Der Blog

#Locarno77 Machos und Einsiedler

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Gleichstellung

 

Zu den Neuerungen oder Neubetzungen gehören auch noch Sandy Altermatt, die neue Komoderatorin auf der Piazza Grande. Und, fast schon revolutionär, sagt erstmalig in der Geschichte des Festivals eine Frau allabendlich den Film an. Das Festival ist ganz weit vorne, was die Umsetzung von Gleichheit in der Postenbesetzung zwischen Männern und Frauen angeht. Auch die Jurys sind 50:50 bestellt, oder genauer gezählt: 9 Frauen, 8 Männer.
Neben den aktuellen Wettbewerbsprogrammen gibt es jedes Jahr Retrospektiven, dieses Jahr unter dem Titel 100 Jahre Columbia Pictures. Und eigentlich könnte man die 11 Festivaltage damit verbringen, „alte“ tolle Filmklassiker anzuschauen.

 

Lateinamerika zwischen Folklore und Machismo

 

Keine Wolke am blauen Himmel, hohe Sommertemperaturen, Zeit sich im Kino abkühlen zu gehen. Nochmals Open Doors, diesmal Kurzfilme:

Das Spektakulärste an Luciana Decker Orozcos Film ist wohl der Titel:
Lo que los humanos ven como sangre los jaguares ven como chicha. Aber da weder Blut noch Jaguare darin vorkommen, bleibt er für Uneingeweihte eher schwer verständlich. Der Film bietet ein Kaleidoskop an visuellen Effekten, die mit Analogfilm realisiert wurden. Es scheinen sich folkloristische Mythen und Sagen mit Bildern aus dem Hier und Jetzt zu vermischen, Fressen und Gefressenwerden scheint Thema zu sein. Aber so wirklich ersichtlich ist das alles nicht.

Sirena von Olivia De Camps erzählt den von Patriarchat und Machogehabe geprägten Alltag der Dominikanischen Republik. Sirena entdeckt, kurz vor ihrer Abreise in die USA, wo sie heiraten wird, dass ihr Vater ein Doppelleben führt, und ihre Mutter, auf Gott und die Bibel vertrauend, das alles klaglos hinnimmt. Ob Sirenas zukünftiges Leben anders verlaufen wird, lässt der Film relativ offen.

Der stärkste Film des Programms kommt aus Haiti. Twa fèy von Eléonore Coyette und Sephora Monteau erzählt von sexuellem Missbrauch, sexualisierter Gewalt gegen Frauen und der Untätigkeit der Gerichte, daran etwas zu ändern. Protagonisten sind Marionetten, die in realer Umgebung einen grausamen Alltag spielen. Die Verfremdung, die durch die Puppen entsteht, macht das Anliegen des Films umso stärker und die Gewalt noch unerträglicher.

Dragqueens in Guatemala berichten in De reinas y otros colores von Juan Herrera Zuluaga von ihrem Alltag. Auch hier ist die patriarchal- christlich dominierte Umgebung ein Problem für Menschen, die eigentlich nur einfach leben wollen.

 

 

 

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Das Schweigen im Wald

Bogancloch von Ben Rivers ist der bislang ungewöhnlichste Film. Gedreht in körnigem Schwarzweiss, das teilweise fast überlagert wirkt, lässt sich der Film Zeit, den Protagonisten Jake, einen kauzigen Einsiedler, zu porträtieren. Er lebt im ländlichen Schottland, auf einem Hof voller Krempel, umgeben von Wald. Die Kamera beobachtet, nähert sich selten wirklich dem Gesicht, lässt Jake tun, was Jake so tut, egal wie lange es dauern mag. Unterlegt einzig von Originalgeräuschen, manchmal von Musik, die Jake auf einem alten Ghettoblaster abspielt, darüber hinaus: nichts, keine Erklärung, keine Filmmusik, kein Kommentar. Damit entsteht eine Art Meditation auf Film, die im Publikum nicht immer gut ankam. Lange, sehr ruhige Passagen führen zu Unruhe, zu kurz aufblitzenden Handys und auch zu Menschen, die den Saal verlassen. Die, die bleiben, haben am Ende ihrer Freude über diesen sehr ungewöhnlichen Film durch lautes Klatschen und Bravo-Rufen zum Ausdruck gebracht. Formal bleibt ein – oder sind es zwei? – Fragen: die teils verbrannten oder zerstörten (Farb)Photos zwischendrin scheinen von Jakes früherem Leben zu erzählen, aber warum gibt es eine Einstellung in Farbe von Jake und seinem Hof? Ansonsten: wirklich sehr schön, und in seiner Ästethik aussergewöhnlich.

 

Terror

Gleich noch ein extrem toller Film: Les Enfants rouges von Lotfi Achour.
Der Film nach wahren Begebenheiten erzählt von zwei jungen Ziegenhirten, Cousins, in den tunesischen Bergen. Als sie sich zu weit in den Bergen herumtreiben, an Orten, wo das Gelände vermint ist, wo Terroristen herrschen und die Armee auch nicht gerade zimperlich ist, werden sie angegriffen. Nur einer überlebt den Angriff, und wird auch noch gezwungen, den abgetrennten Kopf des anderen zurück ins Dorf zu bringen. Traumatische Ereignisse für einen 13-jährigen. Trauer, Wut und die Unsicherheit, was er eigentlich gesehen hat, und was nicht, verfolgen ihn. Im Dorf wird überlegt und beraten, wie und ob der Körper aus den Bergen zurückgeholt werden kann und soll. Die exzellenten Bilder von Kameramann Wojciech Staroń bieten Landschaft in all ihrer Schönheit und Ruhe, dazwischen kurze explosive Dynamik und ruhige Gesichter mit spannenden Tiefenschärfen. Das Zusammenspiel der Bilder, der Spannung und des Spiels der jungen Darsteller ergibt einen packenden, ergreifenden und auch politischen Film. Der Film ist eine Koproduktion mit mehr Ländern, als man mal eben aufzählen kann, aber Filmemachen ist teuer und Filme so zu machen, wie man möchte, ist gleich noch teurer. Schön, dass sich so viele Koproduzenten gefunden haben.

Zauberlehrling

 

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Nach einem so weit sehr erfreulichen Tag steigt die Hoffnung, auch auf der Piazza einen wirklich tollen Film zu sehen. Electric Child von Simon Jaquemet liest sich im Katalogtext gut. Science-Fiction mit KI-Problematik und persönlichem Drama, das kann doch gut werden.

Die Geschichte startet vielversprechend, das Programmiergenie arbeitet im geschützten Rahmen einer grossen Firma an einer neuen, sich selbst entwickelnden (Spiele) Entität.
Der Druck, unter dem er steht, ist allerdings gross, die Chefin will Resultate, sonst werden Mittel gekürzt. Die Öffentlichkeit ist skeptisch, weil KI Gefahren bergen kann, die nicht überschaubar sind und die Regierung will eine Hintertür im Programm, um sicherzustellen, dass da nichts passiert, was unerwünscht oder gefährlich ist. Als sich dann herausstellt, dass sein frisch geborener Sohn einen Gendefekt hat, und er wohl seinen ersten Geburtstag nicht erleben wird, versucht er sein Programm so zu manipulieren, dass die KI nach einer Lösung oder Heilung für sein Kind sucht.
Dass das der erste fatale Fehler ist, erklärt sich von selbst.
Dennoch ist der Film über weite Strecken innerhalb dieser falschen Entscheidung plausibel, spannend und gut gemacht. Die Manipulationen fallen aber natürlich auf, die Rechner werden abgeschaltet und ab da driftet der Film weg und verliert an Glaubwürdigkeit. Das Hochsicherheitsareal kann wundersamerweise ganz einfach durch ein Gitter betreten werden, das freundlicherweise gleich in die „Eingeweide“ der Serverräume führt. Der Notstromgenerator, der nicht anspringt, lässt sich mit drei festen Fusstritten doch überreden, und das Programm kann neu gestartet werden. Kurzum, der Showdown, das Ende vermasseln den Film.
Dabei hat er wirklich sehr gute Momente, ist visuell ansprechend und auch originell gestaltet. Sehr schön ist zum Beispiel die Welt der KI generierten Figur, die für sich alleine auf einer Insel lebt und dem programmierten Lernprozess mit kindlicher Neugier folgt.
Trotzdem fragt man sich die ganze Zeit, wie kommen die aus der Geschichte noch raus? Und da ist genau das Problem, sie kommen nicht raus, nicht ohne Erzählstränge zu verlieren, nicht ohne absurde Ereignisse zu kreieren. Die gerufenen Geister wollen einfach nicht zurück in ihre Flaschen, weder innerhalb der Geschichte, noch auf der Ebene des Erzählens.

#Locarno77 Emotionen

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Die Tücken der Technik

Der neue Leopard funktioniert wunderbar auf allen Photos, auf der Leinwand nur dann, wenn die grosse Katze relativ statisch in die Kamera faucht, sobald mehr Bewegung ins Spiel kommt, ist der Spass vorbei.
Der alte, auf 35 mm gedrehte Leopard, schritt majestätisch und das Fell sah aus, als wollte man es berühren, der neue, digital gedreht, ist so überscharf, dass er in der Bewegung visuelle Artefakte generiert, die Augen und Hirn irritieren, das ist unschön.

Obwohl seit Jahren ein Telekommunikationsunternehmen Hauptsponsor des Festivals ist, gibt es weiterhin kein halbwegs flächendeckendes WLAN für Gäste und Besucher des Festivals, das ist, bedenkt man die teuren Roaminggebühren, wirklich blöd.

Weitere Neuerungen, die eigentlich keiner so braucht: die Bar beim Spazio Cinema, der einzige Ort, wo man in der Ecke Essen und Trinken bekommt, wünscht nur noch Kartenzahlung. Auf Nachfrage heisst es, dass das Festival das so will. So muss für jeden kleinen Espresso die Karte gezückt werden. Wozu?

 

 

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Alpakas und Fussball

 

Die Sektion Open Doors zeigt im dritten und letzten Jahr Filme aus Lateinamerika und der Karibik, Filmländer, die in Europa nahezu unbekannt sind, und eigentlich ein Gewinn sind.
Raíz von Franco García Becerra, der erste Film, der in der Reihe gezeigt wird, zieht um elf Uhr am Morgen eine riesige Schlange vors Kino – ausverkauft. Was auch heisst, das Gerangel um die letzten freien Plätze dauert und dauert und führt gleich am Morgen zu einer erheblichen Verspätung.
Aber der Film ist das Warten wert.
Der junge Feliciano hütet für seine Familie irgendwo in den Anden Alpakas, immer dabei: sein Hund Rambo und sein Alpaka-Junges Ronaldo. Und damit ist schon Felicianos Passion erzählt, er ist, wie der ganze Ort, Fan der peruanischen Fussballnationalmannschaft.
Die Idylle scheint perfekt, Peru ist kurz davor, nach Jahrzehnten wieder an einer WM teilzunehmen, die Alpakas haben Wolle von toller Qualität, aber eine Mine versucht sich immer mehr in die Landschaft zu graben. Die kleinbäuerliche Gemeinde wehrt sich, so gut es geht. Aber die Minenbetreiber wenden unlautere, brutale Mittel an, um sich Land zu beschaffen. In sehr schönen Bildern, stimmungsvoll und wild-romantisch, erzählt der Film den Konflikt, die Begeisterung für Fussball und mischt noch etwas andinischen Volksglauben von einem wilden Monster dazu. Einziger Minuspunkt: die etwas hölzern wirkenden Dialoge. Dennoch, der Film packt und am Ende fiebert man mit den Protagonisten dem Schluss des letzten Qualifikationsspieles entgegen. Peru ist nach mehr als 30 Jahren für eine WM qualifiziert.

Explosive Emotionen


Die erste Runde des Kurzfilmprogramms startet mit einigen sehr guten Einfällen, originell, bilderstark und emotional.
La Fille qui explose von Caroline Poggi und Jonathan Vinel ist eine Computeranimation, erstellt mithilfe von Videospiele-Software. Die Protagonistin und Off-Erzählerin der Geschichte explodiert, täglich, manchmal mehrmals täglich. Jedes Mal setzt sie sich wieder zusammen, allerdings sieht sie dabei immer mehr wie der elektronische Bruder eines Zombies aus. Eine poppig bunte Allegorie auf Schmerz, Liebe und das Verzweifeln an beidem. Sehr schön.

Biblisch, aber nicht weniger emotional geht Nakhane das Thema in B(l)ind the Sacrifice an. Eine Gruppe Nomaden lebt in Südafrika, mitten im sprichwörtlichen Nichts. Bibeltreu und patriarchalisch strukturiert, ist das Leben dort für einen jungen Homosexuellen nicht einfach. Suff und Stress sind da fast schon vorprogrammiert. Als sein Vater ihn, nach biblischem Vorbild, opfern will, und wie im Vorbild im letzten Moment den göttlichen Befehl bekommt, das Opfern abzubrechen, verschärft sich der Konflikt. Der Rat der Mutter, immer zu tun, was einem Gottes Stimme eingibt, endet dann unerwartet fatal.

Gimn chume von Ataka51 zeigt Spuk und Horror in einem alten sowjetischen Aufnahmestudio, wo ein Orchester ein Stück nach Puschkins „Das Festmahl zur Zeit der Pest“ vertont. Zunächst langsam, dann immer massiver, fliegen Dinge durch die Gegend, verschwindet erst ein Kind, dann die Musiker. Auch hier eine starke Allegorie auf Krieg und Zerstörung, sehr schön und gespenstisch in Szenen gesetzt.

In Tinderboys von Sarah Bucher und Carlos Tapia lädt eine junge Frau Männer zu sich ein, die sie auf Tinder gefunden hat. Aber es geht ihr nicht um Sex oder Beziehung, sondern darum, ihnen unvermittelt und überraschend eine Art Kunstperformance vorzuführen. Das ist sowohl witzig als auch verstörend. Die Verstörung wird durch die Kameraperspektiven genüsslich auf- und ausgebaut.

Freak von Claire Barnett ist dagegen sehr schwach. Schrappelige Camcorder-Bilder zeigen ein Paar, das sich mit eben diesem Camcorder filmt. Was anfängt wie ein lustiger Spass, wird unangenehm und peinlich, je weiter der Abend fortschreitet, und die Fragen intimer werden. Das ist weder bildlich noch inhaltlich interessant.

 

Jedes Jahr wieder
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Fundstücke nach nur einem Festivaltag: geborstenen Stühle!

 

Spannungslos


La Mort viendra
von Christoph Hochhäusler will ein Thriller sein, mit Gangsterpaten, die sich gegenseitig Böses wollen, mit einer androgynen Killerin, die den Mord an einem Kurier aufklären soll, und das alles im Raum zwischen Brüssel und Luxemburg. Klingt leider weitaus besser als ist. Ein Dialog kurz vor Schluss des Films zwischen der Killerin und einem der Unterlinge eines der Bosse fasst den Film perfekt zusammen: „Aber das ergibt alles doch überhaupt keinen Sinn.“, lapidare Antwort: „Am Ende vielleicht schon.“
Bloss, Spoiler-Alarm: nein, es ergibt auch am Schluss keinen Sinn. Dazwischen erzählt der Film ohne jegliche Spannung vor sich hin, sodass einem auch völlig egal ist, wer, wen und warum umbringen oder von der Spitze vertreiben will. Das freundlichste, das man sagen kann, der Film ist ordentlich gedreht, die Bilder genretypisch düster, aber insgesamt ist es bieder gemacht und selbst die kurze exzessive Gewaltszene kann da nichts mehr retten.

 

 

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Politik und Familie

 

Auf der Piazza Grande ein freundlicher Film, der die Zuschauer nach Peru und in die 90er Jahre bringt. Reinas von Klaudia Reynicke erzählt gleichzeitig eine Familiengeschichte und die Geschichte der politischen Verhältnisse in Peru. Inflation, Ausgangssperren, Polizeigewalt, vor diesem Hintergrund bereitet eine Mutter sich und ihre beiden Töchter auf die Ausreise in die USA vor. Was noch fehlt, ist die Unterschrift des geschiedenen Vaters der Mädchen, damit sie ausreisen dürfen. Der Vater ist allerdings ein zwar liebenswürdiger, aber chaotischer Träumer, den die Töchter erst gar nicht sehen wollen, und dessen Charme sie dann doch erliegen. Doch seine versponnen Geschichten kombiniert mit der Trotzigkeit der älteren Teenager-Tochter bringt nicht nur die Auswanderungspläne, sondern die ganze Familie in Gefahr. Schön erzählt, sehr gut gespielt, vor allem von den beiden Mädchen, insgesamt vielleicht etwas zu lang. Freundlicher Applaus, aber viel mehr war an diesem Abend nicht zu holen.

 

#Locarno77 Neues zum Start

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Bekanntes und Neues

 

Der graue Regen: bekannt, unvermeidlich, aber dennoch etwas lästig.
Die Stühle: unverändert stehen sie auf der Piazza Grande, und sicher werden jeden Abend einige unter lautem Krachen zerbrechen.
Das Stadtbild: bekannt, in Gelb und Schwarz, aber etwas ist doch minimal anders.
Das Locarno Filmfestival hat nach 15 Jahren den letzten Leoparden in Rente geschickt und einen neuen vom Tierphotographen Tim Flach photographieren lassen. Willkommen Bagheera.

Neu ist auch die Festivalpräsidentin Maja Hoffmann, die Marco Solari ablöst.
Auch wenn der Festivalpräsident während des Festivals eher im Hintergrund zu finden ist, die Aufgabe ist riesig. Die Präsidentschaft ist das Herz des Festivals, sorgt für die wirtschaftlichen und repräsentativen Verbindungen nach Aussen, steht für die innere und auch für die politische Haltung des Festivals.
Unter Marco Solari war damit immer zuallererst die künstlerische Unabhängigkeit und Freiheit gemeint, die er sogar so weit verteidigte, dass er Sponsoren, die Einfluss auf das Programm nehmen wollten, schlicht ablehnte. Und das, obwohl Locarno, wie jedes Filmfestival, auf Sponsorengelder angewiesen ist. An solchen Massnahmen wird Maja Hoffmann sich messen lassen müssen. Hoffmann ist eine andere, jüngere Generation, anders vernetzt, mit möglicherweise anderen Prioritäten, wobei die Gefahr, diesen künstlerisch unabhängigen Charakter Locarnos zu schmälern, eher klein bleiben dürfte.
Denn genau diese Haltung war schon immer das Konzept des tessiner Festivals: unabhängig, mit dem Fokus auf die Filmkunst, auch Stars publikumsnah präsentierend, den Film feiernd, ohne sich dabei in elitärem Glamour zu verstecken.

 

Holpriger Start

 

Ihren Start bei der Eröffnung am frühen Abend verstolpert Maja Hoffmann. Es mag der Nervosität geschuldet sein, aber was sie mit ihrer holprigen Rede eigentlich sagen wollte, bleibt unbekannt.

Giona A. Nazzaro (links)
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Leidenschaftlich und politisch ist dagegen der Auftritt des künstlerischen Leiters Giona A. Nazzaro. Vielsprachig, eloquent und feurig verspricht er, dass Festival als „Haus mit vielen Türen“, als offenen Ort für Begegnungen aller Art, aller Menschen bereitzuhalten. Ähnliche Töne auch von der neuen Kulturministerin Elisabeth Baume-Schneider, die Filme als Möglichkeit bezeichnet, mit und durch die Augen anderer die Welt zu sehen. Beide, Politik und Kunst, betonen die Chance Vielfalt, Diversität und Miteinander hier zu leben.

 

 

 

 

Piazza Grande

 

Der Regen hat sich verzogen, rosa Wölkchen machen einem klaren Sternenhimmel platz.
Die Eröffnung vor dem grossen Publikum fällt recht kurz aus.
Noch ein schneller, verstolperter Auftritt von Maja Hoffmann, Vorstellung der Jurys und der engen Mitarbeiter, kurzer und sehr schöner Zusammenschnitt der Filme der nächsten Tage und dann schon die Präsentation des Eröffnungsfilms.

 

Maja Hoffmann
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Kostümfilm

Le Déluge von Gianluca Jodice erzählt die letzten Wochen Ludwig des 16. und seiner Frau Marie Antoinette im Herbst 1792. Ein Film, in dem Ausstattung und Kostüm sich ordentlich ausgetobt haben, wirklich gelungen ist das Ganze trotzdem nicht. Die königliche Familie, ihrer Privilegien beraubt, auf engem Raum zusammengepfercht, scheint mit sich zu hadern, auf den letzten Metern ihres Lebens scheint ihnen aufzufallen, dass sie nie wirklich gelebt zu haben. Während um sie herum Revolutionäre üben, ihre Defizite in Macht und Terror umzugestalten. Tatsächlich glaubt man beiden Parteien ihre Anliegen nicht wirklich. Am spannendsten ist noch der Moment, als der König am Abend vor seiner Hinrichtung bittet, den Scharfrichter sprechen zu dürfen, und ihn darüber ausfragt, wie denn der Ablauf der Hinrichtung sein wird.
Aber braucht man heute einen Film, der zeigt, dass auch Herrscher Menschen sind und Revolutionäre weder allwissend noch tugendhaft sind? Der Ansatz kommt dann doch recht altbacken rüber.
Der Applaus hielt sich in höflichen Grenzen.

 

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#FilmTipp Love Lies Bleeding

 

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Liebe, Blut und Anabolika

 


Von Anfang an ist bei Love Lies Bleeding von Rose Glass offensichtlich, dass Szenerie und Protagonisten irgendwie kaputt sind.
Ein trostloses Kaff in New Mexico und Menschen, die genauso trostlos wirken, wie der Ort, an dem sie leben.
Die junge Bodybuilderin Jacky, die auf dem Weg nach Las Vegas dort landet und davon träumt, durch einen Sieg in einem Wettbewerb in Kalifornien als Trainerin zu reüssieren, hat da noch die schillerndsten Zukunftsbilder. Für die anderen reicht es schon, in Ruhe gelassen zu werden, wie bei Lou, die im abgerockten lokalen Fitness-Studio arbeitet. Für ihre Schwester ist der prügelnde Ehemann ein Zeichen von Liebe und der Vater, ein ebenso manipulativer, wie ekelhafter Verbrecher, beherrscht den Ort, lokale Polizei inklusive.
Dass sich Jacky und Lou sich verlieben, verschiebt die bestehenden Verhältnisse und modifiziert die Perspektiven – wenigstens ein Stück. Als dann die Schwester ein weiteres Mal schwer misshandelt im Krankenhaus landet, explodiert die Gewalt und löst eine Kettenreaktion aus.

 

Genremix
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Der Film bedient sich frech und fröhlich bei vielen Filmgenres: toppt Gewalt mit kurzen Splatter-Schockeffeketen, verwebt farbveränderte Bilder, die Träume oder Erinnerungen sein können und fürchtet sich nicht davor mit Comicelementen zu spielen, wenn zum Beispiel die Muskeln durch die gespritzten Anabolika sicht- und hörbar anwachsen. Zusammen ergibt das eine ziemlich wilde Geschichte, von der man sich nicht vorstellen kann, dass es da einen harmonischen Ausklang geben kann.
Die Liebesgeschichte, die so oft als besonders romantisch herbeigeschrieben wird, ist tatsächlich der kleinste Aspekt des Films. Sie ist das Streichholz am Pulverfass, aber bei weitem nicht die Essenz der Story und das ist gut so.
Vieles bleibt offen im Film, es gibt keine Erklärung zu Hintergründen oder Vergangenheit, Dinge geschehen und gehen vorbei, die Welt dreht sich langsam weiter. Wenn man sich darauf einlassen kann, dann macht der Film wirklich viel Spass. Und kühl ist es im Kino auch.

#FilmTipp Kinds of Kindness

 

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Liebe und Grausamkeiten

Drei Episoden, drei Geschichten, in denen fabelhafte Darsteller zeigen, wie das Böse und Grausame auch komplett ohne Geschrei und offensichtliche Brutalität, nämlich im Schafspelz der Liebe, Leben zerstört.
Kinds of Kindness von Yorgos Lanthimos zeigt, dass Liebe nicht immer Liebe ist.

Die Episoden, sind nicht nur toll gespielt, allen voran von Emma Stone und Willem Dafoe, sondern sie nutzen auch wunderbare Bilder, um Freundlichkeit zu suggerieren, wo doch in Wahrheit das Böse herrscht. Manche Bilder erinnern an Hopper Gemälde, das Trostlose von Motelzimmern, die grafische Genauigkeit eines Parkplatzes: Hopper in Bewegung. Schön sind auch die Wechsel von extrem nahen Einstellungen zu Totalen, die eine eigenwillige Abstraktion erzeugen. Die Filmmusik schafft es, die Szenen und Stimmungen zu unterstreichen, hervorzuheben, ohne aufdringlich zu sein.

Was etwas enttäuscht ist, dass die Episoden zwar das Grundthema gemeinsam haben, und die Darsteller in allen Episoden spielen, aber es untereinander keine Verbindung, es keine wie auch immer geartete Auflösung gibt. Dadurch wird der Film mit 165 Minuten doch recht lang, selbst wenn man die drei Episoden als drei längere Kurzfilme sehen kann.

Trotzdem

Warum es sich dennoch lohnt, den Film zu sehen?
Wegen der irren Einfälle und Spielarten von Gemeinheit und Grausamkeit.
Wegen der, bei Lanthimos gewohnten, Fülle an schrägen Einfällen und wahnsinnigen Figuren. Wegen der Subtilität der Ekelhaftigkeiten, sei es auch nur, um zu lernen diese oder ihre Verwandten im wahren Leben zu entlarven.
Insgesamt unterhaltsam, wenn man keine Probleme mit Blut auf der Leinwand hat und kein Happy End braucht.

Der Film läuft in Wien in Originalfassung im Filmcasino und im Filmhaus.

 

#FilmTipp Omen

 

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Träume, Albträume, Tradition

 

Der Filmemacher und Rapper Baloji verführt mit seinem üppig-buntem Spektakelfilm Omen in eine Welt voller Träume, Albträume, Aberglauben und Traditionen.

Koffi, Epileptiker und mit einem Feuermal geboren, wurde von klein an von seiner Mutter abgelehnt und von seiner Familie als eine Art Teufel betrachtet. So verlässt er als Teenager seine Heimat, die Demokratische Republik Kongo, um in Belgien, der ehemaligen Kolonialmacht, zu leben.
Als er mit seiner schwangeren belgischen Freundin zurückfährt, um doch noch irgendwie den Segen der Familie zu bekommen, stehen die beiden bald in unübersichtlichem Chaos.
Parallel gibt es den Konflikt von zwei örtlichen Jugendbanden, von denen die einen in rosa Kleidchen rumlaufen und die anderen mit Leopardenkappe das Bild des Diktators Mobutu aufleben lassen.
Die Geschichten kreuzen sich immer wieder und sind gleichzeitig Abbilder verschiedener Aspekte des Landes.

 

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Bunt und sehr rhythmisch entsteht ein filmisches Mosaik, das gleichzeitig wichtige Fragen stellt. Fragen nach Identität und Heimat, nach Selbstwert und Selbstermächtigung, und all das vor dem Hintergrund archaischer und christlicher Traditionen und Kolonialismus gemischt mit Erinnerungen, Albträumen und Wünschen.
Schicht für Schicht wird das Mosaik dichter, wobei sich manche Frage klären und andere unbeantwortet bleiben. Eine sehr schöne filmische Reise, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Der Film läuft in Wien im Stadtkino, im Admiralkino und im Votivkino in Originalversion.

 

 

#FilmTipp Fall Guy

 

Artis Kino, Wien
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Stuntman oder Sündenbock

 

Auch wer die Serie aus den 80er Jahre über den Stuntman Colt Seavers nicht kennen, kann Freude an Fall Guy von David Leitch haben.
Allerdings sollte man dringend Spass an Action-Komödien haben. Spass daran, dass gefühlt jede Sekunde im Film irgendetwas explodiert, durch die Luft fliegt, brennt oder halsbrecherisch über Hindernisse springt.

 

In die Luft gejagt

Grob geht es um den Stuntman Colt Seavers, der nach einem Unfall beim Dreh eines Actionfilms schwer verletzt wird. Daraufhin stockt die zart beginnenden Romanze mit der Kamerafrau Jody.
Zeitsprung ins Hier und jetzt der Geschichte: Jody führt Regie, Colt wird von der Produktion für Stunts engagiert, soll aber parallel dazu den verschwundenen schnöseligen Hauptdarsteller finden und zurückbringen.
Zu diesem – recht frühen – Zeitpunkt im Film ist zweierlei klar: Die Romanze wird gut enden, und es werden noch viel mehr Lastwagen, Helikopter, Menschen und Autos durch die Luft fliegen. Eine klassische Heldenreise beginnt.

Film im Film

Dieser Film im Film macht sich dabei gnadenlos über alles lustig: über Stuntmen, über Action-Stars, über Dreharbeiten und über Romanzen.
Nachdem die Frage: darf Colt Jody am Schluss küssen aus dem (filmischen) Weg ist, ist der Weg für wilden Action frei. Der Zuschauer weiss den Film über nie mehr, als der Held, was eindeutig die Spannung hebt, was Wendungen glaubhaft macht, weil gar nicht versucht werden muss, diese im Vorfeld schon anzudeuten.
Während die Filmgeschichte mit zwei Realitätsebenen spielt: Hier Stunts, die geplant und sicher sind, dort Gefahr für Leib und Leben ohne Absicherung, hat der Zuschauer die dritte Ebene, in der alles sicher und geplant ist, eine Ebene, die für zusätzliche Komik sorgt.

 

Spannung

Auch wenn keine Sekunde Zweifel am erfolgreichen Ende der Geschichte besteht, hält der Film die Spannung über die gesamte Länge von etwas mehr als zwei Stunden mühelos. Und egal wie wahnsinnig die Crashs und Stunts sind, der Film bleibt familientauglich, wesentlich mehr als blaue Flecken bekommt niemand ab.
Fall Guy ist laut, schnell und lustig und drückt einen beim Schauen fest und tief in die Kinositze. Auf alle Fälle sollte man wirklich bis zum Ende im Kino bleiben, setzt der Schluss nach dem Schluss der Geschichte doch noch eine hübsche Pointe auf.

Fall Guy läuft im Artis Kino und im Haydn Kino in Originalversion.

 

 

#FilmTipp Robot Dreams

 

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Freundschaft

 

Ein einsamer Hund, mitten im New York der 80er Jahre.
Einfache Videospiele, Mac&Cheese aus der Mikrowelle, und neidvolle Blicke durchs Fenster in Nachbarwohnungen, wo kein Tier alleine ist.
Der Animationsfilm Robot Dreams von Pablo Berger zeigt den Ausbruch aus der Einsamkeit mit Herz, Witz und unerwarteten Wendungen.

Roboter Kumpel

 

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So kommt der Roboterkumpel als Bausatz ins Haus. Es wird geschraubt und gelötet, und nach kurzer Zeit ist der Elektro-Kerl fertig und der Hund in Gesellschaft.
Komplett ohne Dialoge erzählt der Film nicht nur die Beziehung zwischen Hund und sehr menschlicher Maschine, sondern auch die vielfältigen Figuren, Gruppen und Typen, die New York bevölkern. Das bullige Nashorn als Polizist, Affen oder Löwen als Punks, der dicke Gorilla als Parkwächter, und immer sieht man die (menschlichen) Typen hinter den Tieren.

Verlust

Nach einem glücklichen, aktiven Tag am Strand, ist der Roboter allerdings bewegungsunfähig. Und damit beginnt das Drama.
Zu schwer, um weggeschleppt zu werden, muss der Hund seinen Freund am Strand lassen. Lange am Strand lassen.

Träume und Parallelen

Zeit streicht über den Strand, der Roboter träumt, der Hund leidet wieder alleine in seiner Wohnung.
Es ist herzzrerreissend, aber auch schön. Begegnungen und Wendungen auf beiden Seiten und ein Ende, das man so nicht ganz erwartet. Aber auch das: schön.

Der Film läuft in Wien im Filmcasino, Haydnkino und Apollokino.

 

#FilmTipp Amsel im Brombeerstrauch

 

(c) ch.dériaz

VOm Festival ins Kino

 

Für alle, die sich fragen, wann denn meine bei Festivals gesehenen und besprochenen Filme regulär in die Kinos kommen, ist die Antwort: Jetzt.
Der wunderbare Blackbird Blackbird Blackberry von Elene Naveriani kommt in Originalversion, aber unter dem deutschen Titel Amsel im Brombeerstrauch, ins Kino. Am 2. Mai ist Premiere in Anwesenheit von Elene Naveriani.

 

Späte Liebe

 

Wie bei Naverianis letztem Film Wet Sand spielen auch hier Farben und Bildausschnitte eine zentrale Rolle, und begeistern und verzaubern jenseits der wunderbaren Geschichte.

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Ein kleines Dorf, irgendwo in Georgien, die Zeit ist daran vorbeigegangen, ein kleiner Laden für Seifen und Waschmittel, eine Frau, fast fünfzig, alleinstehend, zufrieden. Etero (toll: Eka Chavleishvili )
ist selbst dann mit sich und der Welt im Reinen, wenn sie von ihren Freundinnen übel verspottet wird. Unerwartet, und ganz schön spät im Leben, platzt die erste – körperliche – Liebe in ihr Leben, Gefühle, die sie so nicht kennt und über die sie auch nicht sprechen kann und mag. Jede Einstellung in diesem Film möchte man als Postkarte oder als Poster an die Wand hängen. Naveriani gestaltet ihre Szenen wie Gemälde, wählt Farben und Ausschnitte, jedes kleinste Detail gehört zur Inszenierung, kein Zufall, keine unnötige Bewegung. Die Farben der Orte spiegeln die Gefühle der Protagonistin wider. So dominieren in ihrem Zuhause warme Erdtöne wie bei niederländischen Meistern, bei den Dorffrauen sind es eher helle Töne, die nie ganz zusammenpassen. Das lesbische Paar in der nächsten Stadt wiederum ist in leuchtendes Pastell gehüllt, passend zur liebevollen Atmosphäre, die dort herrscht und mit der Etero dort empfangen wird. Der Film lässt offen, ob man am Anfang des Films bereits das Ende vorhersieht, oder ob das nur eine mögliche Vision von Etero ist; man kann also wahlweise traurig oder eher beschwingt den Saal verlassen. Beglückt ist man auf jeden Fall.

 

 

Mittlerweile hat der Film einige Filmpreise gewonnen:
Schweizer Filmpreis 2024:  „Bester Spielfilm“, „Bester Schnitt“ und „Bestes Drehbuch“. Sarajevo Film Festival 2023: Heart Of Sarajevo für den besten Spielfilm und an Eka Chavleishvili für die beste schauspielerische Leistung.

Der Film läuft in Wien im Stadtkino

 

#Visions du Réel 2024 Sehen lernen

 

(c) Visions du Réel

 

 

Aufmerksam Schauen

 

In Nyon fand gerade das internationale Dokumentarfilmfestival Visions du Réel statt.
Dank der Möglichkeit, online am Festival teilzunehmen, hier ein Blick auf die 55. Ausgabe. Was auffällt, wenn man das Programm durchgeht, sind die wirklich vielen Weltpremieren, was auch den Stellenwert des Festivals reflektiert.

Sehen können

Wer versteht zu sehen, erkennt neben dem Sichtbaren auch das Unsichtbare.
Das gilt für Nicole Vögeles
The Landscape and the Fury genauso wie für die Zuschauer ihres ungewöhnlichen und mit dem Hauptpreis ausgezeichneten Films.
In sehr langen, meist statischen Einstellungen bewegt sie sich durch die Jahreszeiten im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet. Man sieht der Landschaft und ihren Bewohner immer noch die Narben und Wunden des Krieges an. Minen liegen weiterhin in den Wäldern, Häuser zeigen Einschusslöcher, die Bewohner reden über ihre Erlebnisse im Krieg. Gleichzeitig versuchen Flüchtlinge aus neuen Kriegs- und Krisengebieten dort über die Grenze nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen. Das ruhige Tempo, die Totalen, die auch immer wieder im Dunkeln nur schemenhaft etwas preisgeben, die beiläufig aufgeschnappten Gespräche, all das schärft den Blick des Zuschauers. Zeigt Verbindungen, zeigt, wie an dieser Grenze unmenschliche Pushbacks und menschliche Wärme nebeneinander existieren, genauso wie die Minen und die Fluchtwege.

 

Ein weiterer Preisträgerfilm, diesmal in der Kategorie national:
Valentina and the MUOSters von Francesca Scalisi.
Auch hier überwiegt die Ruhe, das Anschauen und ein bisschen das Verrückte. Valentina ist 27, lebt bei ihren Eltern und tut nicht viel, ausser hübsche, kleine Blumen zu häklen. Ihr Leben, wie das ihre Familie, ist stark verwurzelt mit dem ländlichen Sizilien, auch wenn eine Anlage riesiger US-Militärsatelliten das Leben erschweren und die Landschaft verschandeln. Aus der anfangs etwas patzig wirkenden jungen Frau entwickelt sich im Lauf des Films aber eine Frau mit Widerspruchsgeist, die auch ihr Leben in die Hand nehmen wird. Die Satelliten, die Militärkontrollen, all das strukturiert visuell und gibt dem Film eine etwas mysteriöse, versponnene Note. Aber genau das ist sehr schön.

 

Perspektivwechsel

Manchmal versteht man Bekanntes (noch) besser, wenn es aus einer anderen Perspektive erzählt wird.
Preparations for a Miracle von Tobias Nölle macht genau das.
Die bekannten Bilder der Proteste um die Erweiterung des Kohletagebaus in Lützerath neu gesehen und eingeordnet von einem zeitreisenden Androiden. Eine tagebuchartige Erzählstimme, dazu immer wieder die Füsse, Hände oder Beine des Androiden, machen aus den Bildern eine filmische Subjektive. Baumaschinen, Traktoren, Roboter werden zu verehrten Vorfahren, zu Helden, die im 21. Jahrhundert noch versklavt waren. Ihre Bewegungen werden zu Tänzen, man vermeint plötzlich Augen und Gesichter zu sehen, Reaktionen, der Android interagiert mit seinen Vorfahren. Die Demos werden als Huldigungen eingeordnet, die Baggerarbeiten als Vorbereitung für ein grosses Ereignis. Naiv und spielerisch bewegt sich der Gast durch unsere Zeit, und verdeutlicht den Konflikt, ohne ihn ein einziges Mal als solchen darzustellen. Das ist sehr gewitzt und märchenhaft.

 

Seitenwechsel

Der Genfer Regisseur Yvan Yagchi macht sich auf den Weg nach Israel, er will verstehen, wieso sein ältester Freund in eine Siedlung ins Westjordanland gezogen ist.  Avant il n’y avait rien fängt an als Versuch, eine Erklärung zu finden.
Yagchis Familie ist 1948 aus Palästina zunächst in den Libanon geflüchtet, seine Mutter dann später in die Schweiz. Sein Kindheitsfreund wuchs als Adoptivkind in einer reformierten jüdischen Familie in Genf auf. Aber warum wird er zum Siedler? Der Versuch, die abgebrochenen Beziehung wieder zu kitten, misslingt. Anfangs scheint eine gemeinsame Ebene denkbar, aber plötzlich will der Freund mit dem Film nichts mehr zu tun haben, droht mit Anwälten und fordert den Abbruch. Aber das Projekt ist schon recht weit, es gibt Förderung, ein kompletter Abbruch wäre fatal. Und so wird die Geschichte eine Suche nach den eigenen Wurzeln, und ein langer filmischer Brief an den Freund.
Aus der Situation, den Freund nicht mehr zeigen zu können, entwickelt Yagchis ein künstlerisches System, er lässt den Freund mit weissem Gekrakel übermalen, und nimmt das comichafte dann auf, als er seinen eigenen Urgrossvater gezeichnet mit in die Geschichte bringt. Ein sehr starker Film, der viel persönlichen Schmerz öffentlich macht, ohne peinlich zu werden.

 

Schatten

 

My Memory Is Full of Ghosts von Anas Zawahri ist ein langer Spaziergang durch das sehr zerstörte syrische Homs. Im Off Erinnerungen an gute und an schreckliche Momente verschiedener Bewohner der Stadt. Man sieht sie nie reden, keine klassischen Interviews, statt dessen Gänge, Fahrten, Orte, Menschen, die inmitten von Zerstörung Alltag leben. Das ist zum Teil bedrückend, weil jedes Bild immer auch das Fehlen beinhaltet, und doch sind manche Geschichten fast hoffnungsvoll und fest verwurzelt in einem Ort, den die Leute ihr Zuhause nennen.

 

Empathie

Männer und Frauen in medizinischen Berufen lernen in Rollenspielen mit Schauspielern den Umgang mit Patienten, mit Kollegen, mit stressigen, schweren Situationen. Wie das funktioniert, zeigt Sauve qui peut von Alexe Poukine.
Bei allem Ernst, den die Übungen haben, ist der Film extrem unterhaltsam und zeitweise sehr lustig. Trotzdem wird recht schnell klar, dass diese Rollenspiele für das medizinische Personal wirklich wichtig und hilfreich sind. Die Studenten üben so den Umgang mit Patienten, bekommen aber auch von den Darstellern Rückmeldung, wie ihr Verhalten ankommt. Und für bereits im Beruf Stehende sind die Übungen eine Möglichkeit, auszuprobieren, was für Varianten im Verhalten möglich sind. Bleibt zu hoffen, dass solche Übungen nicht nur sporadisch, sondern vielleicht grundsätzlich zur Verfügung stehen.

 

Film-Bilder

 

The Return of the Projectionist von Orkhan Aghazadeh ist eine Liebeserklärung ans Kino.
Irgendwo in Aserbaidschan, an einem Ort, wo man am besten nachts mit dem Laptop auf einen Hügel steigt, wenn man eine stabile Internetverbindung braucht, treffen ein alter Filmvorführer und ein sehr junger Filmemacher aufeinander. In wunderschönen Bildern erzählt der Film von der Freundschaft der beiden, aber auch von ihrem Versuch, einen Kinoabend zurück ins Dorf zu bringen. Ein Versuch, der fast scheitert, weil die bestellten Lampen für den Projektor auch nach Monaten nicht angekommen sind. Mit Liebe zum Kino, zum Filmemachen und mit viel Phantasie schaffen beide, ihre jeweiligen Stärken so zu koppeln, dass am Ende das ganze Dorf eine Filmvorführung erleben kann. Einfach nur schön.

 

(c) Visions du Réel

 

Mehr Informationen zum Festival, zu den Preisträgern auf der Webseite des Festivals.