Wer sich unter Programmkino einen eher kleinen, „handgestrickten“ Betrieb vorstellt, kennt das Wiener Gartenbaukino noch nicht. Das Kino ist nicht nur gross, sondern auch ein Stück Kinogeschichte, ein Kinodenkmal der 1960er Jahre.
An derselben Stelle am Parkring 12 stand bereits 1919 ein Kino. Das Gartenbaukino, in seiner jetzigen Form, feierte seine Premiere – man gab Spartakus in Anwesenheit von Kirk Douglas – 1960 dann im Neubau und ist seitdem seinem Stil treu geblieben.
Schon im Eingangsbereich wähnt man sich in einer Zeitschleife, bunt gekachelte Wände, rot gepolsterte Sofas, eine mächtige Treppe, die in den Barbereich führt, ein langer Gang, wie in einem Stadion, um in den Saal zu kommen.
Der Saal fasst heute 736 Besucher und wirft einen noch ein Stück tiefer in den seltsamen Charme der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein.
Das alles sind aber natürlich nur Randbemerkungen, denn das Kino bietet nicht nur moderne, digitale Abspieltechnik, sondern kann Filme sowohl in 35 mm als auch in 70 mm analog projizieren.
Monumentalfilme wie 2001: A Space Odyssey und Westside Story wurden in 70 mm gezeigt, sowie Tarantinos The H8teful Eight, in der 70 mm Roadshow-Version. Sein aktueller Film Once upon a time … in Hollywood wird in 35 mm vorgeführt.
Selbstredend laufen alle Filme in Originalversion.
Das Gartenbaukino ist nicht nur Programm-, sondern auch Premieren- und Festivalkino (Viennale und /Slashfilm), es ist DAS Kino um grosse „Schinken“ zu sehen oder wiederzusehen.
Gerade gab es, allerdings nur genau zweimal, die letzte Version von Apocalypse Now – The Final Cut zu sehen, mächtig, laut, immer noch beeindruckend und in diesem Saal perfekt in Szenen gesetzt.
Und wer für Kinofilme wirklich nichts übrig hat, kann immer noch, während der Hauptfilm läuft einfach die Bar besuchen.
Tag drei, die Wolken hängen drohend über Locarno, im Kino dagegen Sommerstimmung in einer amerikanischen Kleinstadt. Ham on Reye von Tyler Taormina ist ein erstaunlicher Erstlingsfilm. Gut das erste Drittel des Films ist überwiegend in Nah- und Detailaufnahmen erzählt, Gesichter, kurze Bewegungen, sehr schnell versteht man, eine Stadt bereitet sich vor. Dann sticht eine Gruppe hervor aus der Vorbereitung, mehr und mehr fokussiert sich der Blick auf eine Gruppe etwa 17-Jähriger. Bewegungen, Gesten, Ausdrücke, kurze Dialogfetzen, eine Art Ritual steht bevor. In manchen Momenten wirkt der Film, als wollte er in experimenteller Form vom Balz- und Initiationsritus unter Teenagern berichten. Bis die Jugendlichen plötzlich wie magisch aus dem Film verschwinden. Der Film wechselt ab da etwas seine Form, bleibt aber in fast abstrakten, seltsam entrückten Betrachtungen des Geschehenen im Ort, und wandelt sich zu einer Allegorie vom Verlassen des Gewohnten, vom Erwachsenwerden, vom ritualisierten Zwang das Nest zu verlassen. Eigenwillig, lustig, und eine originelle Erzählform.
Vor dem grossen Fevi Kino eine unüberschaubare Menge Menschen, die sich langsam in den 2800 Plätze grossen Saal schiebt, um Yokogao (A girl missing) von Koji FUKADA zu sehen. Der Film erzählt wie mediale Sippenhaft, verschmähte Liebe und gedankenlos Erzähltes ein Leben komplett aus der Bahn werfen können. Zunächst spielt der Film in zwei Zeitebenen, eine Frau lässt sich eine neue Frisur machen, beiläufig hört man, dass sie ihr Leben ändern will. Dann die gleiche Frau als Krankenpflegerin bei einem Hausbesuch, sie scheint die personifizierte Hilfsbereitschaft und Nettigkeit zu sein, die Andere hingegen wirkt gehetzt, depressiv, einsam. Die beiden Zeitebenen nähren sich, bis sich der Hintergrund klärt: der Neffe der Krankenpflegerin hat eine Verwandte, der von ihr Gepflegten, entführt und möglicherweise vergewaltigt. Und in kleinen, unauffälligen Schritten bricht alles in sich zusammen. Sensationell in dieser, fast möchte man sagen, Doppelrolle: Mariko TSUTSUI, die beide Seiten so perfekt darstellt, dass man sie von einer Figur zur anderen fast nicht wiedererkennt. Merveilles à Montfermeil von Jeanne Balibar dagegen ist nur schlecht. Der Film will etwas wie eine absurde Politkomödie sein, ist dafür aber weder absurd genug, noch komisch genug, dafür chargiert eine grosser Stab an sich sehr guter Schauspieler 100 Minuten lang von der Leinwand runter; in der Pressevorführung haben ab etwa der 15. Minute Zuschauer den Saal verlassen.
Bereits um 11 Uhr morgens wurde angezeigt, dass die Piazza Grande am Abend für den neuen Tarantino Film ausverkauft ist. Das Gedränge an den Kontrollstellen war entsprechend beeindruckend, obwohl weiterhin schwere, dunkle Wolken jeden Moment mit Regengüssen drohten.
Zunächst aber wurde mit Claire Atherton eine Filmcutterin mit einem Leoparden geehrt. Selten genug kommt das vor und um so erfreulicher war es dann. Während ihrer Rede fing es zaghaft an zu tröpfeln, steigerte sich bei der, kurzen, Präsentation des Films, und pünktlich mit den ersten Bildern von Once uopn a time…. in Hollywood fing es dann an kurz aber heftig zu regen. Etwa 8000 Menschen raschelten mit Regenpelerinen, keiner schien auch nur annähernd willig zu sein den ergatterten Sitzplatz wieder aufzugeben. Belohnt wurde das mit einem knallbunten, schrägen Tarantino Film, randvoll mit Zitaten, Referenzen, Selbstreferenzen an allen Ecken, Witz, Tempo, einem lockeren Umgang mit historischen Fakten und, ja, auch viel Blut. Und der Regen war dann doch nicht so schlimm.
Liebespaare
Tag 4: Locarno gleicht mehr und mehr einer Waschküche, die Wolken hängen so tief, dass man meint, sie berühren zu können, dabei scheinen die Temperaturen täglich ein wenig zu steigen. Höchste Zeit gleich nach dem Frühstück wieder in einem Kino zu verschwinden.
Die dritte Aufführung von Douze Mille (12.000) von Nadège Trebal ist ausverkauft, eine Zusatzvorstellung bereits geplant. Die Beziehung der Figuren und der Rhythmus des Films scheinen einem Tanz zu folgen, einem flamencohaften, erotisch aufgeladenem Anziehen und Wegstossen, einem Gleichgewicht, das darauf basiert, dass jeder die Schritte kennt, und trotzdem die Freiheit hat, eigene Figuren einzubringen, sofern er die Regeln befolgt. Dass dabei dann eine Geschichte entsteht, die von Leidenschaft, Geld und sozialen Problemen erzählt, und dennoch die tänzerische Leichtigkeit erhalten bleibt ist unbeschreiblich elegant und unbeschreiblich schön.
Quer durch die Stadt und in die nächste Warteschlange für Bergmál (Echo) von Rúnar Rúnarsson. Kein Tanz eher einer Meditation über die Dinge des Lebens. Island in den Tagen vor Weihnachten bis kurz nach Silvester, einzelnen statische Totalen zeigen wie auf einer Bühne Lebenssituation, von Tod bis Geburt, von Streit bis Weihnachtssingen, Beiläufiges und Wichtiges, ein Bilderbogen des Seins, nicht speziell isländisch eher universell. Ein bisschen langweilig, aber auch irgendwie sehr beruhigend.
La Paloma y el Lobo von Carlos Lenin beeindruckt mit wunderschönen Bildern, verwirrt aber mit seiner Liebesgeschichte. Paloma und Lobo leben an irgendeinem Stadtrand, ein verfallenes Industriegebiet, zerstörter Beton, Eisenbahngleise, Lärm, Schmutz, keine Infrastruktur, kein fliessendes Wasser in der Wohnung. Eine Schwere scheint zusätzlich auf ihrer Beziehung zu liegen, dass beide dann noch ihr Jobs verlieren, macht die Probleme nicht geringer. Ein fast einsilbiger Film, spärliche Dialoge dafür mit Off-Texten, die zu Träumen und Erinnerungen zu gehören scheinen, insgesamt mehr Stimmung als Geschichte.
Am Abend keine Ehrenleoparden auf der Piazza. Dafür gibt es zwei Komödien hintereinander, Notre Dame von Valérie Donzelli und Die fruchtbaren Jahre sind vorbei von Natascha Beller. Beide Filme handeln von Frauen, die Beruf, Karriere, Kinder und altes, neues oder zu findendes Liebesleben jonglieren. Beide wurden eingeführt, als wären das endlich die lang ersehnten „weiblichen“ Komödien, bei denen ein anderes Frauenbild zelebriert wird, aber nein, es wäre auch zu schön gewesen. In beiden Fällen sind die Frauenfiguren irgendwie hektisch, chaotisch, überdreht, wollen vieles und verzetteln sich dabei häufig, und in beiden Filmen schwebt immer im Hinterkopf der sprichwörtliche Märchenprinz, der verlässlich dann auch eintrudelt. Einsprengsel von Zauberei, Sing- und Tanzeinlagen, aus dem Radio kommende Kommentare der Situation machen das dann auch nicht wett. Die Geschichten sind weder „modern“, noch wirklich lustig, egal wie überdreht die Figuren sind. Sie tauschen lediglich Kirche – Kinder – Küche gegen Kinder – Karriere – Kamasutra.