Filmrezeption im Wandel der Zeit
Statt eines Films zum Festivalstart, eine Diskussionsrunde der Reihe Fare Cinema zum Thema: Widerstand auf – und neben der Leinwand.
Wie gehen Filme oder eher Filmschaffende mit dem Thema Widerstand und der darin wohnenden Gewalt um? Wie ändert sich die Sichtweise auf widerständige Personen oder Gruppen? Was zeigt man, was lässt man weg? Und inwieweit beeinflussen ganz aktuelle Ereignisse die Arbeit an einem – fast fertigen– Film? Am Beispiel der Filme Autour du feu (Laura Cazador), La scomparsa di Bruno Breguet (Kathrin Plüss, Cutterin), Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste (Laurin Merz) zeigt sich, wie unterschiedlich manchmal identisches Archivmaterial durch den Schnitt wirkt. Man sieht aber auch, wie sich der Begriff Terrorist mit der Zeit verändert. Eine spannende Diskussion, die auch zeigt, wie politisch Film sein kann und dass trotzdem der hehre Wunsch, Filme mögen die Massen belehren, fallengelassen werden muss. Ersetzt wird dieser Wunsch durch die Hoffnung, bei Zuschauern wenigstens ein Nachdenken anzustossen.
Strom
Electric Fields von Lisa Gertsch ist ein schräger Episoden-Film. Und auch wenn er sich in seiner Gesamtheit nicht so recht erschliesst, ist er ein schönes Stück Kino-Arbeit. Ein Ensemble-Film, bei dem das Ensemble beim Drehen nie wusste, wohin der Film gehen wird. Anfangs sind die Episoden sehr kurz, sehr irre, und Elektrizität spielt eine absurde Hauptrolle. Mit jeder weiteren Episode ist die Spannung weniger eine elektrische, als ein Spannungsfeld, mal zwischen Mensch und Natur, mal zwischen Menschen, mal in Gedanken, aber immer geschieht in diesen Spannungsfeldern etwas Unerwartetes. Alle Geschichten eint das reduzierte, in schwarzweiss gedrehte 4:3 Bild und die Absurdität der Situationen. Wenn man sich dem hingibt, hat man ein witziges, unkonventionelles Kinoerlebnis.
Filmgeschichte
Die Reihe Histoires ist den Filmen der Praesens Film gewidmet, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiert, und somit die älteste noch aktive Filmproduktion der Schweiz ist. Zum Auftakt wird die restaurierte Fassung von Frauennot – Frauenglück von Eduard Tissé aus dem Jahr 1929 gezeigt. Aufgrund des Abtreibungsthemas wurde der Film damals gekürzt, verändert und sogar komplett verboten.
Leider fängt der Film extrem verspätet an, einerseits, weil immer mehr Zuschauer in den recht kleinen Saal wollen, andererseits, weil Frédéric Maire einen extrem interessanten, aber ausufernden Vortrag über die 100 Jahre der Praesens hält. Bemerkenswert auch, dass das Publikum nicht nur überwiegend weiblich ist, sondern grösstenteils in einem Alter, dass vermuten lässt, dass die Zuschauerinnen in den 70er Jahren aktives Interesse an der Frauenbewegung, und somit am Thema legaler Abtreibungen, hatten.
Der Film selbst mischt Wissenschaftsfilm, mit einem Hang zum Detail, mit dramatisierten Spielaufnahmen in Eisensteinscher Bild- und Schnittästhetik. Denn auch wenn Tissé für den Film als Regisseur und Kameramann zeichnet, zog Eisenstein zumindest teilweise im Hintergrund die Fäden; und Tissé war Eisensteins Kameramann.
Spannend an dem Film ist seine klare Sicht auf die sozialen, gesellschaftlichen und medizinischen Gründe, die zu ungewollten Schwangerschaften führten (und führen), die klare Positionierung für medizinisch begleitete Abbrüche, satt der damals weit verbreiteten Hinterhof-Abtreibungen. Ob es im Film am Ende doch noch eine Geburt zu feiern gibt, weiss ich nicht, um den nächsten Film zu sehen, musste ich kurz vor Schluss aus dem Saal huschen.
Politische Vertuschung oder Kriminalfall
Operation Silence – Die Affäre Flükiger von Werner Schweizer untersucht den Tod des Offizieranwärters Flükiger aus dem Fahr 1977. Im selben Jahr, ja fast zur gleichen Zeit, als der Soldat von einem Orientierungslauf nicht zurückkam, wurde in Deutschland Hans Martin Schleyer entführt, gingen im Berner Jura Separatisten genannte Aktivisten für einen von Bern unabhängigen Kanton Jura auf die Strasse, gab es auch an der Schweizer Grenze Festnahmen von RAF Terroristen. Vor diesem aufgeheizten Hintergrund gestaltete sich damals, wie heute, die Suche nach der Wahrheit um das Verschwinden im Grenzgebiet zwischen Jura und Frankreich mehr als schwierig. Alle Seiten in der Politik, Staatsanwaltschaft, Militär, aber auch Aktivisten, nutzten Schnipsel an Information als Beiweise für ihre Sache. Was auf der Strecke bleibt, ist die Aufklärung des Falls, der sowohl politisch motiviert sein könnte, als auch eine reine Zufallstat von internationalen Schmuggelbanden, denen der junge Mann versehentlich in den Weg gelaufen ist.
Werner Schweizer fährt sehr genau die Orte ab, spricht mit diversen Zeitzeugen, taucht in Polizeiakten und Archive ein. Er bringt ein spielerisches Element hinein, in dem er die Aussagen der drei Schwestern des Soldaten von einer Schauspielerin, in Form von gestellten situativen Interviews, sprechen lässt. Dadurch bekommt der Film eine gewisse Leichtigkeit, was bei der chaotischen Informationslage sehr guttut.
Während es am Morgen dauerhaft und scheusslich geregnet hat, fällt am frühen Abend plötzlich Schnee, genauso nass, aber hübscher anzusehen.
Veränderungen
Der Kohlebergbau geht, die Kumpel bleiben, aber was wird aus ihnen?
Mit genauem Blick, Geduld, Zeit und Können zeigen Christian Johannes Koch und Jonas Matauschek in Wir waren Kumpel die verschiedenen Phasen im Rückbau einer Kohlemine. Anfangs in phantastischen Bildern über- und untertage, später den Abbau, den letzten Arbeitstag, und wie fünf Bergleute mit der radikalen Veränderung ihres Alltags umgehen. Das Portrait ist gleichermassen witzig wie berührend und öffnet den Zuschauerblick auf eine eher wenig bekannte Welt. Wir waren Kumpel kommt ohne Kommentar und ohne redende Köpfe aus, und trotzdem kommen die Protagonisten zu Wort.
Ein sehr gelungener Dokumentarfilm, der lange und frenetisch beklatscht wurde.
Dieser erste Festivaltag gibt einen Eindruck auf die vielfältigen Möglichkeiten, die Filme haben, Wandel zu beschreiben, herbeizuführen und zu erfahren. Da passt auch der Schnee sehr schön, der das Bild der Stadt verwandelt.