Taschenkontrollen
Kontrollen werden in Locarno ernst genommen, das heisst, dass sowohl Impfbelege als auch Testnachweise nicht nur gescannt werden, sondern es werden auch wirklich die dazu gehörenden Ausweise geprüft. So kramt man ständig in Taschen oder Rucksäcken nach nach dem, was gerade vorgezeigt werden soll. Dafür sind diese Taschen dann wieder Objekt der Kontrolle und da wird dann der Ernst doch etwas übertrieben.
Selbst wenn man die Sinnhaftigkeit von Taschenkontrollen nicht in Frage stellt, dass man immer wieder über einzelne Trinkflaschen oder sonstigen Tascheninhalt „diskutieren“ muss, ist nervenaufreibend. Neueste Idee der Kontrollierer: Rucksäcke abgeben lassen.
Nein, so geht das nicht!
Die Reaktion auf die Weigerung brachte dann eine genaue Untersuchung des Tascheninhalts und der Rucksack durfte mit ins Kino.
Kurzfilme, wild
Neues bei den Kurzfilmen: Eine neue Sektion corti d’autori, also Kurzfilme von schon erfolgreichen Filmemachern, wurde ins Leben gerufen. Und seit diesem Jahr werden die nationalen und internationalen Kurzfilme nicht mehr in getrennten Programmen gezeigt , sondern gemischt mit den corti d’autori vorgeführt. Das erhöht das Sehvergnügen und die Vielfalt der einzelnen Programme.
Diese erste Auswahl ist insgesamt sensationell:
Caricaturana des Berlinale Siegers Radu Jude nimmt eine Idee Eisensteins bezüglich Daumiers Karikaturen auf, und baut daraus eine filmische Variation zum Thema Bewegung und Kontext. Sehr witzig und gewitzt.
Steakhouse von Špela Čadež ist ein böser Animationsfilm über (eheliches) Miteinander, das sich als toxisches Gegeneinander herausstellt. Schön gezeichnet, zunächst in Ellipsen und Parallelmontagen erzählt, um dann einer Art Horrorfilmmontage zu weichen.
In flow of words von Eliane Esther Bots ist ein einfühlsam erzählter Dokumentarfilm über Simultandolmetscher im Den Haager Tribunal. Essayistisch gestaltet, mit eigenwilliger Visualisierung der Einsichten und Ansichten der Dolmetscher. Und dabei auch ein Stück europäische Geschichte.
Es muss von Flavio Luca Marano und Jumana Issa erzählt von einer Frau, deren Tag alles andere als gut läuft. Kurz vor der Pensionierung wird sie entlassen, die Polizei hält sie wegen einer Nichtigkeit an, und summiert dann noch weiterer Fehler dazu; als wäre das noch nicht genug, folgt am Ende des Tages der Verlust des Solistenparts im Chor. In Summe: ein Scheisstag, mit einem schrägen, coolen Ende.
Les Démons de Dorothy von Alexis Langlois fährt alles auf, was man sich an Stereotypen zu lesbischen Gore-Porn-Horror-Filmen so ausdenken kann, nutzt alle visuellen, kostümbildnerischen und Maskentricks und schickt die arme titelgebenden Dorothy in einen Albtraum. Der Albtraum wohl vieler Filmemacher, die jenseits des Allgemeintauglichen Geschichten erzählen wollen. Ganz grossartig.
Heilige, Sünder und der Kommunismus
Definitiv so weit ein toller Festivaltag mit wirklich spannenden und ungewöhnlichen Filmen.
Auch Nebesa von Srdjan Dragojević reiht sich nahtlos ins filmische Vergnügen.
Der Film ist barock, böse und blasphemisch!
Die Geschichte spannt sich von 1993 bis 2026 – zählt der Film damit schon zum Sciencefiction Genre? – und fängt zunächst brüllend komisch an. Der liebenswerte, freundliche und kriegsvertriebe Stojan lebt mit Frau und Tochter in ärmlichsten Verhältnissen, bis ihm beim Wechseln einer Glühbirne plötzlich ein Heiligenschein wächst.
Die Nachbarn wittern den Teufel oder werfen sich vor dem frisch gebackenen Heiligen auf die Knie, die einzige Lösung den Heiligenschein loszuwerden, scheint: sündig werden. Leichter gesagt als getan. Bis es dann plötzlich doch sehr leicht wird, und damit das ganze Komödiantische ins Böse kippt. Ein Märchen über Gier, (Aber)Glauben, eine Welt in Veränderung, bevölkert von skurrilen Figuren, wahren und falschen Heiligen, und Realitäten, die instabil und unzuverlässig sind. Ein komplexes Weltbild, das man sich leicht ein zweites Mal ansehen kann. Und Heiligenschein wird man selbst dann nicht mehr los, wenn man sich in einen ausgemachten Dreckskerl verwandelt hat.
Selbstwahrnehmung
Auf der Piazza Grande, diesmal ohne Regen, der französische Film Rose von Aurélie Saada. Die Geschichte einer Frau – Mutter und Grossmutter – die mit 78, nach dem Tod ihres Mannes, lernt, sich aus sich selbst heraus zu definieren. Die Befreiung von Zwängen und das Ichwerden hat nette und lustige Seiten, aber insgesamt stellt sich doch die Frage, warum alte Frauen, die sich herausnehmen, „egoistisch“ zu werden, im Film immer auf Opposition der Familie treffen. Und warum müssen diese Geschichten fast immer in Form eher sanfter Komödien erzählt werden? Es wird Zeit für starke Frauenfiguren, auch jenseits der 70, die vielleicht auch mal richtig auf den Tisch hauen, „Ich“ sagen und ernstgenommen werden (dürfen).
Die Stühle, die auf der Piazza jeden Abend verlässlich und laut zerbrechen, scheinen einen feinen Sinn für Humor zu haben, und wählen gerne dramaturgische Pausen, um sich krachend zu zerlegen.
Sommerstimmung
Einige Änderungen in Locarno sind wirklich schade, so wurde zum Beispiel das Forum Spazio Cinema, zwischen den grossen Mehrzweckhallen-Kinos, zurückgebaut. Was heisst, dass man in dieser Ecke so gut wie keine Möglichkeit mehr hat sich irgendwo halbwegs zivilisiert hinzusetzen. Die Zeit zwischen zwei Vorstellungen reicht aber nicht immer, wieder stadteinwärts zu gehen, so bleiben nur Wiesen in der prallen Sonne (oder im Regen), Bordsteinkanten und einige wenige Steinbänke. Auch ein Austausch mit anderen Festivalbesuchern wird so schwieriger. Gut ist hingegen, dass es endlich ein halbwegs verlässliches öffentliches WLAN gibt, für Besucher ohne Schweizer Handyvertrag nicht unerheblich.
Brüder
Ein sehr starker Erstlingsfilm ist Il legionario von Hleb Papou. Der Film vereint Bruderzwist, Rassismus in den Reihen der Polizei und Sozialkritik und macht daraus ein packendes Drama. Als einziger Schwarzer der Bereitschaftspolizei muss sich Daniel mehr behaupten, besser sein, und den Regeln mehr genügen als seine Kollegen. Gleichzeitig ist er aber auch in einem, seit 16 Jahren besetzten und selbstverwaltetem Haus aufgewachsen, in dem immer noch seine Mutter und sein Bruder leben. Er steht emotional und professionell zwischen den Fronten. Die Kamera zeigt diesen Konflikt in sehr nahen Aufnahmen, mit viel Hintergrundunschärfe, teilweise nervösen, schnellen Schnitten, teilweise bleibt sie lang auf Details oder Gesichtern und zieht den Zuschauer damit mitten in die Geschichte, lässt teilhaben am (Gewissens)Konflikt. Ein Film, der Nahe geht und nachdenklich stimmt.
Kurzfilme, komplex
Die zweite Runde der pardi di domani zeigt viele künstlerischen Einfälle, aber macht es teilweise trotzdem schwer den Geschichten zu folgen.
Hotel Royal von Salomé Lamas zeigt endlose Hotelflure, Hotelzimmer in verschiedenen Zuständen der Benutzung, darüber, im Off gesprochen, eine Art Szenenanweisung, die etappenweise in etwas konfuse Gedanken eines Teilzeitzimmermädchens abdriften. Die Bilder sind gut gewählt, durch die Wiederholung der Bildkomposition entsteht ein Sog, aber kein Verständnis.
Giochi von Simone Bozzelli zeigt die dunkle Seite vom Spielen. Ein kleiner Junge, der auf seine Mutter nicht mal reagiert, als diese zu ersticken scheint. Sein grosser Bruder, der von seinem Freund wissen will, was er an ein Mädchen aus einem Tanzkurs geschrieben hat. Beziehungen, die nicht so laufen, wie – mindest – eine Seite sie gerne hätte. Und dann ist da noch eine Katze, die zumindest für die Brüder die Emotionen bündelt.
Am spannendsten, auch visuell, ist Love, Dad von Diana Cam Van Nguyen. Teils Realbilder, teils Animation, eine Art digitaler Kollage, die wiederum ein Brief an den Vater ist. Ein Vater, der nur wirklich nah war, als er ein Jahr im Gefängnis verbrachte. Der Versuch einer Annäherung.
Auch die Figur in Chute von Nora Longatti sucht Nähe. Eine junge Frau, die immer wieder, scheinbar grundlos, umkippt. Im Verlauf sieht es aus, als würde sie gezielt in der Nähe von Menschen, die Stress haben, umkippen. Manche kümmern sich um die Gestürzte, andere gehen achtlos weg. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit in einer Stadt, die leer erscheint und keine Nähe zulässt. Besonders schön sind die Bewegungen im und um die Stürzte, eine tänzerische Leichtigkeit, die surreal wirkt.
In der Hitze des Wahnsinns
Der soweit schrägste und intensivste Film ist Soul of a beast von Lorenz Merz.
Bilder, Geschichte., Ausstattung, Schnitt, alles schreit laut: Wahnsinn!
Ein alleinerziehender Vater, selbst noch ein Kind, der sich immer wieder kleine Ausbrüche in ein „normales“ Teenagerleben sucht, ein Leben, in dem Adrenalin und schwachsinniges Risiko dominieren. Ein Sommer, in dem die Welt aus – eventuell – kosmischen Gründen durchdreht, und eine neue Liebe, die eine Jungsfreundschaft und das ganze fragile Lebensgebilde auseinanderzureissen droht. Alles in hitzigen Bildern erzählt, oft mit hektischer, Kamera, immer wieder sehr dichte Nahaufnahmen, ein wilder, zunehmend durchdrehender Schnittrhythmus. Wild, wahnsinnig, sensationell, wenn auch an einigen Stellen etwas zu sehr ins Esoterische kippend. Atemlos.
Traumata und Rache
Was, neben der soweit sehr schönen Filmauswahl, am neuen künstlerischen Leiter Nazzaro auffällt, ist die entspannte Selbstverständlichkeit, mit der er auf der Bühne steht und agiert. Keine Scheu vor dem Publikum, kein sich Herantasten und erst Warmwerden, er scheint vom ersten Tag an ganz Zuhause zu sein auf der Bühne, und ist dabei freundlich, kompetent und vielsprachig .
Hinterland von Stefan Ruzowitzky ist der erste wirklich grosse Film auf der Piazza. Ein wuchtiges Werk, das die grosse Leinwand wirklich nutzt. Angesiedelt im Jahr 1920 zeigt der Film eine kleine Gruppe Kriegsheimkehrer, zerlumpt, verwundet, nach zwei Jahren Gefangenschaft gebrochen. Sie kommen in eine Welt, die nicht mehr die ist, aus der sie aufgebrochen sind. Aber nicht die Traumata und das soziale Elend der Zwischenkriegszeit sind das Thema, sondern die Ermittlung um einen grausamen Serienmörder, der es allem Anschein nach auf Kriegsheimkehrer abgesehen hat. Die solide, spannende Krimi-und Rachegeschichte ist aber nur ein Teil, der den Film so beindruckend und gewaltig macht. Der andere Teil ist das visuelle Konzept, ein nachgebautes, gemaltes, computergestaltetes Wien, das aussieht, als hätten sich Egon Schiele und Marc Chagall zusammengesetzt, um es zu malen. Häuser, Türme, Strassenschluchten, nichts ist gerade, alles kippt und fällt, wie schlechte Zähne, oder wie sich die Welt für die traumatisierten, verwirrten Soldaten sich anfühlen muss. Die dadurch entstehende Künstlichkeit der Szenen gibt dem Film etwas, das die reine Krimigeschichte nicht hätte. Sehr beeindruckend.
Cinema is back steht vor jedem Film kurz auf der Leinwand. Was die ersten Tage in Locarno angeht, stimmt das sicher. Ins Kino gehen, in all seinen Facetten ist wieder machbar.