Locarno_2019 Eine kleine Vorschau

Locarno #72
(c) ch.dériaz

In knapp drei Wochen ist es soweit, am 7. August wird im Tessin die
72. Ausgabe des Filmfestivals Locarno mit dem Film Magari der italienischen Regisseurin und Produzentin Ginevra Elkann, eröffnet.

Nach drei Männern übernimmt mit Lili Hinstin wieder eine Frau die künstlerische Leitung des, nach Venedig und Moskau, ältesten Filmfestivals.

Auch in diesem Jahr werden – fast – allabendlich auf der Piazza Grande Ehren-Leoparden vergeben. In mehr oder weniger grosser Zeremonie vor den Abendfilmen bekommen, unter anderen, der Schweizer Regisseur und Drehbuchautor Freddy Murer, der Südkoreanische Schauspieler SONG Kang-ho, die Schauspielerin Hilary Swank und, begleitet von einigen seiner Filme in der Mitternachtsschiene der Piazza, John Waters, eine Leoparden Statuette.

Die für 2019 geplante Retrospektive Blake Edwards wurde auf Bitten des Blake Edwards Estate auf 2020 verschoben und die Retrospektive Black Light stattdessen vorgezogen. Das Programm soll nach der Idee des Kurators Greg de Cuir jr. einen historischen Querschnitt des internationalen Black Cinemas zeigen und die Werke von Filmschaffenden unterschiedlicher Herkunft in Dialog stellen. Das Programm spannt auf jeden Fall einen zeitlich interessanten Bogen von 1919 bis 2000 mit Within Our Gates (1919) von Oscar Micheaux, über Jarmusch’s Ghost Dog, zu Christopher Harris‘ still/here (2000).

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Hinstins erstes Programm wurde heute in Bern präsentiert, was als Erstes auffällt: es sind mehr Frauen in den Jurys vertreten.

Auf der Piazza Grande wird es eine bunte Auswahl zwischen schräg, komödiantisch (Greener Grass von Jocelyn DeBoer/Dawn Luebbe) und dramatisch (Camille von Boris Lojkine) spannend (Adoration von Fabrice Du Welz und 7500 von Patrick Vollrath) und horrolastig (The Nest/Il nido von Roberto De Feo). Immerhin 11 der Piazza Grande Filme sind Weltpremieren.

Auch in den beiden Hauptwettbewerben, Concorso internazionale und Cineasti del presente überwiegen die Weltpremieren und wie schon seit längerer Zeit zu beobachten, sind auch in dieser Ausgabe sehr viele Filme in internationaler Koproduktion entstanden. Die eher experimentelle Schiene wurde von Signs of Life in Moving ahead umbenannt, scheint aber der Entdeckung neuer Blicke und Ideen weiterhin treu zu bleiben. Und selbstverständlich gibt es auch in diesem Jahr eine grosse Auswahl nationaler (also Schweizer) und internationaler Kurzfilme.

Ein dichtes und erstmal vielversprechendes Programm also und das Rennen von Kinosaal zu Kinosaal wird auch in diesem August eine sportliche Herausforderung werden.

Am 17. August wird mit der Verleihung der Goldenen und Silbernen Leoparden und dem neuen Film von Kiyoshi Kurosawa Tabi no Owari Sekai no Hajimari (To the Ends of the Earth) das 72. Filmfestival Locarno zu Ende gehen.

Das gesamte Programm gibt es hier

Aktuelle Berichte zum Festival und den Filmen folgen dann hier während des Festivals.

Filmtipp: Draussen und bei freiem Eintritt

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Der Wiener Karlsplatz liegt zentral und bleibt trotzdem, spätestens wenn die Karlskirche ihre Tore für Besucher schliesst, weitgehend touristenfrei. Urbaner Raum fast völlig frei von Kommerz und Kaufzwang, man kann sitzen und in den Himmel schauen, die Füsse im Teich vor der Karlskirche kühlen, oder eben, an Sommerabenden bei freiem Eintritt Filme schauen.

Bis zum letzten Sommer bespielte „Kino unter Sternen“ den Platz, aber nach Problemen mit der Finanzierung war dann Schluss.
Zum Glück hat sich nahtlos das CineCollectiv der Sache angenommen und so gibt es unter dem schönen Namen Ka lei dos kop bis zum 19. Juli wieder Filme zu sehen.
Die vier Macherinnen, Djamila Grandits, Marie-Christine Hartig, Lisa Mai und Doris Posch, haben ein buntes und spannendes Programm zusammengestellt, da sollte für jeden der passende Film zu finden sein.

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Hier also vier völlig subjektive Tipps für Filmabende unter freiem und hoffentlich sternenklarem Himmel:

 

3. Juli, 21 Uhr

In Sie ist der andere Blick portraitiert Christina Perschon in eigenwilliger filmischer Handschrift Künstlerinnen, die in den 60er und 70er Jahren gegen Vorurteile und gesellschaftliche Konventionen zur feministischen und künstlerischen Avantgarde wurden. Malerinnen, Filmemacherinnen, Photographinnen, grosse Namen, die auch heute noch gross sind: Linda Christanell, Margot Pilz, Karin Mack Lore Heuermann. Manches in dieser Dokumentation funktioniert hervorragend, wie gleich zu Anfang, die in 16 mm gedrehten Passagen, in denen Leinwände grundiert werden, immer wieder, immer weiter, und immer abstrakter werdend, darunter von allen Künstlerinnen erste Interviews, die Geschichte ihrer Anfänge. Als Rahmen dient allen Künstlerinnen dasselbe, leere Atelier, das sie mit sich und ihrer Kunst „bespielen“. Manchmal wünscht man sich nur, etwas genauer zu sehen was sie zeigen, worüber sie reden, wie bei den Photos, von denen Karin Mack spricht, sie bleiben in der Totale, und werden nur kurz Richtung Kamera gehalten. Auch Renate Bertelmanns Kautschukobjekte wären aus der Nähe sicher schön anzusehen. Und ob einem gefällt, wenn Interviews einfach hart zusammengeschnitten werden bleibt wohl Geschmackssache. Spannend und interessant ist der Film dennoch.

6. Juli, 21 Uhr

54 Minuten reinste Freude. Under the Underground von Angela Christlieb führt filmisch durch ein Chaos an Elektroschrott, Maschinen, technischem Gerät, mal funktionierend , mal eher dekorativ. Die Kellerräume sind Proberaum, Tonstudio, Bastlerwerkstatt und Wohnraum von Janka Industries. Underground im doppelten Wortsinn, das messihafte Durcheinander findet ganz natürlich seine Entsprechung im Bildfluss, bleibt dabei aber doch sehr genau strukturiert, wie vermutlich das Chaos im Keller, für seine Bewohner strukturiert ist. Ein Gesamtkunstwerk, aus Inhalt und Form.

12. Juli, 21 Uhr

Die Armut und Verwahrlosung in Ray and Liz von Richard Billingham springt einem von der Leinwand fast spür- und riechbar entgegen. Am Stadtrand von Birmingham spielt die autobiographische Familiengeschichte, eine Art visueller Sozial-Autopsie in spannenden Bildern. Extreme Detailaufnahmen, mal von krabbelndem Getier, von zitternden Fingern am Glas, oder Teilen von Gesichtern, um dann wieder einen Schritt zurück, und in ruhigen, sehr exakt in 4 : 3 kadrierten Bildern die Szenen zu betrachten. Es entsteht so ein Gefühl für die Situation der Figuren, Anteilnahme ist möglich, (ab)werten bleibt aus.

16. Juli, 21 Uhr

Auf den ersten Blick geht es in As boas maneiras / Good manners von Juliana Rojas und Marco Dutra um eine Krankenschwester, die bei einer Schwangeren eingestellt wird, und um eine Nacht, die alles verändert. Was dann aber drin steckt, ist ein ziemlich grelles Horror-Märchen. Der Kontrast: arme Krankenschwester, reiche – und wie es scheint – verwöhnte Schwangere ist aber nur der Einstieg in eine Geschichte, in der sich Stück für Stück herausstellt, was da für ein Monster im Bauch heranwächst, und mit Schockeffekt zur Welt kommt. Im zweiten Teil, des mehr als zwei Stunden langen Films, dreht sich alles um die Kindheit der Kreatur. Der Film ist spannend und modifiziert fast liebevoll gängige Horrorstrukturen, man sollte nicht zu zimperlich sein, was blutige Szenen angeht, aber auch damit umgehen können, dass, in Art des Chors in griechischer Dramen, aus den Szenen heraus ein kommentierender, warnender Gesang anhebt, dann aber ist der Film eine grosse Freude. Dass dieser schöne Film in einer Vollmondnacht programmiert ist, versteht sich von selbst.

Das gesamte Programm gibt es hier.