#FilmFestival Solothurn 55_2

Spass beim Frühstück

Warten
(c) ch.dériaz

Jeden Morgen das gleiche Spektakel: ab 8:30 kann, nein könnte man für den Folgetag Filme reservieren. Aber zwischen schwachem Hotelnetz und Schwäche im Buchungssystem verbringt man leicht 40 Minuten, um für vier Filme Plätze zu reservieren. Bei jedem weiteren erfolglosen Versuch schwindet die Anzahl verfügbarer Sitzplätze, sprich: irgendwer hat es zwischenzeitlich geschafft zu reservieren! Freitagmorgen im Frühstücksraum: 3 Personen, die zwischen Croissants und Kaffee fluchend auf ihren Mobiltelephone oder Laptops stieren. Da ist eindeutig Verbesserungsbedarf.

 

 

Dafür ist sozusagen perfektes Kinowetter, der Nebel hängt tief über der Stadt und der Aare, keine Ausrede also, Kino ist die beste Beschäftigung.

Frühnebel
(c) ch.dériaz

 

Heimat fühlen

Die chinesische TV-Reporterin Yu Hao findet auf der Suche nach dem Ort, wo sie sich zugehörig fühlen kann, eine Postkarten-Schweiz. Alpenpanorama, friedlich grasende Kühe, Kostüme, Trachten und Traditionen. Und obwohl das alles auf eine moderne Chinesin befremdlich erscheinen sollte, findet sie genau dort ihre innere und äussere Heimat. Plötzlich Heimweh ist sehr persönlich, fast privat gestaltet, eine Art Tagebuch der Suche, bietet immer wieder kurze witzige, schräge Einblicke und Einsichten, über die Gesamtdauer fehlt dem Film aber der Pepp, den man anhand der Konstellation erwarten möchte. Das Publikum in der ausverkauften Halle war es trotzdem langen Applaus wert.

Regisseurin Yu Hao
(c) ch.dériaz

Die Filmtage habe immer wieder Programme, in denen sie zwei Filme, lange Kurz- oder mittlere Langfilme, zusammen zeigen. So bekommt man Filme zu sehen, deren Länge sich nicht an kommerzielle Maßstäbe halten, sondern die Länge haben, die für die Geschichte am besten ist. Und der Zuschauer kommt in den Genuss in einer Vorstellung verschiedene künstlerische Ausdrucksformen zu sehen. Im Doppelprogramm also: der Kurzspielfilm To the sea und der mittellange Dokumentarfilm No promised Land.

Ein wuchtiges Ereignis ist Julian M. Grünthals To the sea. Die wilde Küste Galiziens, eine Frau allein auf einem Fischerboot. In ihrem Blick eine wilde Entschlossenheit. Stück für Stück und ohne jeglichen Dialog entdeckt man etwas wahnhaftes in dieser Frau. Genaues wird sich auch am Schluss nicht geklärt haben, aber die Wucht der Bilder, das starke Spiel der Darstellerin und die phantastische Kamera reichen völlig aus, um Kinofreude zu erzeugen.
Rassismus macht vor keinem Land Halt. Und als Anfang der 1980er Jahre die UNO befand, dass der Zionismus rassistisch sei, entschied sich der Staat Israel äthiopische Jude, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, ins Land zu holen. Bis heute sind diese schwarzen, jüdischen Israelis aber marginalisiert, ausgegrenzt und erleben immer wieder Polizeigewalt. Die jetzige Generation versucht sich mit demokratischen Mitteln diesem Zustand zu widersetzen. Diesen mühevollen Kampf dokumentiert Raphael Bondys Film No Promised Land. Ein Film der nachdenklich macht.

In Paul Nizon- Der Nagel im Kopf von Chritoph Kühn erzählt der mittlerweile 90jährige Nizon von und aus seinem Leben. Er erzählt mit viel Witz, mit einer ordentlichen Portion Schalk, und das, obwohl sein Leben und noch mehr sein Schreiben eher poetische Düsternis beinhalten. Neben den rein erzählten Parts mit Nizon am Schreibtisch, mischt der Film alte Dokumentaraufnahmen und Spaziergänge durch Paris, Nizons Wahlheimat. Zunehmend erkennt man wie das, was wie ein reiner Bildteppich aussieht, inszenierte, zu Nizons Texten, Büchern und Erinnerungen, gestaltete Passagen sind. Das ist interessant, aber gegen Ende wirkt es dann etwas zu dick aufgetragen. Was unbestritten bleibt, ist das Porträt eines faszinierenden Schriftstellers.

Ganz amerikanisch kommt Inherit the Viper des Genfer Regisseurs Anthony Jerjen daher. Ein Kaff in der amerikanischen Provinz, gesichtslos, heruntergekommen, nichts los und auch nichts zu tun. Zwei Geschwister verdienen aber recht gut mit dem Dealen von Schmerztabletten, ein Familienunternehmen, bei dem die Schwester anscheinend alles im Griff hat und den „Betrieb“ lenkt. Alles läuft scheinbar perfekt, bis sich der jüngste Bruder in falsch verstandener Verehrung, mit ins Geschäft mischt. Der Rest ist ein sehr düsteres Drama ohne Gewinner. Klassisch gemachter Film mit guter Kamera und einem knurrenden Bruce Dern in einer Gastrolle.

Nächtlicher Nebel
(c) ch.dériaz

Der Nebel ist den ganzen Tag nicht gewichen, beste Bedingungen also noch ein Nocturne genanntes Program anzuschauen.
Im Katalog klingen alle Kurzfilme schräg, grell, lustig und wild, die Realität ist dann leider eher ernüchternd.
In Dragan’s Pack von Riccardo Bernasconi & Francesca Reverdito stellt sich ein Chihuaha Werwolf seiner Vergangenheit. Der Film hat einige witzige Einfälle, spielt mit genretypischen Versatzstücken, zerfällt aber dann doch bald in amateurhafte Albernheiten.
Snowciety von Kris Lüdi kontrastiert in schnellen Bildfolgen das St Moritz der Reichen und Schönen mit dem der lokalen Snowboard Jugend, zwei Welten auf engem Raum; kurzweilig.
Die Ankündigung verspricht sprechende Vulven, was Blue Vulvettes – Le sexe féminin existe von Camille de Pietro aber bietet sind Gespräche mit Vulven über Menstruation, Hexerei, Sex. Dass dabei jeweils eine Vulva umrahmt von einem Plüschvorhang quasi das Publikum „anspricht“ ist noch der beste Einfall, aber trotzdem zu wenig.
Le renard et l’oiselle von Frédéric Guillaume und Samuel Guillaume ist ein sehr hübscher Stopmotion Film von einem Fuchs, der ein Vögelchen grosszieht. Ein sehr schön gemachtes Märchen.
Und schliesslich Safe tour for a Jew von Amos Angeles und Velibor Barisic, eine etwas groteske Geschichte von einem jungen Mann, der in Berlin mit seinem Esel Touren für jüdische Besucher macht, um zu zeigen, wie sicher die Stadt ist. Teilweise witzig.

Ein vernebelter Festivaltag mit vielen Eindrücken, die meisten erfreulich.