Locarno#76 Countdown

 

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Tote Hühner

 

Der letzte komplette Kino-Tag in Locarno, die letzten Filme, letzte Chance für die ganz grosse Überraschung.

Ein schöner Ort von Katharina Huber fällt definitiv nicht in die Kategorie „grosse Überraschung“. Rätselhafte, wenn auch oft schöne, Bilder kombiniert mit kryptischen, meist ausserhalb des Bildes stattfindenden Dialogen, die dafür klingen wie abgelesen. Tatsächlich findet fast alles ausserhalb des Bildes statt: Huhn schlachten, Stall sprengen, Sex. Immer wieder tote Hühner, tote Küken oder abgetrennte Hühnerfüsse, morbides Stillleben.
Ein Bauernhof, ein Dorf, anscheinend verschwinden Menschen – oder sterben sie? – und eine inhomogene Gruppe, von der man nicht versteht, was sie tut. Dazu noch ein Radio, aus dem ständig Berichte über einen Raketenstart tönen. Dummerweise ist die Geschichte in Kapitel unterteilt, die von 10 heruntergezählt werden. Bei 8 ist einem schon die Lust vergangen mehr zu sehen, bei 3 wünscht man, das Ende des Films möge schnell kommen.
Ist das ein versponnener Ökothriller? Eine Allegorie auf den Zustand der Welt? Ein kollektiver Albtraum? Oder einfach selbstverliebtes Spielen mit Bildern, mit Chiffren, mit Andeutungen? Schwer zu sagen.
Am Schluss gab es den spärlichsten Applaus überhaupt, etwa drei Personen haben zweimal in die Hände geklatscht, wahrscheinlich aus Erleichterung, endlich aufstehen zu können.

 

Spalten

 

Gefahren anderer Art begegnen einem auf den Planken des Spazio Cinema. Die Abstände zwischen den Holzplanken sind so gross, dass sich immer wieder Stuhlbeine dort einfädeln, was zu derben Stürzen führt. Im besten Fall schafft man, den Sturz noch abzufangen, im schlechtesten Fall landet man, mitsamt Stuhl, recht unelegant auf den Brettern.

 

 

Verlust

 

Das letzte Kurzfilmprogramm hat vielfältige Verluste zum Inhalt.
Jaima von Francesco Pereira erzählt vom Verlust an Lebensraum, den die Sahrauis seit Jahrzehnten erleiden. Zwischen den Fronten der bewaffneten Konflikte um die West-Sahara bleiben sie auf der Strecke, und leben seit Jahren in Flüchtlingslagern. Unsentimental und sachlich, dabei trotzdem empathisch.

The Passing von Ivete Lucas und Patrick Bresnan hat vermutlich jeden im Saal zum Weinen gebracht, der jemals ein Haustier hat einschläfern lassen müssen. Sie begleiten einen Tierarzt in einem texanischen Städtchen, er fährt zu den tierischen Patienten, erzählt ihnen Geschichten, während er sie behandelt. Und genauso einfühlsam, wie er eine einfache Impfung gibt, schläfert er am Ende eine alte Hündin ein, im Garten, auf ihrer Schlafdecke. Ein sehr beeindruckendes Portrait, sowohl des Tierarztes als auch der Menschen, die den Verlust verkraften müssen.

Pray von Caleb Azumah Nelson ist auf Film und in Schwarzweiss gedreht, mit bewegter, sehr direkter, fast dokumentarischer Kamera,
Zwei Jungendliche, in Süd-Ost London, die gerade ihre Eltern verloren haben, werden von ihrer Gemeinschaft aufgefangen, getragen und weiter auf ihrem Weg begleitet. Verlust und Erwachsenwerden gehen hier Hand in Hand. Nach einer Kurzgeschichte des Regisseurs.

La Vedova Nera von fiume und Julian McKinnon. Verlust der Unschuld, oder doch nur Verlust des Bewusstseins? Nach einem Sturz mit dem Fahrrad, bei dem auch das Handy kaputtgeht, landet Alfredo, ein Teenager, in einem Pornokino. Angezogen vom laufenden Film, „Die schwarze Witwe“, geht er in den dunklen Saal. Während auf der Leinwand eine ältere Frau einen Jugendlichen verführt, finden im Saal recht handfeste homosexuelle Handlungen statt. Als er auf dem Klo eine blutige Leiche entdeckt, beginnt ein, auch visueller, Horrorfilm für Alfredo. Die Kamera dreht ebenso durch, wie der Schnitt und der zusehends panischer werdende Alfredo. Aber passiert das wirklich? Sehr schön.

 

Kung-Fu Mönche

 

Nähtamatu võitlus (The Invisible Fight) von Rainer Sarnet ist ein grosser Kung-Fu Schabernack. Nachdem drei asiatische, Black Sabbath hörende, Kung-Fu-Rowdies eine sowjetisch-chinesische Grenzstation mit viel Tamtam bis auf einen einzigen Soldaten niedergekämpft haben, entscheidet dieser, sich die Haare wachsen zu lassen, Kung-Fu zu lernen, und wird, Plateau-Schuhe inklusive, Black Sabbath Fan. Zufällig landet er in einem orthodoxen Kloster, wo einige Mönche Kung-Fu Meister zu sein scheinen.
Wir schreiben das Jahr 1973, die Sowjetunion ist gross, westliche Rockmusik und Kirche sind mindestens verpönt. Was folgt, ist ein kruder Spass mit Kung-Fu im Panda-Stil, einem kleinen roten Lada und viel genremässigem Unfug. Dazu ein wenig Weisheit und eine kleine Romanze. Sehr schräg, schön gemacht, lustig.

 

 

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Theater

 

Der letzte Film auf der Piazza, der für den Publikumspreis ins Rennen geht.

Theater Camp von Molly Gordon und Nick Lieberman ist eine fröhliche, chaotische Komödie, die viele Lacher im Publikum erzeugte. Einem Theater-Sommercamp für Kinder, seit Jahren unterfinanziert, aber dafür mit extra viel Herzblut betrieben, droht der Verkauf, sofern nicht innerhalb kürzester Zeit die Bankschulden beglichen werden. Während die Kinder alle mit grossem Eifer und viel Spass proben, tanzen, singen, Bühnentechnik lernen, versucht die Konkurrenz, das Camp mit eher unlauteren Mitteln zu übernehmen. Einzige Hoffnung: das Musical, Highlight des Camps, muss ein solcher Erfolg werden, dass Sponsoren einsteigen und das Camp retten. Dass die Geschichte gut ausgeht, versteht sich hier fast von selbst, aber das Wie und die Zeit bis dahin sind wirklich mit viel Humor erzählt.

Morgen gibt es alle Leoparden, einen letzten Film auf der Piazza und einen letzten Auftritt von Marco Solari.

 

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