58.Solothurner Filmtage Erinnern

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Eisig

Der vorletzte Kinotag, eisiger Wind bläst, die Aare hat Wellen mit Schaumkrönchen, das ist malerisch, aber unwirtlich. Da klingt Kurzfilmprogramm Architektur doch recht verführerisch. Tatsächlich ist es im Kino aber kühl und die drei Filme des Morgens sind eher – na ja.

 

Beton

 

Ghost Fair Trade von Laurence Bonvin und Cheikh Ndiaye zeigt das Messegelände in Dakar. Ein Bau aus der Mitte der 70er Jahre, von französischen Architekten konzipiert, mit der Idee, archaische, senegalesische Formen als neue senegalesische Architektur zu etablieren. Der Ort wirkt unbelebt, das organische Äussere verbindet sich nicht mit dem Inneren, nicht mit der Nutzung und auch nicht mit den Geistern, die an diesem Platz zu Hause waren.
Sichtbeton mit Sicht auf Beton, wesentlich mehr an kreativer Idee steckt nicht in Cemento grezzo von Christian Balictan. Ein Parkhaus, von aussen, von innen, von innen nach aussen, von innen nach innen. Alles in einem Rhythmus, der keinem spürbaren Konzept folgt, dafür aber das irritierte Publikum zum Kichern und Hüsteln brachte. Ist ja auch schon was.
Am besten funktioniert Piazzale d’Italia von Enea Zucchetti.
Der Film suggeriert eine Art Turmbau zu Babel, bei dem der Bau eines festungsgleichen Casinos gezeigt wird. Sehr schön ist die Tondramaturgie, die mit Geräuschen so spielt, dass daraus Musik wird. Oder ist es umgekehrt? Einstellungen vom Bau und vom fertigen Gebäude blenden ineinander und zeigen, dass letztlich nur ein Geldgrab entsteht. Der Film hat einen schönen Fluss, ist intelligent konstruiert und erzählt mühelos, schwebend mehrere Ebenen.

 

 

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Knochen

 

The DNA Of Dignity von Jan Baumgartner ist der wohl sensibelste und berührendste Film zum Thema der Opfer-Identifizierung in Bosnien.
In sehr schönen, ruhigen Bildern zeigt er die vielen Schritte, die nötig sind, die Vermissten des Bosnienkriegs zu finden und zu identifizieren. Dass er dabei ohne Kommentar und redende Köpfe arbeitet, macht die Stärke des Films aus. Sparsam setzt er im Off Interviewpassagen ein, gesprochen nicht von den Protagonisten im Bild, wodurch ein professioneller Fluss in der Sprache, im Ton entsteht, ohne den Inhalt zu schmälern. Die Kamera beobachtet die minuziöse Arbeit der Forensiker, wie sie aus Knochenstücken und Fragmenten einen identifizierbaren Menschen rekonstruieren. Folgt einem Bauern in den Wald, der seit Jahren nach Stellen sucht, wo weitere Knochen zu finden sind, und zeigt eine Mutter, die immerhin einen ihrer beiden Söhne jetzt begraben kann. Aber immer noch sind tausende Vermisste nicht gefunden, nicht identifiziert. Und die Zeugen, die sagen könnten, wo man suchen muss, werden immer weniger.
Der Film ist nominiert für den Prix de Soleure und wäre absolut würdig, diesen Preis zu bekommen.

Wasser

 

Ein spanisches Dorf, Sommer, ausgelassene Freundinnen, und immer wieder alte Mythen, das ist der Hintergrund vor dem El Agua von Elena López Riera spielt.
Der Fluss im Dorf, ein dreckiges, stinkiges Gewässer, in dem keiner baden möchte. Aber der Fluss ist auch zentraler Teil des Dorfmythos, nach dem der Fluss sich immer wieder in junge Frauen verliebt, und sie mitnimmt. Diejenigen, die sich weigern, sich dem gierigen Verlangen hinzugeben, sind verantwortlich für die Zerstörung, die der wütende Fluss mithilfe des Regens bringt. Die junge Ana ist im Zentrum dieser sommerlich flirrenden Geschichte voller Aberglauben und unterschwelliger Frauenfeindlichkeit. Ein sehr stimmungsvoller Film, der um reale Naturkatastrophen mit altem Volksglauben eine neue Geschichte spinnt.

 

Technik entzaubert

 

Die Festival-App verweigert plötzlich den Dienst. Weder Bitten noch Betteln, in Techniksprache: Neuinstallieren und Handy Neustart, wollen helfen. Die App will mich nicht wiedererkennen, und damit auch nicht zeigen, welche weiteren Vorstellungen ich gebucht habe, oder wo ich da sitzen werde.
Nicht schlimm, geht alles auch ohne, ist aber lästig!

 

Rache

 

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The Land Within von Fisnik Maxville ist ein archaisch-dunkles Märchen von Wölfen, Heimat, Geheimnissen und Rache.
Ein junger Mann reist 2008 aus Genf zurück in den Kosovo. Stück für Stück zeigt sich ihm dort eine Welt voller Geheimnisse und Lügen. Parallel wird ein Massengrab im Dorf von internationalen Forensikern untersucht. Auf ihrer Einwohnerliste steht eine Frau, die auf keiner Liste von Familienangehörigen erwähnt wird. Wer ist die Frau? Wer ist die Frau auf einem Photo, von dem keiner etwas wissen will?
In Rückblenden und Erinnerungen decken sich immer mehr Teile auf, und damit geben dann auch im Jetzt immer mehr Leute ihr Wissen preis. Eine düstere Welt voller patriarchalisch-nationalistischer Bilder erscheint.
Und doch, am Schluss gibt es eine Art Befreiung, und ein Schimmer Hoffnung – vielleicht.

 

Fünfzehn sein


Benedetta ist 15 und rundlich, sehr zum Missfallen ihrer gertenschlanken Mutter. Das ist die Ausgangslage in
Calcinculo von Chiara Bellosi. Aber 15 sein heisst auch, jede Menge Dinge vermeintlich verstehen zu können. Als ein Jahrmarkt vor dem Haus der Familie aufgebaut wird, ändert sich durch einen sehr femininen und versponnen Schausteller Benedettas Leben und sie ist auf einmal bereit, mit radikalen Schritten aus ihrer Welt auszubrechen. Die Geschichte ist sehr feinfühlig erzählt und bringt einem das Mädchen mit all seinen verwirrenden Stimmungen nah. Schön gespielt, schön gedreht, ein Film der fliegt, wie das Kettenkarussell im Titel.