliessband arbeitet. Sie scheint eine innere Leere zu haben, etwas, das sie seit Kindheit sucht, was das genau ist, bleibt unbekannt. Aber als sie eine Drohne fliegen sieht, schickt sie ein Handy mit der Drohne über eine Mauer. Es folgen Anrufe, geflüstert, von einer Männerstimme. Ist das ihr Vater, den sie zu suchen scheint? Ist er im Gefängnis und wenn ja, warum? Nichts wird erklärt, sie lügt ebenso ins Telephon, wie vermutlich die flüsternde Stimme am anderen Ende. Eine dunkle Geschichte, nervös, dynamisch und auf merkwürdige Art angsteinflössend.
Luce fällt in die Kategorie Filmglück, dreimal verworfen, weil der Katalogtext eher nichtssagend ist, und dann passte er perfekt in eine Lücke im Tagesplan.

 

 

 

Locarno und die Stühle

Das wird keine grosse Liebe mehr!

 

 

Die einen, auf der Piazza, zerbrechen allabendlich, nicht viele, aber doch genug. Beim Spazio Cinema, wo alles auf Holzplanken steht, fallen seit letztem Jahr immer wieder Menschen mit ihren Stühlen um, weil die Stuhlbeine zwischen die Holzplanken rutschen, und schon liegt man unerwartet auf dem Rücken. Die Stühle in der grossen Multifunktionshalle La Sala quietschen bei jeder Bewegung.
Und alle Stühle sind irre unbequem, sodass man schon nach drei Tagen nicht mehr weiss, wie man sitzen soll.

 

 

Perspektiven


Wenn im Kurzfilmprogramm der schwächste Film immer noch gut ist.
Das heutige Programm umfasst vier Filme und alle sind von grossartig bis gut, was für eine Freude.

Der palästinensische Film UPSHOT von Maha Haj verschiebt die Perspektiven auf das, was die Geschichte zu erzählen scheint. Am Anfang eine Einblendung: Irgendwann in der Zukunft. In einem schönen Olivenhain sieht man älteres Ehepaar, er pflegt die Bäume, sie holt Eier bei den Hühnern. Sie essen gemeinsam, unterhalten sich über ihre erwachsenen Kinder. Streiten sogar ein wenig, der Vater bevorzugt dies, die Mutter jene, aber insgesamt scheinen ihre fünf Kinder wohlgeraten, mit Jobs und eigenen Familien. Man denkt sich: Kontext, Zukunft, ein palästinensisches Ehepaar redet wie andere Eltern auch. Eine Zukunft ohne Krieg und Konflikt. Doch dann erscheint ein Mann am Gartentor, ein Schulfreund des ältesten Sohns, und die Perspektive kippt nochmal, radikal und schmerzhaft. Tolle Kamera, die Frieden und Glück suggeriert, ruhiges Spiel und doch der Schockeffekt am Ende.

Sans Voix von Samuel Patthey ist ein fabelhafter Animationsfilm. Die Zeichnungen teilweise fast skizzenhaft, aber wenn man genau schaut, doch extrem komplex. Ein junger Mann, orientierungslos, zwischen fadem Alltag und nächtlichen Exzessen, bis ihm in der Umgebung Kinder zu denken geben.

WAShhh von Mickey Lai zeigt ein malaysisches Militärcamp, die Stube junger Frauen, multiethnisch. Und dann bricht die Kommandantin herein, zwingt die Frauen mitten in der Nacht, den Waschraum zu putzen und in allen Mülleimer zu checken, dass die Monatsbinden, die einzeln in Papier weggeworfen werden, vorher auch ausgewaschen wurden. Die eher ekelige Aufgabe scheint einen kulturell-religiösen Hintergrund zu haben, der nicht für alle Frauen von Belang ist. Alles sehr schön und in Schwarzweiss gedreht, auch wenn sich der tiefere Konflikt aus europäischer Sicht nicht ganz erzählt.

Gender Reveal von Mo Matton fängt friedlich, fröhlich an und endet als Splatter in poppigen Farben.
Drei genderfluide Personen auf einer sogenannten Gender Reveal Party. Sie fallen auf, sind bunt, grell und: definitiv non-binär. Die Stimmung bewegt sich zwischen amüsiert bis peinlich berührt, bis zum grossen Moment. Der Rauch, der das Geschlecht des Ungeborenen verraten soll, vergiftet die Gäste, der werdende Vater fällt mit einem Elektrogerät in ein Planschbecken, die Mutter stürzt auf eine Metallstange, spritzendes Blut inklusive. Am Ende verlassen drei verblüffte Menschen die Party. Rasant gespielt und gedreht, frech und sehr lustig.

 

Britischer Humor

 

Foul Evil Deeds von Richard Hunter ist etwas zäh, aber auch irgendwie komisch. In Episoden werden verschieden Typen, Familien, Freunde und ihre eher öden Leben vorgestellt. Immer in Häppchen, Schwarzblende, nächste Gruppe, Schwarzblende. So entschlüsselt sich die ganze Mittelmässigkeit, Boshaftigkeit und auch Achtlosigkeit der Figuren. So bringt der Pastor versehentlich die Katze des Nachbarn um, zwei Jugendliche verletzten ihren Kumpel mit einem Feuerwerkskörper und der biedere Finanzbeamte lässt sich bei einer Prostituierten auspeitschen. Was ins Auge fällt, ist die Auswahl der Bildästhetik, im 4:3 Format, mit einer Mini DV Kamera gedreht, erinnern die Bilder an Videos, die irgendwo in einer Schublade dem Vergessen entgegen dämmern. Diese raue Bildqualität gibt den Episoden etwas Verhuschtes, Privates und Voyeuristisches.

 

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

Endlich

 

Samstagabend, bereits bevor man ab 20 Uhr auf die Piazza Grande kann, sind richtig lange Warteschlangen an den Einlasspunkten, die Lust auf Kino scheint ungebremst.

Wie jeden Abend gibt es einen Ehrenleoparden, diesmal hat der zu Ehrende eine Reihe quietschender, johlender Fans angezogen: der Bollywoodstar Shah Rukh Khan. Charismatisch und eine echte „Rampensau“ übernimmt er die Bühne der Piazza, das ist schon beeindruckend. Das Quietschen steigert sich. Selbst als der Star schon abgegangen ist, der erste Film des Abends startet, hört man Fans im Hintergrund seinen Namen skandieren.

Mexico 86 von César Díaz ist ein Film über schwere Entscheidungen.
Guatemala Mitte der 70er Jahre, eine junge Mutter und politische Aktivistin gegen die Militärdiktatur sieht sich gezwungen ihr Land zu verlassen und ihren Säugling bei ihrer Mutter lassen. Sie flieht nach Mexiko. 10 Jahre später, Mexiko bereitet sich auf die kommende Fussballweltmeisterschaft vor, muss sie wieder schwere Entscheidungen treffen. Ihr Sohn kann nicht länger bei ihrer Mutter bleiben. Aber ihr bewaffneter Kampf gegen die Diktatur ist noch lange nicht vorbei, und die Agenten des Diktators sind ihr scheinbar auf der Spur. Ein toller Film, atmosphärisch dicht, spannend, erschütternd und mit einer fabelhaften Bérénice Béjo in der Hauptrolle.

 

Nicht den Faden verlieren

In Sew Torn von Freddy Macdonald, dem Mitternachtsfilm auf der Piazza, geht es auch um Entscheidungen, auf Leben oder Tod. Weniger ernst zwar, dafür um so rasanter, witziger, schräger und verrückter und blutiger. Barbara, eine junge Schneiderin, ist pleite, der Laden, den ihre verstorbene Mutter aufgebaut hat, geht pleite, sie wird dieses Lebenswerk und Zuhause verlassen müssen, wenn nicht ein Wunder geschieht. Auf einer Passstrasse stösst sie auf einen Drogendeal, der ordentlich schiefgegangen ist. Zwei halb tote Männer, ein Koffer mit Geld, Päckchen mit Drogen, alles vor ihren Füssen.
Die Möglichkeiten: Das perfekte Verbrechen begehen, die Polizei rufen oder weiterfahren. Der Film spielt alle Varianten durch, die alle eher sehr schlecht ausgehen. Aber bis dahin ist es einfach faszinierend, was man alles mit Nadel und Faden machen kann, um sich aus unmöglichen Situationen zu retten. Sew Torn ist einfach nur grossartig! Eher unwahrscheinlich, dass er den Publikumspreis gewinnt, aber die Zuschauer, die zur späten Uhrzeit noch da waren, waren begeistert.