Tag 9, das Festival ist auf der Zielgeraden.
Der letzte Film im Wettbewerb Cineasti del presente: Mariam von Sharip Urazbayeve. Ein weiterer Film, in dem sich reale Welt und Fiktion überschneiden, vermischen. Die Regisseurin, aufmerksam geworden durch eine Zeitungsnotiz, dreht zunächst einen kurzen Fernsehbeitrag über eine Frau, deren Mann spurlos verschwunden ist und die um staatliche Unterstützung für sich und ihre 4 Kinder kämpfen muss. Auf dieser Basis schreibt sie ein Drehbuch, eine Dramatisierung der Ereignisse und beschliesst, die betroffene Frau selbst die Rolle spielen zu lassen. Der Film könnte richtig gut sein, wenn er nicht mit üblen Ton-Schlampereien zu kämpfen hätte. Der Filmton scheint ausschliesslich von den Mikroports der Darsteller zu kommen und wird hemmungslos abgeschnitten, sobald ein Dialogteil beendet ist, Resultat: ein Tonloch am anderen, Atem- und Bewegungsgeräusche in Szenen, in denen der Ton an sich aus dem Off kommt, spärliche Atmos im Freien. Das alles ist extrem schade, weil es einen aus dem Fluss der Geschichte regelmässig herausreisst. Einer Geschichte, die ansonsten schön erzählt ist, interessant gedreht und die eine einfache Notiz in eine berührend-schräge Story verwandelt.
Kunst, Theater, Randgruppen, soziales Engagement, all dies und eine grosse Portion Skurrilität finden in Here for Life von Andrea Luka Zimmermann und Adrian Jackson zu einem wilden Film zusammen. Das politische Theater einer Gruppe schräger Gestalten, weitet sich auf den gesamten städtischen Raum aus, wird so nicht nur die 4., sondern alle Wände des Theaters los, um sich dann am Ende auf einer 5. Wand, der Leinwand, wiederzufinden. Das ist ein köstlicher Spass, manchmal etwas verwirrend, oft aber einfach nur sehr cool.
Bei seiner ersten Vorführung hatte bereits der Kinosaal heftig applaudiert und auch bei der dritten Vorführung, also ohne Anwesenheit des Regisseurs, war das Publikum von Baamum Nafi (Nafi’s Father) von Mammadou Dia begeistert. Die Basis des Konflikts in einem senegalesischen Dorf ist so alt wie die (Kultur) Geschichte der Menschheit: ein Streit zwischen Brüdern, es geht um Eifersucht aber auch um die Deutungshoheit des rechten Weges. Und so verwandelt diese simple Basis ein Dorf in den Schauplatz von islamistischer Machtübernahme, zwingt ehemals friedliche Nachbarn sich für eine Seite zu entscheiden und kostet am Ende das Leben Unschuldiger. Eine packende Geschichte in sehr schönen Bildern erzählt.
Der Ehrenleopard auf den sich viele Zuschauer gefreut haben: John Waters. Auf der Bühne der Piazza Grande eine strahlende Lili Hinstin, die sich anscheinend einen Traum erfüllt hat mit diesem Gast. John Waters aufgeräumt, launig, freundlicher Gentleman mit gepunktetem Anzugrevers.
Der letzte Film, der auf der Piazza Grande um den Publikumspreis ins Rennen geht, ist Adoration von Fabrice du Welz. Eine allererste Liebe zwischen einem 12-Jährigen und einer hochgradig schizophrenen 14-Jährigen, Wahn und Hingabe, Mord, Flucht und Verstrickungen, die nicht mehr lösbar scheinen. Mit oft sehr bewegter Kamera gedreht, in vielen Naheinstellungen und mit zwei sensationellen jungen Schauspielern, zieht der Film den Zuschauer in seinen Bann, macht atemlos und unruhig und liefert am Ende auch keinen beruhigenden Schluss.
Jetzt fehlen in Locarno eigentlich nur noch die Preise, die am heutigen Abend vergeben werden.