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#Diagonale 2024 Sichtbarkeit

 

 

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Sichtbarkeit

 

Im Vergleich zu vergangenen Jahren scheint die Diagonale im Strassenbild weniger sichtbar zu sein. Wo früher überall die roten Fahnen mit dem Diagonalelogo hingen, findet sich in diesem Jahr nichts. Allein in den Schaufenstern der Stadt finden sich Interpretationen und Varianten des neuen Logos, der Wettbewerb zum besten Schaufenster läuft auch in diesem Jahr.

Bei der Online-Buchung der Filme hat sich nichts geändert – leider. Denn weiterhin gibt es zur Buchung keine Saalpläne, auf denen man sich den Sitzplatz aussuchen kann, sondern nur eine Liste verfügbarer Plätze, man kann dann raten, wo der Platz im Kinosaal und zur Leinwand liegen wird. Auch gibt es weiterhin keine App, mit der man unterwegs die gebuchten Plätze bestätigen (oder stornieren) kann. Das ist unpraktisch, denn die Karten müssen bestätigt werden, und so muss man mit Mobilgeräten auf der Webseite navigieren. Unpraktisch.

 

Über Grenzen

 

Das erste Programm: Kurzdokumentarfilme, die alle thematisch um Grenzen, Grenzüberschreitung und Identität kreisen. Fast alle Filme suchen und finden Bilder, um die „Erzählung“ aus dem Off zu verdichten.
In Those Next to Us von Bernhard Hetzenauer erzählt ein Mexikaner, wie er versucht hat, mithilfe von Schleppern in die USA zu gelangen. Es ist eine tragische, eine unangenehme Geschichte, auch wenn die Stimme sie fast beiläufig erscheinen lässt. Menschen sterben bei diesem Versuch, die anderen werden eingesperrt und zurückgeschickt. Bebildert wird das mit ruhigen Totalen auf beiden Seiten der Grenze, Autos fahren vorbei, Lastwagen in langen Schlangen, eine weite Ödnis, deprimierende Orte, von denen man weder losfahren noch dort ankommen möchte. Gedreht wurde auf analogem 16 mm Material, das dem Film eine gewisse Körnigkeit verleiht, die das Triste sanft unterstreicht.

Auch Memories of the Foreign von Tolga Karaaslan lässt im Off eine Migrationsgeschichte aufstehen. Eine Geschichte, wie sie in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts üblich war: Nur kurz sollte die Zeit im Ausland dauern, und dann blieb man, es kamen Kinder, es kamen deren Kinder, die in der Fremde der Eltern und Grosseltern zu Hause sind. Auch hier sind die Bilder körnig, schwarzweiss und, da auf 8 mm Material gedreht, leicht verschwommen. Häuser und Orte, stellvertretend für andere Orte, andere Strassen, die erst Unterkunft und dann zu Hause waren.

Bond von Anna Witt arbeitet mit einer Gruppe Jugendlicher in Bremen, die meisten Enkel von Gastarbeitern der 70-er Jahre. Sie erforschen ihre Identität als Deutsche mit Wurzeln in anderen Ländern, die ihnen auch nah und wichtig sind. Spielerisch arbeiten sie mit Photos aus der Zeit ihrer Grosseltern, stellen sie nach, interagieren damit. Und bei allem Spass bleibt doch der ernste Wunsch, sich sichtbar zu positionierten in dieser Welt.

Im letzten Film des Programms wieder Off-Erzählungen. Mona Rizaj lässt in Mut Me Lule ihre Grosseltern in Österreich und im Kosovo zu Wort kommen. Im Zusammenschnitt der Erzählungen und der Bilder der jeweiligen Wohnorte zeigt sich, wie ähnlich sich die Familien sind, wie ähnlich auch ihre jeweiligen Vorbehalte gegen die binationale Ehe ihrer Eltern waren. In ihr und in ihrem Film wird das Trennende zum Verbindenden und das auf ganz leichte Art.

 

 

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Wie alles anfing

 

Unter dem Titel „Die erste Schicht“ widmet sich eine eigene Filmschiene der ersten Generation, die man in den 60er und 70-er Jahren Gastarbeiter nannte. Nicht der Aussenblick auf die Menschen, sondern ihr eigener filmischer Blick soll dabei im Zentrum stehen.

Der Kurzfilm von 1971 Jesenice–Stuttgart itd … von Miroslav Mikuljan mischt Bilder der in Jugoslawien in übervolle Züge steigende Menschen mit einer festlichen Ansprache eines deutschen Gewerkschaftsführers und schrägem Bierzeltliedgut. Daraus entsteht ein absurdes Kunstwerk, so komisch wie entlarvend und bitter.

Otobüs / Der Bus (1975) von Bay Okan treibt das Absurde weiter ins Surreale. Eine Gruppe türkischer Männer wird von ihrem, ebenfalls türkischen, Schlepper auf einem Platz mitten in Stockholm ohne Papiere und ohne Geld in einem schrottreifen Bus „geparkt“. Während der Schlepper mit der Kohle nach Deutschland zu seinem – deutschen – Auftraggeber verschwindet, trauen sich die Männer in Stockholm höchstens Nachts aus dem Bus. Alle Figuren im Film sind überzeichnet, stereotyp, und die Situationen, die entstehen, werden immer grausamer. Eine surreale Parabel zum Thema Fremdsein, Gleichgültigkeit und Ausbeutung. An die heute etwas plump wirkende Inszenierung gewöhnt man sich nach einem Moment. Der Film ist ein echtes Juwel.

 

Hinter den Kulissen

 

Graz fühlt sich an wie Frühsommer, nicht wie Frühjahr, also ein schnelles Eis zwischen den Kinos; gar nicht so einfach, weil, auch wenn die Grazer Innenstadt eine der höchsten Eisdielendichten hat, sind überall lange Schlangen.
Trotz sommerlicher Lebensfreude, die Vorstellungen sind gut besucht.

Eine Art Gegenblick zu den Filmen heute Vormittag: Vista Mare von Julia Gutweniger und Florian Kofler. Sie zeigen das aufwendige und personalintensive Arbeiten hinter den Kulissen italienischer Adria-Orte. Vom Aufbau über die Hauptsaison bis zum Abbau im Herbst. Sowohl der Aufwand als auch das touristische Gewusel in der Hochsaison sind beeindruckend. Eine Maschine aus –vermutlich schlecht bezahlten – Saisonarbeitern, die sich um den Industriezweig Tourismus kümmern, gedreht in sehr schönen Bildern.

 

Beziehungen

 

Romantische Komödien können sehr nervig sein, meist laufen sie nach einem öden, bekanntem Muster ab, das man nach den ersten 10 Minuten mitbeten kann. Manchmal gibt es dann welche, die mit den gleichen Komponenten sorgfältiger umgehen, subtiler um die Kitschklippen fahren, und dann trotz aller Vorbehalte lustig und unterhaltsam sind. What a Feeling von Kat Rohrer schafft das – zumindest fast. Nicht weil sie zwei Frauen in amouröse Verwicklungen schickt, sondern vor allem, weil sie zwei wirklich toll spielende Darstellerinnen, Carolin Peters und Proschat Madani, hat. Allein wie Peters sturzbetrunken durchs nächtliche Wien stolpert, ist sehenswert. Besoffen, wie sie ist, weil ihr Mann ihr gerade eröffnet hat, sein Leben umkrempeln zu müssen, stolpert sie wörtlich in eine Lesbenkneipe. Dort lernt sie eine Frau kennen. Aber ist etwas passiert zwischen beiden oder macht sich Fa nur über Marie-Theres lustig? Mit einigem Hin- und Her, mit Geheimniskrämerei auf beiden Seiten, nimmt die Komödie die gefährlichste Klippe, die, wo eine dramatische Intervention das Ganze böse an den Kitsch verlieren kann. Ein bisschen weniger dick hätte es am Schluss ruhig sein dürfen, auch bei einer Komödie müssen vielleicht nicht alle Protagonisten am Ende glücklich, geläutert oder zufrieden sein. Dem Publikum gefiel es, der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt, und der Film wird sicher auch regulär im Kino gut laufen.
Ein Plus an queerer Sichtbarkeit, auch bei gängigen, populären Filmgenres, ist sicher schon mal eine gute Sache.

 

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#Diagonale 2024 Die Eröffnung

 

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Die Neuen

 

Die Grazer Diagonale hat eine neue Doppelintendanz: Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar. Und noch bevor man sich ein inhaltlich-künstlerische Bild von ihnen machen kann, stechen einige Neuerungen ins Auge. Das Logo ist schlichter, aufgeräumter geworden, der Anfangstermin von Dienstag auf Donnerstag verschoben, der Katalog in Buchform ist verschwunden. Der Termin hat technische Gründe, zeitgemäss ist ein dicker, schwerer Katalog wohl eher nicht mehr und über das neue Logo könnte man streiten.
Was bleibt, ist die Eröffnung in der Helmut-List Halle, mit einer fröhlich-launigen Moderatorin, der Verleihung des Grossen Diagonale Schauspiel-Preises, dieses Jahr an Lukas Miko, mit Laudatio und emotionaler Dankesrede, und natürlich mit der Eröffnungsrede der Intendanten.
Waren die Reden der letzten Jahre oft (kultur)politisch und von kleinen Witzeleien und der persönlichen Sicht auf Film als Kunst- und Ausdrucksform geprägt, fielen Kamalzadeh und Slanar eher durch einen etwas trockenen und auch eher unpersönlichen Stil auf. Zentraler Satz, der natürlich einem Filmfestival bestens als „Gebrauchsanleitung“ dienen kann, die Hervorhebung der Kunst des Zusehens und des Zuhörens.
Die kommenden fünf Tagen sollten dazu reichlich Gelegenheit bieten.

 

Kinder

 

Ruth Beckermanns Dokumentarfilm Favoriten hat nach knapp einer Minute bereits die Zuschauer für sich eingenommen. Das ist rekordverdächtig.
Drei Jahre lang hat Beckermann mit kleinem Team eine Grundschulklasse und deren Lehrerin begleitet. Eine Klasse im Wiener Bezirk Favoriten, den manche Politiker gerne für ihre hässlichen Polemiken ausbeuten und zum Problembezirk stilisieren. Und ja, in der Klasse sind 24 Kinder, von denen wohl keines Eltern hat, die gebürtige Österreicher sind. Aber da hört dann die Problematik auch schon auf. Was man sieht, ist ein Haufen quirliger Kinder, denen nichts weniger als die Grundlage für ein selbstbestimmtes, respektvolles Leben beigebracht wird. Die Kamera bleibt scheinbar mühelos an den Kindern, reagiert entspannt auf Situationen und bindet die Kinder und die Lehrerin in das Drehgeschehen ein. So bekommt die Klasse den Auftrag, mit ihren Handys selber zu drehen, „bitte nicht hochkant und nicht die Finger vor die Linse halten“ wird ihnen mitgegeben, und schon legen sie los, mit Freude und Witz.
Es gibt extrem lustige und dann auch wieder ernste Momente, und eine Lehrerin, die diesen „Flohzirkus“ mit Freundlichkeit und Können leitet. Beckermann, und mit ihr die Zuschauer, beobachten, ohne zu bewerten, die persönlichen Entwicklungen der Kinder, die Schwierigkeiten und deren mögliche Lösungen liegen klar auf der Hand. Am Ende des Films glaubt man, was die Lehrerin den Kleinen, die auf andere Schulen wechseln werden, mitgibt: Ihr seid alle toll und ihr werdet alle einen guten Weg finden. Man hat am Ende aber auch verstanden, was für eine Mammutaufgabe das ist.

Das Publikum in Graz war begeistert, nicht nur vom Film, denn als die Lehrerin auf die Bühne kam, gab es noch mehr Beifall, der sich zu stehenden Ovationen steigerte. Ein guter Dokumentarfilm braucht auch Protagonisten, die von der Leinwand direkt die Zuschauer erreichen können.

 

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#FilmTipp The Zone of Interest

 

 

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Wenn die Idee besser ist als der Film

 

Alle, so scheint es, finden The Zone of Interest von Jonathan Glazer grossartig.
Die Kritiken übertreffen einander in Superlativen, und die Academy of Motion Pictures wählte das Werk gerade zum besten nicht-englischsprachigem Film.
Alle? Nein, nicht alle!
Der Film ist eine Enttäuschung.

 

Die gute Idee

 

Die gute Idee, die vielleicht geplant war, zu zeigen, dass das Böse auch in Gestalt des Alltäglichen daher kommen kann, also eine Art Visualisierung von Hannah Arendts Aussage der „Banalität des Bösen“, ist so nicht machbar.
Der Nazi also als lieber Papa, der Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß, der völlig entspannt direkt neben dem Vernichtungslager mit seiner Familie ein beschaulich-spiessiges Leben führt. Unbehelligt, unbeeindruckt vom Grauen jenseits der Gartenmauer, für das Höß persönlich verantwortlich ist.
So weit, so interessant. Zumindest in der Theorie.
Das Problem kommt dann zweiteilig.

Banales

Einerseits ist Banales an sich eher langweilig. Da lebt diese merkwürdige Familie vor sich hin. Vater, Mutter, fünf Kinder, ein aufdringlicher Hund, ein Garten voller Blumen und Gemüse. Papa lässt sich von einer nicht näher definierten Frau – gelegentlich – sexuell beglücken, Mama lässt ihre schlechte Laune am, nicht näher definierten, Personal aus. Der grosse Bruder ärgert den kleinen Bruder, wenn er nicht gerade nachts herausgebrochenen Goldzähne anschaut. Dass beide Erwachsenen genau wissen, was sie tun, oder was hinter der Gartenmauer vor sich geht, ist völlig klar. Aber der Kontrast des Bösen zu ihrer ländlichen Familienidylle ist tatsächlich uninteressant. Oder nicht überraschend. Auf jeden Fall nicht ausreichend für eine Geschichte. Da hilft auch die viel gerühmte, suggestive, aber sehr abstrakte Tongestaltung nicht.

Dramaturgisches Geschwurbel

 

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Dazu kommt der Aspekt der Dramaturgie, oder der Regieeinfälle, die verwirren, ohne einen Mehrwert zu bieten. Zweimal sieht man Bilder, als Negativ bearbeitet, die eine junge Frau beim Verteilen von Obst und Gemüse am Rand des Lagers zeigen. Beide Male ist diese visuell etwas befremdliche Aktion parallel geschnitten mit der schlafwandelnden Tochter, die vom Vater liebevoll eingesammelt wird. Die Frage, wer diese Person ist, ist dabei viel weniger drängend, als die Fragen: warum wird das an der Stelle gezeigt, warum mit diesem Stilelement, und was hat das mit der kleinen Tochter zu tun?
Am Ende des Films darf Höß episch lang ein leeres Treppenhaus heruntergehen, dass und warum er dabei plötzlich kotzt, völlig unverständlich. Hat er sich doch gerade erfreut gezeigt, dass er den Auftrag bekommen hat, eine grosse Anzahl ungarischer Juden schnellstens und effektiv zu ermorden. Warum diese Sequenz aber unterbrochen wird von Bildern der Gedenkstätte Auschwitz heute, nur um dann am Ende doch wieder zum kotzenden Nazi zu wechseln, bleibt ein ärgerliches Mysterium.

Unsympathisch

Was bleibt ist eine biedere, langweilige Familie, mit höchst unschönen Ansichten und der Macht, diese in Taten zu übersetzen. Wenn man sich auch nur ein wenig mit dem Nationalsozialismus (oder auch anderen totalitären Regimen) beschäftigt, ist es keine wahnsinnige Überraschung, dass die Mörder tier- und kinderlieb sind, ihre Partner lieben – und betrügen –, wie halt jeder andere Mensch auch.
Aber sympathisch, im Sinne von “Mein netter Nachbar, der Massenmörder“, sind die Höß’ zu keinem Zeitpunkt im Film.
Und wenn man bis zum Ende des Abspanns bleibt, liest man mit Verwunderung, dass dies eine fiktionale Geschichte ist, die Namen frei erfunden und jegliche Ähnlichkeit mit echten Personen rein zufällig ist !?
Nein, eigentlich nicht.
Eine wirkliche Filmempfehlung ist das nicht.

 

#FilmTipp Stillstand

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Da war doch was

 

Es ist noch gar nicht lange her, da stand die Welt, wie wir sie kennen, still.
Die Pandemie bestimmte den Tagesablauf, führte zu Situationen, zu Überlegungen, die bis dahin nicht für möglich gehalten worden waren.
Nikolaus Geyrhalters neuer Film Stillstand lässt diese fast zwei Jahre auf der Leinwand Revue passieren.
Und er macht das mit gewohnter Präzision, Geduld und grosser Schönheit.

 

Erinnern

 

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Jeder war dabei, jeder war betroffen, und doch erinnert man sich nur partiell an die Ereignisse. Manches ist immer noch sehr präsent, wie die leergefegte Wiener Innenstadt, die umherflitzenden Polizeiautos oder, etwas später, die vielen Menschen, die ihre Schnelltests zu Sammelbehältern bringen.

 

 

 

Geyrhalter lässt über diese knapp zwei Jahre Wienerinnen und Wiener zu Wort kommen. Die Auswahl der Protagonisten ergibt einen guten Überblick, jeder ist betroffen, aber nicht jeder auf die gleiche Art. Allen gemeinsam ist die Hoffnung, dass diese Extremsituation uns alle nicht nur zum Innehalten, sondern auch zum Überdenken und Umdenken führen wird.

 

Langsamkeit

 

Statt auf Bildermasse setzt Gayrhalter auf Langsamkeit, man kann jedes seiner tollen Bilder in Ruhe ansehen, ohne zu befürchten, dass einem gleich ein Detail entgehen wird. Er verzichtet auf Kommentar und auf Musik, lässt dafür durch Ruhe und Originalgeräusche die Erinnerung wieder aufstehen. Die Interviews sind persönlich, selbst die mit dem Wiener Gesundheitsstadtrat, keine Parolen oder Politphrasen. Und alle durchlaufen die gleichen emotionalen Phasen von Fassungslosigkeit über Hoffnung auf Erneuerung bis zu mittlerer Resignation.
Die Haltung des Films ist dennoch klar, wenn auch eher subtil. Zum Beispiel in der Positionierung von Situationen innerhalb des Films, man kann das als Zuschauer sehen, oder übersehen; Haltung nicht Belehrung.

 

Solidarität

 

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Wie viel von der Solidarität, die am Anfang der Pandemie herrschte, übrigbleiben kann, liegt an uns allen. Wir waren alle dabei, alle betroffen, und doch verschwimmt die Erinnerung langsam. Stillstand funktioniert wie ein Archiv des Erinnerns, und das macht der Film sehr gut und sehr schön.
Wer sich also erinnern möchte, kann den Film weiterhin im Stadtkino sehen.

 

 

 

#FilmTipp Poor Things

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Märchenhaft

 

 

Es ist ja immer etwas riskant, einen Film, den alle schon in den Himmel und zurück gelobt haben, endlich anschauen zu gehen. Aber die Neugierde siegt.
Zum Glück.
Poor Things von Yorgos Lanthimos nicht gesehen zu haben, wäre ein echter Verlust.

 

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Mehr als zwei Stunden taucht man in eine märchenhafte Welt voller seltsamer Mischwesen ein. Aber vor allem folgt man der anfangs kindlich trotzigen Bella in ihrer Entwicklung zur selbstbewussten, selbstbestimmten Frau. Natürlich drängen sich Anlehnungen an Dr. Frankenstein auf, aber dann auch wieder nicht. Denn nicht die eigene Hybris treibt Dr. Godwin, genannt God, Baxter an, sondern der naive, fast kindliche Glaube, etwas zu verbessern. Er, der selbst ein Opfer ist, bleibt gefangen in der Idee, dass, was man ihm angetan hat, aus Liebe geschah. Und so experimentiert er, aber er gibt eben auch bedingungslose Liebe weiter.
Und Bella, sein Geschöpf, darf ihre Neugierde ausleben, wissenschaftlich, klinisch exakt und, am wichtigsten, frei von einengenden Konventionen.

 

Perspektiven

 

Anfangs schwelgt die Geschichte in Schwarzweissbildern, mit einer Art Fischaugenoptik, bei der man den Eindruck hat, unter einem altmodischen Vergrösserungsglas zu stecken und beobachtet zu werden. Bellas Schritte in eine Emanzipation sieht man in extrem bunten Farben, eine phantastische Welt, in der je nach Grad ihrer Freiheit auch das Beobachtunsglas immer mehr wegfällt.
Sie gewinnt an Erfahrung, an Wissen, an Ausdrucksmöglichkeit.

 

Erfahrungen

 

Dass ihre direkte Art in einer viktorianischen Welt schwer missverstanden wird, ist klar. Dass sie das überhaupt nicht in ihrer Suche behindert, ist eine grosse Freude. Und das Ergebnis ist, anders als in vielen Genre-Filmen, nicht ein Wesen, das von Machtgier und Bosheit getrieben wird, sondern das ganz selbstverständlich Empathie entdeckt und diese lebt.

Im Kinosaal kam es immer wieder zu spontanem lauten Gelächter, weil auch der Humor definitiv nicht zu kurz kommt, aber auch kurze Momente des Schreckens waren deutlich an der Reaktion im Saal hörbar.
Ein sehr gelungener, lustiger, spannender, intelligenter Film, mit tollen Darstellern.

59.Solothurner Filmtage Preise

 

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Politische Filme gewinnen

 

Tabus wurden eher nicht gebrochen, und Heiliges auch nicht wirklich über Bord geworfen, aber ganz deutlich ist, dass thematisch Kontroversielles so gut ankam, und dass damit auch Preise zu gewinnen sind.

Das Schweizer Festivalpublikum, sowohl in Locarno als auch jetzt in Solothurn, hat ein feines Gespür für Themen, für Filme abseits des Leichten und Gefälligen. Und so ist auch der Prix du Public 2024 nicht wirklich überraschend. Die Zuschauer wählten Echte Schweizer von Luka Popadić.
Das war auch einer der Filme, die schon am frühen Morgen des Vortags ausverkauft waren, den ich deshalb ohne Publikum in der verhältnismässigen Ruhe des Medienraums gesehen habe, wie also die Reaktionen im Kino waren, kann ich nicht sagen. Möglicherweise ist diese Wahl auch ein Zeichen, dass Schweizer Soldaten, Schweizer Bürger in Zukunft als selbstverständlicher gesehen werden, egal welche Hautfarbe, welche Religion, welche Muttersprache.

In die gleiche Richtung geht auch der Prix de Soleure an Lisa Gerig
für Die Anhörung.
Der scharfe Blick der Regisseurin auf die Abläufe der Asylbefragungen, die konstruierte Umkehr der Befragungen durch die Asylbewerber, all das kann vielleicht zu einem besseren Verständnis für die Betroffenen führen.

 

 

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Es haben sich zwei durchaus politische Filme Preise durchgesetzt, durchdachte und gut gemachte Filme, die aber nicht versuchen zu indoktrinieren, sondern sich auf die Kraft ihrer Protagonisten und ihrer Bilder verlassen.

Luka Popadić setzt zusätzlich auf Humor und bringt sich selbst als Betroffener und Filmemacher in den Film ein, während Lisa Gerig die Realität nachstellt, inszeniert, um so einen sonst hinter Türen versteckten Prozess sichtbar zu machen.

Insofern ist auch der Visioni Preis für Autour du feu von Laura Cazador und Amanda Cortés in der Reihe politischer Dokumentarfilme einzureihen, selbst wenn er wesentlich schwächer ist, als die beiden andern Preisträger-Filme.

 

Handwerk

 

Insgesamt waren die 25 angeschauten Filme handwerklich alle gut und solide gemacht, aber wesentlich weniger originell oder überraschend als in manchem anderen Jahr.
Nächstes Jahr Mitte Januar werden wieder neue Filme zur Auswahl stehen, vielleicht dann mit mehr Mut zum Aussergewöhnlichen, besonders in der Gestaltung.

 

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59.Solothurner Filmtage Reisen

 

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Endspurt

 

Die letzten vier Filme, davon noch mal zwei, die für den Publikumspreis nominiert sind, es kann also noch Überraschungen geben.

 

Fahrende

 

Ein knapp zweistündiger Film über Jenische in Europa ist am Mittag komplett ausverkauft, das ist wirklich erstaunlich. Wenn man nach den Zuschauer-Vorlieben bei Festivals geht, sollten Kinobetreiber und Verleiher eindeutig mutiger in der Auswahl ihrer Filme werden.
Mit einem Wohnmobil folgen Andreas Müller und Simon Guy Fässler den Spuren der Jenischen,
Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa erzählt von dieser Reise.
Jenische, egal wo sie leben, bleiben immer noch eher ausgegrenzt, wenn sie sich als solche zu erkennen geben. Mit den Jahren haben sie die Strategie entwickelt, ihren jenischen Hintergrund eher für sich zu behalten. Behördenwillkür, was die Zuteilung von Stellplätzen angeht, ist wohl immer noch an der Tagesordnung, ebenso die Gefahr, dass Kinder behördlich von den Familien getrennt werden. Was den Film stark macht, sind die sehr guten Bilder, was ihn etwas konfus macht, ist die Suche an sich. Was sie zu suchen scheinen, ist einerseits eine Definition, oder auch Eigendefinition von Jenischsein, andererseits scheinen sie eine Homogenität zu suchen, die nur bedingt vorhanden ist. Ab der Hälfte des Films laufen die Fragen, die Beobachtungen im Kreis. Die Fragen wiederholen sich, die Fahrten, der Alltag, es kommt einfach kein neuer Aspekt dazu, und man verläuft sich in der Zeitlichkeit des Films, was dann das Anschauen und Sitzen etwas beschwerlich macht.

 

 

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Fahrt

 

Tatsächlich gibt es doch einen wirklich verrückten, originellen und humorreichen Film im Programm: Partners von Claude Baechtold.
Mehr zufällig als geplant, fährt der Regisseur 2002 als Beifahrer mit einem Reporter nach Afghanistan. Der Plan ist zunächst, dass er unmittelbar nach der Ankunft in Kabul zurück in die Schweiz fliegt. Zunächst und geplant, denn nichts wird so sein, wie vorhergesehen. In den ersten zwei Minuten des Films möchte man rausgehen, weil das Bild garstig aussieht, und ein Ich-Erzähler hektisch redet. In Minute drei ist man gefangen und es ist keine Rede mehr davon, das Kino zu verlassen. Aus Photos, in rasanter Frequenz aneinander geschnitten, und anfangs etwas wackeligen Video-Bildern entsteht ein sehr persönliches Tagebuch einer unglaublichen und nicht ungefährlichen Reise. Bei allem Witz, erzählt der Regisseur wie nebenbei auch die Geschichte des Konflikts in Afghanistan, erzählt von seinen eigenen Traumata, die er eines Nachts an einem reissenden Fluss endlich hinter sich lassen kann. Alles temporeich, gewitzt, ein bisschen schrullig. Und warum wird ein Film über eine Reise, die bereits 2002 stattfand, erst jetzt fertig?
Weil 20 Jahre lang die Kassetten verschollen waren. Aber vielleicht macht auch das gerade aus, dass die Geschichte so wunderbar schräg werden konnte.

 

Brüder

 

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Bisons von Pierre Monnard ist ein ganz klassisches Drama. Um den Hof im ländlichen Jura zu retten, lässt sich der sanfte, grosse und starke Bruder von seinem eher zwielichtigen Bruder zu illegale Kämpfen überreden. Aber anders als das Schwingen – der Schweizer Variante des Ringens – geht es bei diesen Kämpfen ohne Regeln und ohne sportliche Fairness zu. Die winterliche Landschaft ist malerisch dunkel, die Kampfstätten fast Schwarz in Schwarz und die unterschwelligen Streitereien unter den Brüdern kommt auch noch dazu. Drama pur. Trotz der vielen düsteren Bilder wirkt der Film zu sauber, und das Drama entwickelt sich wie erwartet. Aber gut gemacht ist der Film auf jeden Fall.

 

 

Geister

 

Le Médium von Emmanuel Laskar ist hingegen hell und fast fröhlich, auch wenn der Film mit einer Beerdigung beginnt. Die Mutter, ein Medium, liegt unter der Erde, ihre Kunden wenden sich Hilfe suchend an die beiden erwachsenen Kinder. Und tatsächlich, der Sohn hat ihre Fähigkeit geerbt. Und recht schnell kommt nicht nur der Geist der Mutter zu Besuch, sondern es tummeln sich überall in der Gegend Geister, die mit ausgesprochener Freude Sex miteinander haben und sich eher nicht um die Lebenden kümmern. Ähnlich schräg geht der Film weiter, mischt eine Liebesgeschichte mit hinein und veralbert selbst einen Exorzismus, den der Pfarrer nach Anleitung aus dem Internet vornimmt. Luftig und albern, aber auch ganz gut gelungen.

 

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Diese beiden gegensätzlichen Filme sind beide für den Publikumspreis im Rennen, wobei es schwer vorstellbar ist, dass einer dieser beiden Filme den Preis wirklich gewinnt. Aber Gewissheit gibt es erst morgen Abend.

59.Solothurner Filmtage Landschaft

 

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Prognosen?

 

Die 59. Solothurner Filmtage sind auf den letzten Metern.
Bisher gab es viele schöne Filme zu sehen, der grosse Aha-Effekt, das wirklich originelle Werk, war bisher leider nicht dabei. Viel solides Handwerk, einige inhaltlich ungewöhnliche Perspektiven, aber keine Filme, die anecken könnten, die zu künstlerischen Diskussionen führen könnten. Welcher Film da also wirklich heraussticht, ist schwer zu sagen. Selbst beim Publikumspreis ist der akustische Applausmesser eher auf Mitte gestellt. Es wird also spannend.

 

 

Der Berg ruft zurück

 

Bergfahrt von Dominique Margot zeigt die Alpen in ihrer Gesamtheit als Natur-Kultur- und Wirtschaftsraum. Quer über die Staatsgrenzen sieht man Wissenschaftler, Künstler, Spinner, Anwohner und Bergsteiger, sieht, wie die Veränderungen in den Bergen untersucht und wahrgenommen werden. Klang und Frequenzaufnahmen lassen sich visuell darstellen und man sieht das Matterhorn tanzen, das ist witzig und anrührend und wirkt ein bisschen wie Zauberei. Das Tropfen, Zwitschern und Rauschen der Berge baut ein Tonkünstler zu einer Klanginstallation, und unter den Gletschern betreut ein Glaziologe die hochkomplexen Strukturen zum Messen der Wasserflüsse. Begleitet von spezialisierten Bergkameraleuten, steigt der Zuschauer mit zwei jungen Bergsteigern auf den Eiger. Alles zusammen lässt ein wahnsinnig schönes und manchmal auch erschütterndes Portrait der Alpen entstehen, jenseits von kitschigem Glühen und – weitgehend – jenseits von Tourismus Stereotypen. Bei einigen der Aufnahmen kann man dann feststellen, wie schwindelfrei man ist, selbst über den Umweg Leinwand kann das ganz schön am Gleichgewichtssinn ziehen.

 

Leere

 

Karim Sayad zeigt viel Leere in seinem Film 2G. Ehemalige Schlepper, die Menschen durch die Wüste von Niger nach Libyen gebracht haben, sind, nachdem die Regierung gegen Schlepperei vorgeht, faktisch arbeits- und perspektivlos. Was bleibt sind Mobiltelephone, die oft keinen Empfang haben, und ihre Autos, mit denen sie weiterhin versuchen Geld zu verdienen. Der Transport von Säcken voller Gestein, in dem sich – vielleicht – ein klein wenig Gold befindet, scheint die einzige Möglichkeit zu sein, irgendwie seinen Unterhalt zu bestreiten. Während die, die nach dem Gestein und dem versteckten Gold buddeln, die gänzlich Abgehängten der Region sind. Mit stimmungsvollen Bildern der Wüste, Nahaufnahmen der Gesichter und einem extrem langsamen Erzählrhythmus kommt man den Männern in der Gegend zunehmend nahe.

 

 

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Im Kreis gehen

 

Les histoires d’amour de Liv S. von Anna Luif fängt gut an und wird dann doch etwas seicht. Die diversen, fehl gelaufenen Lieben der Liv S. werden anfangs in kurzen Episoden und als kleine, lustige Rückblenden erzählt. Ist Liv doch gerade mit Geschrei und Türen knallend aus dem Haus ihrer aktuellen Liebe gerauscht. Rückblicke also, und Menschen auf ihrem Weg, die ihre Gedanken hören können und diese kommentieren und sie so zur nächsten Episode bringen. Aber im Lauf des Films fällt dieses versponnene Element der Interaktion weg, es bleiben die Rückblenden und die Episoden werden länger und sind weniger lustig. Mit dem Resultat, dass ein luftig-skurriler Film, trotz kurzer 76 Minuten, irgendwie lang wird. Das Beste, das man dann noch dazu sagen kann, ist: nett.

 

 

Rückkehr

 

1975 drehte der französische Dokumentarfilmer Pierre-Dominique Gaisseau bei den Kuna, einem indigenen Volk der Inseln Panamas, einen Film. Ein Jahr lang lebte er dort mit seiner Familie, filmte Alltag und Rituale und versprach, ihnen den fertigen Film zu zeigen. Aber dazu kam es nie. Fast 50 Jahre später dreht Andres Peyrot Dieu est une femme. Es ist die Geschichte des verlorenen Films, von dem im Ort immer noch erzählt wird. Es ist auch ein Zeugnis davon, wie früher Filmemacher eine ihnen fremde Kultur für ihre Zwecke nutzten und nach ihren Ideen von Exotischem umdeuteten. Und dann ist es doch noch eine Geschichte der Heimkehr. Denn in Frankreich tauchte doch noch eine Kopie des ursprünglichen Films auf, der restauriert und digitalisiert werden konnte. Peyrots erzählt feinfühlig, aber auch mit viel Kraft für Visuelles, egal ob es sich um sehr farbenfrohe Momente bei den Kuna handelt, oder ob es eine Montage der Restaurierung und ersten Vorführung in Paris handelt. Er spielt mit seinen Bildern, nutzt Farben und Bewegungen und kreiert daraus zum Teil überraschende Effekte.

 

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Der vorletzte Tag endet nass, aber mit einem Film, der ein bisschen von der bisher vermissten Originalität zeigt.

59.Solothurner Filmtage Wut

 

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Festivalsonntag

 

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Sonntag in Solothurn.
Das heisst vor allem: die Kinos sind voll, keine Chance mehr für einen Film noch kurzfristig einen Platz zu bekommen. Auch wenn in diesem Jahr die Festival-App brav und problemlos funktioniert, ausverkauft ist ausverkauft. Ins Kinogehen ist beliebt, mindestens bei Festivals.

 

 

 

 

Wirklich wahr

 

 

Eine interessante Gesprächsrunde, zum Thema Wirklichkeit oder Inszenierung im Dokumentarfilm bei: Fare Cinema: Extrem ehrlich oder ehrlich inszeniert?
Als Beispiele dienten: Die Anhörung und Chagrin Valley, zwei Filme mit sehr gegensätzlichen Ansätzen ihre Themen zu behandeln. Die Anhörung stellt eine reale Situation komplett nach, legt das aber von Anfang an offen. Und Chagrin Valley zeigt die komplett künstlich gestaltete Welt eines Altersheims für Demenzkranke, greift aber überhaupt nicht in das Geschehen ein, sondern dreht fleissig alles, was sich ergibt. Beiden Beispielen wohnt dadurch eine gewisse Künstlichkeit inne, die aber trotzdem – oder deshalb – ein gutes Abbild der wahren Situation ergibt. Natürlich bleibt bei jedem Dokumentarfilm die Frage: Was passiert, weil oder obwohl eine Kamera, ein Team vor Ort ist?  Eine Frage, die man nie wirklich wird beantworten können. Und dann kommt noch der Schnitt dazu, der gnadenlos und, für Zuschauer eher unsichtbar, die Gewichtung, die Perspektiven schärft.
Es bleibt also die Verantwortung der Filmemacher, ihr „Objekt“ so wenig wie nötig zu verändern, und trotzdem visuell, erzählerisch hinreichend interessant zu bleiben. In einer Medienlandschaft, in der immer weniger Zuschauer dem glauben, was sie sehen, wird es allerdings immer wichtiger, Interventionen als solche zu kennzeichnen.

 

 

Wütend

 

 

Erwachsenwerden ist wohl immer und überall mit einer grossen Portion innerlicher Wut verbunden. In Rivière von Hugues Hariche kommen zur Wut noch emotionale Verletzungen, Druck und Drogen. Trotzdem überzeugt die Geschichte von Manon, der wilden Eishockeyspielerin, und Karine, der tablettenschluckenden Eiskunstläuferin, nicht wirklich. Zum einen ist der Film mit fast zwei Stunden definitiv zu lang, und die Konflikte innerhalb der Gruppe von Jugendlichen sind einfach zu stereotypisch gezeichnet. Der Film kommt nicht vom Fleck, und alle Wendungen sind so sehr erwartbar, dass man sich fragt, warum sie nicht schon früher gekommen sind. Ganz schön gedreht und geschnitten sind die Eishockey-Szenen, aber selbst da verschenkt der Film mögliches Potenzial.

 

 

 

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Gewalt

 

Ein erster Preis ist gestern Abend vergeben worden. In der Kategorie Visioni, also erste und zweite Langfilme, gewann Autour du feu von Laura Cazador und Amanda Cortés.
Der Dokumentarfilm vereint um ein Feuer irgendwo im Wald zwei ehemalige Kämpfer des sogenannten Antikapitalistischen Widerstands der 70er Jahre und drei junge Frauen, Aktivistinnen diverser aktuell aktiver Gruppen. Während die beiden älteren Herren damals mit Waffengewalt kämpften, Banken ausraubten und Menschen entführten – und dafür ins Gefängnis kamen, sind die drei Frauen in ihrem Widerstand vergleichsweise friedfertig. Die Idee klingt besser, als die Ausführung sich dann im Ende darstellt. Oft entsteht der Eindruck, dass doch sehr aneinander vorbei einfach Geschichten erzählt werden. Nach etwa einer Stunde kommt es dann doch zu einer heftigen Auseinandersetzung über die legitime oder nicht legitime Tötung von Tyrannen. Ein Thema, über das allein man ganze Bücher verfassen könnte. Die Begründung der Jury für den Preis an diesen Film: «Es ist ein mutiger und riskanter Film, der – mit einer einfachen, aber originellen Anordnung – auf unerwartete, fesselnde Weise ein komplexes und gleichzeitig hochaktuelles Thema behandelt» ist nur bedingt nachvollziehbar. Was interessant ist, ist die veränderte Perspektive, wen man als Terroristen bezeichnet, was Gewalt ist und was legitime Selbstverteidigung.

 

Durchhalten

 

Zehn Jahre von Matthias von Gunten ist genau, was der Titel suggeriert: ein Langzeitprojekt. Über 10 Jahren begleite der Film 4 jungen Menschen auf ihrem Weg ins Arbeitsleben. Ein Bäckerlehrling, eine Medizinstudentin, eine künftige Grundschullehrerin und ein Oboist, der dirigieren studiert. Ihre Träume, ihre Wege sind teilweise von Anfang an sehr klar gezeichnet und verändern sich über die Zeit nur minimal. Besonders die beiden Frauen bleiben ihren Plänen treu. Die stärkste Veränderung durchläuft der Bäckerlehrling, bei dem sowohl physisch als auch im Lebensplan sehr viel passiert. Visuell und gestalterisch ist der Film nicht sehr originell, was eventuell daran liegt, dass der Regisseur auch selber die Kamera gemacht hat, ein klassischer Fall von Ein-Personen-Team.
Aber der Film kam, aufgrund der sehr sympathischen und offenen Protagonisten, extrem gut an.

 

Sprachlich rund

 

Von Kreisverkehr zu Kreisverkehr durch die Dialektlandschaft der Deutsch-Schweiz: Omegäng von Aldo Gugolz. Wie viel Dialekt wird noch gesprochen, und wo? Wie unterscheiden sich die Dialekte, sowohl in der Zeit als auch von Ort zu Ort? Und was heisst Omegäng? Fragen über Fragen werden hier auf witzige, informative und sehr musikalische Art gestellt und – zum Teil – beantwortet. Egal ob bärtiger Bauer, Sprachwissenschaftler, Rap-Sängerin oder Dichter, alle kommen zu Wort. Der Film ist sehr rhythmisch, hat tolle Bilder und macht wirklich Spass. Dabei ist es egal, ob man den Dialekt versteht. Notfalls gibt es Untertitel, aber essenziell erzählt er sich, obwohl Sprache sein Thema ist, durch seine filmischen Komponenten, und das ist einfach sehr, sehr gut gelungen. Ja, und Omegäng? Das heisst vielleicht: „nur immer“. Aber ganz sicher oder gar einig sind sich die Befragten da nicht.

 

(c) ch.dériaz

Seit diesem Jahr wird der Publikumspreis nicht mehr mittels Stimmkarten ermittelt, sondern am einfachsten direkt in der Festival-App. Das spart viel Papier und sehr viele Plastikkugelschreiber. Bleibt zu hoffen, dass viele Leute das verstehen und fleissig abstimmen.

 

 

 

59.Solothurner Filmtage Heimat

 

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Farbspiele

 

Bei eisiger Kälte geht es morgens zur Früh-Vorstellung. Der Saal ist selbst um 9:15 sehr gut gefüllt. Die Belohnung fürs frühe Aufstehen lässt nicht auf sich warten.

Blackbird Blackbird Blackberry von Elene Naveriani ist so weit der schönste Film im Programm. Zu schade, dass er nicht in der Auswahl zum Hauptpreis steht.
Wie bei Naverianis letztem Film Wet Sand spielen auch hier Farben und Bildausschnitte eine zentrale Rolle, und begeistern und verzaubern jenseits der wunderbaren Geschichte. Ein kleines Dorf, irgendwo in Georgien, die Zeit ist daran vorbeigegangen, ein kleiner Laden für Seifen und Waschmittel, eine Frau, fast fünfzig, alleinstehend, zufrieden. Etero ist selbst dann mit sich und der Welt im Reinen, wenn sie von ihren Freundinnen übel verspottet wird. Unerwartet, und ganz schön spät im Leben, platzt die erste Liebe in ihr Leben, Gefühle, die sie so nicht kennt und über die sie auch nicht sprechen kann und mag. Jede Einstellung in diesem Film möchte man als Postkarte oder als Poster an die Wand hängen. Naveriani gestaltet ihre Szenen wie Gemälde, wählt Farben und Ausschnitte, jedes kleinste Detail gehört zur Inszenierung, kein Zufall, keine unnötige Bewegung. Die Farben der Orte spiegeln die Gefühle der Protagonistin wider. So dominieren in ihrem Zuhause warme Erdtöne wie bei niederländischen Meistern, bei den Dorffrauen sind es eher helle Töne, die nie ganz zusammenpassen. Das lesbische Paar in der nächsten Stadt wiederum ist in leuchtendes Pastell gehüllt wird, passend zur liebevollen Atmosphäre, die dort herrscht und mit der Etero dort empfangen wird. Der Film lässt offen, ob man am Anfang des Films bereits das Ende vorhersieht, oder ob das nur eine mögliche Vision von Etero ist; man kann also wahlweise traurig oder eher beschwingt den Saal verlassen. Beglückt ist man auf jeden Fall.

 

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Klamauk

 

Wer behauptet, dass Schweizer keinen Humor haben, oder nicht über sich lachen können, sollte Bon Schuur Ticino von Peter Luisi sehen. Der Film war im vorgegangen Jahr einer der erfolgreichsten in der Schweiz. Dabei veralbert er einige der „heiligen Kühe“ der Schweiz: die direkte Demokratie und die Viersprachigkeit. Eine Volksabstimmung bringt scheinbar den Willen zutage, dass in der Schweiz nur noch eine Sprache, und zwar Französisch, gesprochen werden soll. Besonders im Tessin wehrt sich die Bevölkerung dagegen, es formiert sich Widerstand, die Grenzen zum Rest der Schweiz werden geschlossen, ein Bürgerkrieg droht. Aber ein Polizist aus der Deutschschweiz, sein merkwürdiger welscher Kollege und eine Tessiner Wirtin decken in letzter Minuten die Geschichte auf. Es gab viel Gelächter und Szenenapplaus im restlos vollen Saal. Allerdings ist das ein Film, der es wohl eher nicht über die nahen Grenzen schaffen wird, zu viele Sprachen, zu viele Interna. Aber sehr lustig.

 

Heimat? – Heimaten?

 

Gibt es einen Plural zu Heimat, fragt der Regisseur am Anfang einen seiner Protagonisten. In Echte Schweizer versucht Luka Popadić diese und andere Fragen zu klären. Selbst stellt er sich im Film vor als: serbischer Regisseur und Schweizer Hauptmann. Und damit ist das Thema etabliert: Schweizer, deren Eltern als Gastarbeiter oder als Flüchtlinge in die Schweiz kamen, die in der Schweizer Armee nicht nur die Rekrutenschule gemacht haben, sondern auch Offiziere sind. Sie haben serbischen, tamilischen, tunesischen familiären Hintergrund, aber sie sind eben auch Schweizer, mit allem, was für sie dazu gehört, und das ist auch die Landesverteidigung. Der Film zeigt sie zu Hause und in ihrer Eigenschaft als Offiziere, lässt sie über die Ambivalenz ihrer Herkunft und ihrer Heimat sinnieren. Und darüber, dass die Schweiz wohl trotzdem noch nicht so weit ist, etwa einen muslimischen General oder Bundesrat zu bestellen.
Sie sind echte Schweizer, auch wenn man ihnen das ohne Uniform manchmal abspricht.
Es wäre spannend gewesen, auch bei diesem „Heimatfilm“ die Reaktion des Publikums mitzubekommen, aber der Saal war restlos voll, daher blieb nur das Sichten am Computer, fern jeder Reaktion.

 

 

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Leichtigkeit

 

Zum Abschluss des Tages, noch ein Film mit einer Frau, die mit sich im Reinen ist, und sich gegen ihre Umgebung behauptet. Le vent qui siffle dans les grues von Jeanne Waltz ist die Geschichte von zwei Familien und der scheinbaren Unvereinbarkeit ihrer Lebenswelten. Eine Liebesgeschichte, der soziale und ethnische Unterschiede im Weg zu stehen scheinen. Aber hauptsächlich ist es die Geschichte von Milenie, die ein bisschen verrückt, ein bisschen wortkarg, ein wenig anders ist, aber die mit ungebremster Lebensfreude alle Hürden und alle Gemeinheiten seitens ihrer Familie einfach überspringt, als wäre nichts im Weg gewesen. Sie ist dabei entwaffnend ehrlich, selbstlos und arglos. Der Film, macht trotz einiger böser Wendungen die Leichtigkeit und Sorglosigkeit der jungen Frau spürbar, setzt sie in Bilder um und ist einfach schön.