#Locarno77 Beziehungen

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Die Luft köchelt

 

Bereits am Morgen steigen die Temperaturen auf hohe Werte jenseits der 25°, da ist es gut, wenn man schattige oder gekühlte Plätze findet, auch ausserhalb der Kinosäle. Glück haben alle, die einen Fächer besorgt haben.
Bewegte Luft kühlt, sofern man nicht zu schnell fächert.

 

 

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Schon im letzten Jahr stand nur noch sporadisch auf der Tafel, wie viele Besucher abends auf der Piazza waren. Dieses Jahr existiert die Tafel zwar noch, aber sie taugt nur mehr als schwarzer Spiegel, es gibt keinerlei Angaben mehr. Schade eigentlich. Samstag waren auf der Piazza Grande aber sicher die komplett möglichen 8.000 Besucher, die Abende davor waren vermutlich recht nah dran.

 

 

Freundschaften und Allianzen

 

Das heutige Kurzfilmprogramm ist deutlich weniger stark, was man allerdings immer spürt, ist das Herzblut, das in den Filmen steckt.
Das ist ein Anfang, der Rest kommt – hoffentlich – mit der Zeit.

Despre imposibilitatea unui omagiu (On the Impossibility of an Homage) von Xandra Popescu. Wie kann man einen ehemaligen Tänzer porträtieren, wenn dieser dauernd sagt, dass er so, aber so nicht, porträtiert werden kann. Wer bestimmt, wer ist der Künstler eines Werkes über einen Künstler? Am Ende entsteht dennoch ein Bild des ehemaligen Startänzers der Bukarester Oper.

Lux Carne von Gabriel Grosclaude ist ein schöner Animationsfilm über zwei Cousinen in einer heissen, trockenen, verlassenen Motela­nlage. Sehr reduzierte Zeichnungen, die die Stimmung in der Hitze, die Langeweile und die wachsende Gereiztheit trotzdem perfekt eingefangen.

Soleil gris von Camille Monnier zeigt eine etwas gruselige Vision in die Zukunft. Menschen, die Fleisch kaufen und essen wollen, müssen vorher einen Schlachthof– Schein machen. Je grösser das selbst geschlachtete Tier, desto umfangreicher die Menge Fleisch, die erworben werden kann. Eine junge Reporterin mit Dackel will mehr darüber wissen, und findet sich plötzlich allein mit einem Huhn in einem weiss gekachelten Raum.
Kühl und unheimlich.

400 Cassettes von Thelyia Petraki beleuchtet die Fragilität von Freundschaft und vermischt das mit philosophischen Betrachtungen. Nicht ganz klar, nicht wirklich interessant gestaltet.

1 hijo & 1 padre von Andrés Ramírez Pulido. Ein Junge, der in der Schule gehänselt wird, wehrt sich mit immer drastischeren Mitteln. Bevor er von der Schule fliegt, soll er an einem Vater-Sohn-Camp teilnehmen. Bloss, der Vater fühlt sich nicht zuständig. Stattdessen geht der Freund der Mutter mit, selber beständig Opfer blöder Kommentare. Eine sehr sensible erzählte Geschichte, die zeigt, dass auch unwahrscheinliche Verbindungen funktionieren können.

 

 

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Menschen und Orte

 

Ein Regisseur beobachtet seine Stadt, seine Mitmenschen und erzählt dabei – ein bisschen– eine Geschichte.

Holy Electricity von Tato Kotetishvili ist vordergründig die Geschichte von zwei Typen, Onkel und Neffe, die sich mehr schlecht als recht am Leben halten, in dem sie auf Schrottplätzen nach Verkaufbarem stöbern.
Der wirkliche Protagonist ist aber die Stadt Tiflis und ihre Bewohner: laut, seltsam, etwas verrückt. Erzählt wird alles in Totalen, mal etwas näher, mal weiter, aber immer total, dadurch entsteht ein dokumentarischer, beiläufiger Charakter.
Aber auch die fiktiven Figuren (alles Laiendarsteller) haben eigenwillige Hintergründe. Der Onkel entpuppt sich als Transmann, der obendrein Stress mit Geldeintreibern hat. Der Neffe verliebt sich zum ersten Mal, weiss aber nicht so recht, wie ihm geschieht. Und gemeinsam versuchen sie selbstgemachte leuchtende Kreuze zu verkaufen, um doch noch zu Geld zu kommen. Dazwischen skurrile, schrullige Figuren, die eher aus dem echten Leben stammen, als aus der Feder des Regisseurs. Eigenwillig.

 

Star

Nachtrag zum Bollywoodstar Shah Rukh Khan: das Publikumsgespräch musste, schon im Vorfeld, vom offen zugänglichen Spazio Cinema in eines der Kinos verlegt werden. Die kleine Strasse, in der das Rex liegt, war vor und während des Gesprächs an beiden Seiten durch mobile Gitter abgesperrt. Vermutlich, um einen Aufstand der übermütigen Fans zu verhindern. So viel Starkult ist wirklich selten in Locarno.

 

 

 

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Unterdrückung

 

Die Luft steht immer noch, es ist drückend heiß.
Dann heisst es, tief Luft holen für den fast dreistündigen Film auf der Piazza.

Mit grossem Beifall und grosser Begeisterung wird am Abend der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof empfangen. Die Vorstellung zu seinem Film nutzen Giona A. Nazzaro und er zu einem Aufruf zu Freiheit und Demokratie.Rasoulof ist vor kurzem aus dem Iran geflohen, um einer möglichen Verhaftung zu entgehen.

Sein Film The Seed of the Sacred Fig ist ganz klar politisch positioniert.
Die Geschichte eines Ermittlers der iranischen Justiz und seiner Familie ist spannend erzählt, zeigt im Mikrokosmos Familie, wie repressive Politik funktioniert. Zeigt Bespitzelung, Angst, Paranoia, aber auch Zivilcourage und Opposition.
Einziger Nachteil des Films: er ist mit 167 Minuten einfach zu lang. Die Positionen, selbst die Entwicklungen der Figuren sind relativ schnell und klar gezeichnet, und dann dauert es bis zum wirklich spannenden Showdown einfach furchtbar lang.

#Locarno77 Entscheidungen

 

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Filmglück – Filmpech?

 

Die Auswahl der Filme ist immer etwas beliebig und damit Glückssache.
Welche Filme kann man gemeinsam in einen Tag packen, gibt es Regisseure und Regisseurinnen, deren Filme man dringend sehen mag, klingt ein Titel vielversprechend? So weit war die Auswahl recht ok.
Auf der Piazza Grande war allerdings noch nichts wirklich Aufregendes, und so endete bisher jeder Abend mit freundlichem, aber kurzem Applaus. Da ist definitiv noch Luft nach oben.

 

Fremdbestimmt


Luce
von Silvia Luzi und Luca Bellino ist ein ungeheuer nervöser Film. Die Handkamera ist ständig in Bewegung, die Bildausschnitte fast immer extrem eng, dazu eine Geräuschkomposition, die einen zusätzlich nervös macht. All das reflektiert das Leben, das Innenleben der Protagonistin, einer jungen Frau, die in einer Lederfabrik am Fliessband arbeitet. Sie scheint eine innere Leere zu haben, etwas, das sie seit Kindheit sucht, was das genau ist, bleibt unbekannt. Aber als sie eine Drohne fliegen sieht, schickt sie ein Handy mit der Drohne über eine Mauer. Es folgen Anrufe, geflüstert, von einer Männerstimme. Ist das ihr Vater, den sie zu suchen scheint? Ist er im Gefängnis und wenn ja, warum? Nichts wird erklärt, sie lügt ebenso ins Telephon, wie vermutlich die flüsternde Stimme am anderen Ende. Eine dunkle Geschichte, nervös, dynamisch und auf merkwürdige Art angsteinflössend.
Luce fällt in die Kategorie Filmglück, dreimal verworfen, weil der Katalogtext eher nichtssagend ist, und dann passte er perfekt in eine Lücke im Tagesplan.

 

 

 

Locarno und die Stühle

Das wird keine grosse Liebe mehr!

 

 

Die einen, auf der Piazza, zerbrechen allabendlich, nicht viele, aber doch genug. Beim Spazio Cinema, wo alles auf Holzplanken steht, fallen seit letztem Jahr immer wieder Menschen mit ihren Stühlen um, weil die Stuhlbeine zwischen die Holzplanken rutschen, und schon liegt man unerwartet auf dem Rücken. Die Stühle in der grossen Multifunktionshalle La Sala quietschen bei jeder Bewegung.
Und alle Stühle sind irre unbequem, sodass man schon nach drei Tagen nicht mehr weiss, wie man sitzen soll.

 

 

Perspektiven


Wenn im Kurzfilmprogramm der schwächste Film immer noch gut ist.
Das heutige Programm umfasst vier Filme und alle sind von grossartig bis gut, was für eine Freude.

Der palästinensische Film UPSHOT von Maha Haj verschiebt die Perspektiven auf das, was die Geschichte zu erzählen scheint. Am Anfang eine Einblendung: Irgendwann in der Zukunft. In einem schönen Olivenhain sieht man älteres Ehepaar, er pflegt die Bäume, sie holt Eier bei den Hühnern. Sie essen gemeinsam, unterhalten sich über ihre erwachsenen Kinder. Streiten sogar ein wenig, der Vater bevorzugt dies, die Mutter jene, aber insgesamt scheinen ihre fünf Kinder wohlgeraten, mit Jobs und eigenen Familien. Man denkt sich: Kontext, Zukunft, ein palästinensisches Ehepaar redet wie andere Eltern auch. Eine Zukunft ohne Krieg und Konflikt. Doch dann erscheint ein Mann am Gartentor, ein Schulfreund des ältesten Sohns, und die Perspektive kippt nochmal, radikal und schmerzhaft. Tolle Kamera, die Frieden und Glück suggeriert, ruhiges Spiel und doch der Schockeffekt am Ende.

Sans Voix von Samuel Patthey ist ein fabelhafter Animationsfilm. Die Zeichnungen teilweise fast skizzenhaft, aber wenn man genau schaut, doch extrem komplex. Ein junger Mann, orientierungslos, zwischen fadem Alltag und nächtlichen Exzessen, bis ihm in der Umgebung Kinder zu denken geben.

WAShhh von Mickey Lai zeigt ein malaysisches Militärcamp, die Stube junger Frauen, multiethnisch. Und dann bricht die Kommandantin herein, zwingt die Frauen mitten in der Nacht, den Waschraum zu putzen und in allen Mülleimer zu checken, dass die Monatsbinden, die einzeln in Papier weggeworfen werden, vorher auch ausgewaschen wurden. Die eher ekelige Aufgabe scheint einen kulturell-religiösen Hintergrund zu haben, der nicht für alle Frauen von Belang ist. Alles sehr schön und in Schwarzweiss gedreht, auch wenn sich der tiefere Konflikt aus europäischer Sicht nicht ganz erzählt.

Gender Reveal von Mo Matton fängt friedlich, fröhlich an und endet als Splatter in poppigen Farben.
Drei genderfluide Personen auf einer sogenannten Gender Reveal Party. Sie fallen auf, sind bunt, grell und: definitiv non-binär. Die Stimmung bewegt sich zwischen amüsiert bis peinlich berührt, bis zum grossen Moment. Der Rauch, der das Geschlecht des Ungeborenen verraten soll, vergiftet die Gäste, der werdende Vater fällt mit einem Elektrogerät in ein Planschbecken, die Mutter stürzt auf eine Metallstange, spritzendes Blut inklusive. Am Ende verlassen drei verblüffte Menschen die Party. Rasant gespielt und gedreht, frech und sehr lustig.

 

Britischer Humor

 

Foul Evil Deeds von Richard Hunter ist etwas zäh, aber auch irgendwie komisch. In Episoden werden verschieden Typen, Familien, Freunde und ihre eher öden Leben vorgestellt. Immer in Häppchen, Schwarzblende, nächste Gruppe, Schwarzblende. So entschlüsselt sich die ganze Mittelmässigkeit, Boshaftigkeit und auch Achtlosigkeit der Figuren. So bringt der Pastor versehentlich die Katze des Nachbarn um, zwei Jugendliche verletzten ihren Kumpel mit einem Feuerwerkskörper und der biedere Finanzbeamte lässt sich bei einer Prostituierten auspeitschen. Was ins Auge fällt, ist die Auswahl der Bildästhetik, im 4:3 Format, mit einer Mini DV Kamera gedreht, erinnern die Bilder an Videos, die irgendwo in einer Schublade dem Vergessen entgegen dämmern. Diese raue Bildqualität gibt den Episoden etwas Verhuschtes, Privates und Voyeuristisches.

 

 

 

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Endlich

 

Samstagabend, bereits bevor man ab 20 Uhr auf die Piazza Grande kann, sind richtig lange Warteschlangen an den Einlasspunkten, die Lust auf Kino scheint ungebremst.

Wie jeden Abend gibt es einen Ehrenleoparden, diesmal hat der zu Ehrende eine Reihe quietschender, johlender Fans angezogen: der Bollywoodstar Shah Rukh Khan. Charismatisch und eine echte „Rampensau“ übernimmt er die Bühne der Piazza, das ist schon beeindruckend. Das Quietschen steigert sich. Selbst als der Star schon abgegangen ist, der erste Film des Abends startet, hört man Fans im Hintergrund seinen Namen skandieren.

Mexico 86 von César Díaz ist ein Film über schwere Entscheidungen.
Guatemala Mitte der 70er Jahre, eine junge Mutter und politische Aktivistin gegen die Militärdiktatur sieht sich gezwungen ihr Land zu verlassen und ihren Säugling bei ihrer Mutter lassen. Sie flieht nach Mexiko. 10 Jahre später, Mexiko bereitet sich auf die kommende Fussballweltmeisterschaft vor, muss sie wieder schwere Entscheidungen treffen. Ihr Sohn kann nicht länger bei ihrer Mutter bleiben. Aber ihr bewaffneter Kampf gegen die Diktatur ist noch lange nicht vorbei, und die Agenten des Diktators sind ihr scheinbar auf der Spur. Ein toller Film, atmosphärisch dicht, spannend, erschütternd und mit einer fabelhaften Bérénice Béjo in der Hauptrolle.

 

Nicht den Faden verlieren

In Sew Torn von Freddy Macdonald, dem Mitternachtsfilm auf der Piazza, geht es auch um Entscheidungen, auf Leben oder Tod. Weniger ernst zwar, dafür um so rasanter, witziger, schräger und verrückter und blutiger. Barbara, eine junge Schneiderin, ist pleite, der Laden, den ihre verstorbene Mutter aufgebaut hat, geht pleite, sie wird dieses Lebenswerk und Zuhause verlassen müssen, wenn nicht ein Wunder geschieht. Auf einer Passstrasse stösst sie auf einen Drogendeal, der ordentlich schiefgegangen ist. Zwei halb tote Männer, ein Koffer mit Geld, Päckchen mit Drogen, alles vor ihren Füssen.
Die Möglichkeiten: Das perfekte Verbrechen begehen, die Polizei rufen oder weiterfahren. Der Film spielt alle Varianten durch, die alle eher sehr schlecht ausgehen. Aber bis dahin ist es einfach faszinierend, was man alles mit Nadel und Faden machen kann, um sich aus unmöglichen Situationen zu retten. Sew Torn ist einfach nur grossartig! Eher unwahrscheinlich, dass er den Publikumspreis gewinnt, aber die Zuschauer, die zur späten Uhrzeit noch da waren, waren begeistert.