#Locarno77 Machos und Einsiedler

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Gleichstellung

 

Zu den Neuerungen oder Neubetzungen gehören auch noch Sandy Altermatt, die neue Komoderatorin auf der Piazza Grande. Und, fast schon revolutionär, sagt erstmalig in der Geschichte des Festivals eine Frau allabendlich den Film an. Das Festival ist ganz weit vorne, was die Umsetzung von Gleichheit in der Postenbesetzung zwischen Männern und Frauen angeht. Auch die Jurys sind 50:50 bestellt, oder genauer gezählt: 9 Frauen, 8 Männer.
Neben den aktuellen Wettbewerbsprogrammen gibt es jedes Jahr Retrospektiven, dieses Jahr unter dem Titel 100 Jahre Columbia Pictures. Und eigentlich könnte man die 11 Festivaltage damit verbringen, „alte“ tolle Filmklassiker anzuschauen.

 

Lateinamerika zwischen Folklore und Machismo

 

Keine Wolke am blauen Himmel, hohe Sommertemperaturen, Zeit sich im Kino abkühlen zu gehen. Nochmals Open Doors, diesmal Kurzfilme:

Das Spektakulärste an Luciana Decker Orozcos Film ist wohl der Titel:
Lo que los humanos ven como sangre los jaguares ven como chicha. Aber da weder Blut noch Jaguare darin vorkommen, bleibt er für Uneingeweihte eher schwer verständlich. Der Film bietet ein Kaleidoskop an visuellen Effekten, die mit Analogfilm realisiert wurden. Es scheinen sich folkloristische Mythen und Sagen mit Bildern aus dem Hier und Jetzt zu vermischen, Fressen und Gefressenwerden scheint Thema zu sein. Aber so wirklich ersichtlich ist das alles nicht.

Sirena von Olivia De Camps erzählt den von Patriarchat und Machogehabe geprägten Alltag der Dominikanischen Republik. Sirena entdeckt, kurz vor ihrer Abreise in die USA, wo sie heiraten wird, dass ihr Vater ein Doppelleben führt, und ihre Mutter, auf Gott und die Bibel vertrauend, das alles klaglos hinnimmt. Ob Sirenas zukünftiges Leben anders verlaufen wird, lässt der Film relativ offen.

Der stärkste Film des Programms kommt aus Haiti. Twa fèy von Eléonore Coyette und Sephora Monteau erzählt von sexuellem Missbrauch, sexualisierter Gewalt gegen Frauen und der Untätigkeit der Gerichte, daran etwas zu ändern. Protagonisten sind Marionetten, die in realer Umgebung einen grausamen Alltag spielen. Die Verfremdung, die durch die Puppen entsteht, macht das Anliegen des Films umso stärker und die Gewalt noch unerträglicher.

Dragqueens in Guatemala berichten in De reinas y otros colores von Juan Herrera Zuluaga von ihrem Alltag. Auch hier ist die patriarchal- christlich dominierte Umgebung ein Problem für Menschen, die eigentlich nur einfach leben wollen.

 

 

 

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Das Schweigen im Wald

Bogancloch von Ben Rivers ist der bislang ungewöhnlichste Film. Gedreht in körnigem Schwarzweiss, das teilweise fast überlagert wirkt, lässt sich der Film Zeit, den Protagonisten Jake, einen kauzigen Einsiedler, zu porträtieren. Er lebt im ländlichen Schottland, auf einem Hof voller Krempel, umgeben von Wald. Die Kamera beobachtet, nähert sich selten wirklich dem Gesicht, lässt Jake tun, was Jake so tut, egal wie lange es dauern mag. Unterlegt einzig von Originalgeräuschen, manchmal von Musik, die Jake auf einem alten Ghettoblaster abspielt, darüber hinaus: nichts, keine Erklärung, keine Filmmusik, kein Kommentar. Damit entsteht eine Art Meditation auf Film, die im Publikum nicht immer gut ankam. Lange, sehr ruhige Passagen führen zu Unruhe, zu kurz aufblitzenden Handys und auch zu Menschen, die den Saal verlassen. Die, die bleiben, haben am Ende ihrer Freude über diesen sehr ungewöhnlichen Film durch lautes Klatschen und Bravo-Rufen zum Ausdruck gebracht. Formal bleibt ein – oder sind es zwei? – Fragen: die teils verbrannten oder zerstörten (Farb)Photos zwischendrin scheinen von Jakes früherem Leben zu erzählen, aber warum gibt es eine Einstellung in Farbe von Jake und seinem Hof? Ansonsten: wirklich sehr schön, und in seiner Ästethik aussergewöhnlich.

 

Terror

Gleich noch ein extrem toller Film: Les Enfants rouges von Lotfi Achour.
Der Film nach wahren Begebenheiten erzählt von zwei jungen Ziegenhirten, Cousins, in den tunesischen Bergen. Als sie sich zu weit in den Bergen herumtreiben, an Orten, wo das Gelände vermint ist, wo Terroristen herrschen und die Armee auch nicht gerade zimperlich ist, werden sie angegriffen. Nur einer überlebt den Angriff, und wird auch noch gezwungen, den abgetrennten Kopf des anderen zurück ins Dorf zu bringen. Traumatische Ereignisse für einen 13-jährigen. Trauer, Wut und die Unsicherheit, was er eigentlich gesehen hat, und was nicht, verfolgen ihn. Im Dorf wird überlegt und beraten, wie und ob der Körper aus den Bergen zurückgeholt werden kann und soll. Die exzellenten Bilder von Kameramann Wojciech Staroń bieten Landschaft in all ihrer Schönheit und Ruhe, dazwischen kurze explosive Dynamik und ruhige Gesichter mit spannenden Tiefenschärfen. Das Zusammenspiel der Bilder, der Spannung und des Spiels der jungen Darsteller ergibt einen packenden, ergreifenden und auch politischen Film. Der Film ist eine Koproduktion mit mehr Ländern, als man mal eben aufzählen kann, aber Filmemachen ist teuer und Filme so zu machen, wie man möchte, ist gleich noch teurer. Schön, dass sich so viele Koproduzenten gefunden haben.

Zauberlehrling

 

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Nach einem so weit sehr erfreulichen Tag steigt die Hoffnung, auch auf der Piazza einen wirklich tollen Film zu sehen. Electric Child von Simon Jaquemet liest sich im Katalogtext gut. Science-Fiction mit KI-Problematik und persönlichem Drama, das kann doch gut werden.

Die Geschichte startet vielversprechend, das Programmiergenie arbeitet im geschützten Rahmen einer grossen Firma an einer neuen, sich selbst entwickelnden (Spiele) Entität.
Der Druck, unter dem er steht, ist allerdings gross, die Chefin will Resultate, sonst werden Mittel gekürzt. Die Öffentlichkeit ist skeptisch, weil KI Gefahren bergen kann, die nicht überschaubar sind und die Regierung will eine Hintertür im Programm, um sicherzustellen, dass da nichts passiert, was unerwünscht oder gefährlich ist. Als sich dann herausstellt, dass sein frisch geborener Sohn einen Gendefekt hat, und er wohl seinen ersten Geburtstag nicht erleben wird, versucht er sein Programm so zu manipulieren, dass die KI nach einer Lösung oder Heilung für sein Kind sucht.
Dass das der erste fatale Fehler ist, erklärt sich von selbst.
Dennoch ist der Film über weite Strecken innerhalb dieser falschen Entscheidung plausibel, spannend und gut gemacht. Die Manipulationen fallen aber natürlich auf, die Rechner werden abgeschaltet und ab da driftet der Film weg und verliert an Glaubwürdigkeit. Das Hochsicherheitsareal kann wundersamerweise ganz einfach durch ein Gitter betreten werden, das freundlicherweise gleich in die „Eingeweide“ der Serverräume führt. Der Notstromgenerator, der nicht anspringt, lässt sich mit drei festen Fusstritten doch überreden, und das Programm kann neu gestartet werden. Kurzum, der Showdown, das Ende vermasseln den Film.
Dabei hat er wirklich sehr gute Momente, ist visuell ansprechend und auch originell gestaltet. Sehr schön ist zum Beispiel die Welt der KI generierten Figur, die für sich alleine auf einer Insel lebt und dem programmierten Lernprozess mit kindlicher Neugier folgt.
Trotzdem fragt man sich die ganze Zeit, wie kommen die aus der Geschichte noch raus? Und da ist genau das Problem, sie kommen nicht raus, nicht ohne Erzählstränge zu verlieren, nicht ohne absurde Ereignisse zu kreieren. Die gerufenen Geister wollen einfach nicht zurück in ihre Flaschen, weder innerhalb der Geschichte, noch auf der Ebene des Erzählens.