Locarno #72 Der Letzte macht das Licht aus

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Der letzte Film auf der Piazza Grande: Tabi no owari sekai no hajimari
(To the ends of the world) von Kiyoshi Kurosawa wird von Lili Hinstin als der perfekte Abschluss für das Festival gepriesen, in Wahrheit ist er eher ein Ärgernis.

Am Anfang hat der Film noch Charme und Witz ist ein bisschen Medien- oder TV Satire. Erzählt wird von einem japanischen Filmteam, dass in Usbekistan mit einer jungen etwas unbedarften Moderatorin eine Reisereportage dreht. Nichts läuft wie es soll und die junge Moderatorin wird in immer absurdere Settings abgestellt, um vorgefertigten Text fröhlich in die Kamera zu flöten. Dazwischen: Yoko rennt. Sie rennt, weil sie zu spät zur Abfahrt des Teams kommt, rennt durch unbekannte Basare und rennt über 4-spurige Strassen. Ab etwa der Hälfte des, immerhin 124 Minuten langen, Films driftet das Ganze in eine Art Auftragsarbeit für das Usbekische Fremdenverkehrsbüro ab. Erst ein rührseliger Monolog über tapfere japanische Kriegsgefangenen, die trotz aller Widrigkeiten die Innenausstattung eines usbekischen Theaters gestalten, die Moderatorin wird von der dortigen Polizei verfolgt, trifft aber nach tränenreicher Entschuldigung auf so nette, verständnisvolle Beamten, dass man selber heulen möchte ob dieses Kitschs, um dann am Ende in malerischer Bergkulisse Piaf’s Hymne an die Liebe auf Japanisch zu schmettern. Man kann eventuell entschuldigen, dass Kurosawa einen solchen Film macht, auch Regisseure haben Miete zu zahlen, aber dass so ein Film ein Festival abschliesst, dass für Originalität, unabhängiges Kino und Innovation steht, ist schwer zu verdauen.

 

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Der Abend selbst begann aber deutlich erfreulicher mit der Verleihung der diversen goldenen und silbernen Leoparden.
Der Publikumspreis zeigt wie wenig sich die Zuschauer in Locarno an Kitsch und leichte Kost halten, sondern immer wieder, so wie in diesem Jahr, für Filme stimmen, die Qualität und Anspruch vereinen. Die Zuschauer stimmten für den Film Camille von Boris Lojkine. Deutlich gerührt erzählt Lojkine, er hätte sich nach der Vorführung auf der Piazza zum Heulen in die Berge verzogen, weil nach dem Film „niemand“ geklatscht hatte.

Im Wettbewerb Cineasti del presente, gewinnt der senegalesische Film Baamum Nafi (Nafi’s Father) von Mamadou Dia gleich zwei goldenen Leoparden, einen für den Wettbewerb und einen als bester Erstlingsfilm.

Den Spezialpreis der Jury bekommt hochverdient Ivana Cea Groaznica (Ivana die Schreckliche) von Ivana Mladenović, Rumänien/Serbien. Die Jury vergibt auch noch eine Besondere Erwähnung für Here for Life von Andrea Luka Zimmerman, Adrian Jackson, Grossbritannien.

Leider nicht gesehen, den Goldenen Leoparden im Hauptwettbewerb: der portugiesische Film Vitalina Varela von Pedro Costa, dessen Protagonistin Vitalina Varela auch den Leoparden für die beste weibliche Hauptrolle bekommt. Der Begeisterung bereits bei der Pressekonferenz zu urteilen, ist der Film ein verdienter Gewinner. Der Spezialpreis dieser Jury ging an Pa-go (Height of the Wave) von PARK Jung-bum, Südkorea.

Alle Preise sind auf der Seite des Festivals nachzulesen.

 

Lili Hinstin (c) ch.dériaz

 

 

Nach dieser ersten Ausgabe unter der künstlerischen Leitung Lili Hinstins kann man noch nicht sehen, ob sie eine eigene Handschrift einbringen wird, ob sie wirklich frischen Wind und das versprochene Aufrütteln ins Programm bringen wird. Was auffiel, es waren vermehrt asiatische Filme, und zwar nicht nur aus China oder Japan, sondern aus auch eher „exotischen“ Regionen im Programm. Beim Publikum kam ihre freundliche und unkomplizierte Art auf jeden Fall gut an und ihre Begeisterung für die präsentierten Filme war spürbar, wenn auch im Nachhinein nicht immer nachvollziehbar. Um wirklich ihren künstlerischen Einfluss deutlich zu machen, wird sie noch ein wenig zulegen müssen.

Die 73. Ausgabe des Festivals von Locarno beginnt am 5. August 2020.

Locarno #72 Spielfreude

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Tag 9, das Festival ist auf der Zielgeraden.

Der letzte Film im Wettbewerb Cineasti del presente: Mariam von Sharip Urazbayeve. Ein weiterer Film, in dem sich reale Welt und Fiktion überschneiden, vermischen. Die Regisseurin, aufmerksam geworden durch eine Zeitungsnotiz, dreht zunächst einen kurzen Fernsehbeitrag über eine Frau, deren Mann spurlos verschwunden ist und die um staatliche Unterstützung für sich und ihre 4 Kinder kämpfen muss. Auf dieser Basis schreibt sie ein Drehbuch, eine Dramatisierung der Ereignisse und beschliesst, die betroffene Frau selbst die Rolle spielen zu lassen. Der Film könnte richtig gut sein, wenn er nicht mit üblen Ton-Schlampereien zu kämpfen hätte. Der Filmton scheint ausschliesslich von den Mikroports der Darsteller zu kommen und wird hemmungslos abgeschnitten, sobald ein Dialogteil beendet ist, Resultat: ein Tonloch am anderen, Atem- und Bewegungsgeräusche in Szenen, in denen der Ton an sich aus dem Off kommt, spärliche Atmos im Freien. Das alles ist extrem schade, weil es einen aus dem Fluss der Geschichte regelmässig herausreisst. Einer Geschichte, die ansonsten schön erzählt ist, interessant gedreht und die eine einfache Notiz in eine berührend-schräge Story verwandelt.

Kunst, Theater, Randgruppen, soziales Engagement, all dies und eine grosse Portion Skurrilität finden in Here for Life von Andrea Luka Zimmermann und Adrian Jackson zu einem wilden Film zusammen. Das politische Theater einer Gruppe schräger Gestalten, weitet sich auf den gesamten städtischen Raum aus, wird so nicht nur die 4., sondern alle Wände des Theaters los, um sich dann am Ende auf einer 5. Wand, der Leinwand, wiederzufinden. Das ist ein köstlicher Spass, manchmal etwas verwirrend, oft aber einfach nur sehr cool.

Bei seiner ersten Vorführung hatte bereits der Kinosaal heftig applaudiert und auch bei der dritten Vorführung, also ohne Anwesenheit des Regisseurs, war das Publikum von Baamum Nafi (Nafi’s Father) von Mammadou Dia begeistert. Die Basis des Konflikts in einem senegalesischen Dorf ist so alt wie die (Kultur) Geschichte der Menschheit: ein Streit zwischen Brüdern, es geht um Eifersucht aber auch um die Deutungshoheit des rechten Weges. Und so verwandelt diese simple Basis ein Dorf in den Schauplatz von islamistischer Machtübernahme, zwingt ehemals friedliche Nachbarn sich für eine Seite zu entscheiden und kostet am Ende das Leben Unschuldiger. Eine packende Geschichte in sehr schönen Bildern erzählt.

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Der Ehrenleopard auf den sich viele Zuschauer gefreut haben: John Waters. Auf der Bühne der Piazza Grande eine strahlende Lili Hinstin, die sich anscheinend einen Traum erfüllt hat mit diesem Gast. John Waters aufgeräumt, launig, freundlicher Gentleman mit gepunktetem Anzugrevers.

Der letzte Film, der auf der Piazza Grande um den Publikumspreis ins Rennen geht, ist Adoration von Fabrice du Welz. Eine allererste Liebe zwischen einem 12-Jährigen und einer hochgradig schizophrenen 14-Jährigen, Wahn und Hingabe, Mord, Flucht und Verstrickungen, die nicht mehr lösbar scheinen. Mit oft sehr bewegter Kamera gedreht, in vielen Naheinstellungen und mit zwei sensationellen jungen Schauspielern, zieht der Film den Zuschauer in seinen Bann, macht atemlos und unruhig und liefert am Ende auch keinen beruhigenden Schluss.

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Jetzt fehlen in Locarno eigentlich nur noch die Preise, die am heutigen Abend vergeben werden.