Locarno#76 Politisch

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Abgebrochen

 

Wenn man sein Festivalprogramm eng taktet, dann darf nichts schiefgehen. Andererseits, was schiefgehen kann, geht dann auch schief, zumindest manchmal. In der Open Doors Sektion läuft am Morgen der peruanische Film Autoerótica von Andrea Fernanda Hoyos Valderrama. Nachdem er schon etwas verspätet anfängt, dann der Ton so laut und verzerrt ist, dass man Ohrenschmerzen bekommt, läuft der Film gut 20 Minuten in erträglicher Lautstärke. Doch dann, Film stoppt, Licht geht an: „Tonprobleme, wir starten den Film neu“. Schade, aber mit einem Neustart ist der nächste Film nicht mehr zu schaffen, verschieben bringt das nachfolgende Programm komplett aus dem Lot. Raus aus dem Kino, aber schade um den peruanischen Film.

 

Taschen

Weiterhin werden vor jedem Kinosaal, aber auch vor dem abendlichen Zugang auf die Piazza Taschen und Rucksäcke kontrolliert. Allerdings sind die Sicherheitsleute im Lauf der Jahre etwas flexibler geworden. Es wird nicht jede Trinkflasche moniert, sondern nur, sollte sie aus Glas sein, spitze Gegenstände sind natürlich auch nicht im Saal erlaubt. Ganz selten gibt es dann doch übereifrige Kontrolleure, die die Grösse der Rucksäcke kritisch beäugen.

 

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Was bleibt

 

40 Minuten vor der Nachmittagsvorstellung ist die Warteschlange schon erheblich, Festivalpublikum ist wirklich unermüdlich und fleissig.
Zur Einführung von Maryna Vrodas Film wird der künstlerische Leiter Nazzaro kurz und, für ihn eher ungewöhnlich, politisch und verlässt die Bühne mit einem „Slava Ukraini“.
Ok, kann man machen.

Bei Stepne von Maryna Vroda weiss man nicht immer, ob man noch in einem Spielfilm ist, oder schon in einem ethnologischen Dokumentarfilm. Dank der wunderbaren Kamera-Arbeit ist das allerdings verzeihlich.
Ein Dorf, irgendwo in der Ukraine, grau, schlammig, nur noch von alten Menschen und deren Erinnerungen bevölkert. Ein Sohn kommt zurück, um sich um seine sterbende Mutter zu kümmern. Aber auch, um sich selbst zu erinnern, sich von den Geschichten der Alten tragen zu lassen, in eine Welt, die so nicht mehr existiert. Manche der „ethnologischen“ Exkurse sind arg lang, zum Beispiel die Beerdigung und der anschliessende Leichenschmaus, auch wenn die Kamera hier wieder sehr viele fabelhafte Bilder findet: Bilder von Gesichtern, die wie verwittertes Holz aussehen, abgearbeitete Finger, oder einfach ein Raum, dunkel, voller Menschen, schön wie ein Gemälde. Aber eben manchmal auch etwas langatmig. Dennoch, der Film gibt ein Gefühl für diesen verlorenen Ort, und erinnert vielleicht an eigene verlorene, vergessene Orte.

 

 

Unterwegs

 

On the Go von María Gisèle Royo und Julia de Castro ist ein ziemlich durchgeknalltes Roadmovie. Die Protagonisten, ein Freundespaar: er schwul, sie mit dringendem Kinderwunsch. Dazu dann noch Brandstiftung, ein amerikanisches Auto, eine philosophierende Meerjungfrau – die scheinen gerade Konjunktur zu haben – alles lustig durcheinander gewirbelt. Nichts wird wirklich auserzählt, und erst recht wird nichts aufgeklärt. Die Figuren lassen sich treiben vom Rhythmus der Ereignisse, wie sie halt gerade kommen, sofern sich das Publikum auf diesen etwas rauen Spass einlässt, treibt es fröhlich mit. Das ganze gedreht auf 16 mm und zum Teil aberwitzig geschnitten.

 

Unrund

 

Irgendetwas scheint dieses Jahr in Locarno nicht richtig rundzulaufen. Es sind Kleinigkeiten, die irritieren, die den Festivalalltag etwas mühsamer machen. Neben den schon beklagten Problemen mit der App, der Webseite und der Netzabdeckung, scheint jemand befunden zu haben, dass man nicht mehr täglich die Zuschauerzahlen der Piazza anzugeben braucht. Auf Nachfrage heisst es: wird am Ende des Festivals gemacht. Aber da braucht das keiner mehr, zumindest nicht in der Form. Der Aufwand, das auf die Tafel zu schreiben, sollte überschaubar sein. Kleinigkeiten, aber eben einige davon.

 

 

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Unterbrechung

 

Noch einmal wird Giona Nazzaro heute politisch, allerdings eher ungeplant.
Als am Abend Regisseur Luc Jacquet einen Ehrenleoparden bekommen und seinen neuen Film vorstellen soll, stürmen zwei sehr junge Klimaaktivisten die Bühne auf der Piazza. Fast genauso schnell wollen sich Sicherheitskräfte auf sie stürzen, um sie wegzuzerren. Sofort springt Nazzaro dazu, hält die Sicherheitskräfte davon ab, zu zerren, fordert sie laut auf, niemandem weh zu tun, und kniet sich zu den Aktivisten runter. Kurz darauf erscheint auch noch Marco Solari auf der Bühne, der sich auch schützend zu den beiden Protestieren stellt. Schliesslich übergibt Nazzaro dem jungen Mann das Mikrophon, und hält während der kurzen Ansprache der jungen Frau beruhigend die Hand. Am Ende gehen beide mit Marco Solari friedlich von der Bühne.
Eine eigentümliche Situation, weil die beiden Jugendlichen gleichzeitig zielstrebig und doch von der Situation völlig überwältigt wirken. Ausser den Sicherheitsleuten, sind alle anderen auf der Bühne ruhig, freundlich und verständnisvoll. Mit Giona Nazzaros Aufruf, den Zustand der Erde gemeinsam und jederzeit zu verbessern, beginnt dann:
Voyage au pôle Sud von Luc Jacquet. Der Film ist das gefilmte Tagebuch einer Reise von Patagonien zum Südpol, sehr persönlich, aber auch manchmal etwas geschwätzig, belehrend im Off-Text. Grandios sind hingegen die Bilder, sowohl die karge Landschaft Patagoniens als auch das Meer und die Eisberge sehen in kontrastreichem Schwarzweiss einfach sensationell aus.
Man kann nachempfinden, warum der Regisseur von dieser Landschaft, diesem Ort so überwältigt ist, dass er immer wieder dorthin zurückmuss. Die Härte und gleichzeitige Zerbrechlichkeit der Natur dort sind einfach umwerfend. Was leider etwas lästig ist, ist die viele, oft auch sehr aufdringliche Musik. Dabei hat der Film eine sehr gute, interessante Tonebene, mit wunderbaren Geräuschen und Atmos. Insgesamt ist der Film einfach sehr schön. Er ist für den Pardo Verde nominiert, und hat sicher gute Chancen, den auch zu gewinnen.

 

 

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Feuer

 

Ein weiterer Film, der sich mit jugendlicher Sexualität befasst. In Todos los incendios von Mauricio Calderón Rico kommen Wut, Trauer und Pyromanie mit dazu. Der mexikanische Film verrät seine Figuren nicht, dichtet ihnen keine Hysterie oder Überspanntheit an, sondern lässt sie sein, was 16-Jährige vor allem sind: unsicher und heranwachsend.
Das Feuer, mit dem der junge Bruno spielt, ist sowohl Ausdruck seiner innern Spannung als auch einer allgemeinen, ungerichteten Wut auf alles. Die Internet-Filme seiner Feuerchen bringen ihn mit Daniela zusammen, die ihm, schmerzhaft aber direkt, ein Stück weit aus seinem Teufelskreis aus Wut und Unwissen heraushilft. Aufkeimende Gefühle zu verstehen in einer Gesellschfaft, in der der Vater seine Tochter lieber als Hure denn als lesbisch sehen möchte, bedeutet eine zusätzliche Herausforderung. Aber mit den letzten Streichhölzern entsorgt Bruno auch einen Teil seiner inneren Zweifel.

 

Filmemacherinnen

 

Die Kurzfilme des Tages wurden alle von Frauen gemacht, ein sehr schönes, starkes Programm.
In Loving in Between formt Jyoti Mistry aus Archivmaterial, Animation und Dichtung, mittels fabelhaftem Schnitt, ein Filmgedicht. Zwischen Geburt: schwer und Tod: schlecht soll man lieben, um diese Vorgabe drehen sich sowohl Texte als auch Bilder, die Ebenen verschmelzen und ergänzen sich, werden ein neues Ganzes. Beeindruckend.

Pleine Nuit von Manon Coubia. Was, wenn man plötzlich erfährt, dass die eigene Grossmutter in der Résistance war, und auch nach dem Krieg die erbeuteten Waffen nicht abgegeben, sondern diese lieber im See versenkt hat? Eine kleine, hübsche Geschichte von der Weitergabe des Feuers. Auch dieser Film gedreht auf 16 mm Material.

Der schöne Animationsfilm O krávě von Pavla Baštanová erzählt vom Leben und teilweise Leiden von Kühen weltweit. Zauberhafte Bilder, die mal an Picassos, mal an Chagalls Kühe erinnern, und doch eine eigenständige künstlerische Handschrift haben.

Wenn die Verzweiflung gross genug ist, greift man zu den unglaublichsten Mitteln. Das erzählt Hoda Taheri in Engar madaram geriste bud aan shab (As if Mother Cried That Night). Der letzte Weg für ein iranisches Paar in Deutschland einen Aufenthaltstitel zu bekommen, scheint zu sein, dass die Frau das Kind eines Deutschen zur Welt bringt. Verzweiflung in extrem ruhiger Erzählweise.

 

 

Familie

 

Weihnachten in Texas, Kleidchen, Sandalen, grüne Wiese und eine grosse Familie, versammelt für die Feiertage. Das ist die Ausgangslage von Family Portrait von Lucy Kerr. Jeder, der eine grosse Familie an Feiertagen kennt, versteht sofort die Dynamik, die dort herrscht. Ein Mittelding zwischen Langeweile und grosser Vertrautheit, als Fremder ist man allerdings hoffnungslos verloren. Als Zuschauer in diesem Film leider auch. Weil an sich nichts weiter passiert. Das Aufregendste ist, dass der polnische Freund einer der Töchter das jährliche Familienphoto machen soll. Die Kamera kreist etwas unruhig um diese vielen Menschen, mäandert zwischen ihren Unterhaltungen, erzeugt eine Art erwartungsvoller Unruhe, aber mehr wird nicht geschehen.

 

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Hoffnung

 

Auch an diesem Abend wird es politisch auf der Piazza. Nach stehendem Begrüssungsapplaus für Ken Loach, mahnt dieser Solidarität ein und warnt eindringlich davor, nach „unten“ zu treten und Sündenböcke zu suchen.
Solidarität und Hoffnung als Mittel gegen den weiteren Anstieg rechter Parteien.

Sein aktueller Film The Old Oak erzählt genau davon. Ein Dorf im Nordosten Englands, runtergekommen seitdem die Bergwerke geschlossen sind, die Dorfkneipe der letzte öffentliche Ort. Als mehrere syrische Familien im Ort ankommen, herrscht mehrheitlich Skepsis und einige der Stammgäste steigern sich mit rechten Parolen immer weiter in ihre Ablehnung. Es geht anfangs vieles schief, bevor es besser wird, bevor es Solidarität zwischen den armen englischen Familien und den Neuankömmlingen gibt. Was dem Film mangelt, ist  künstlerische Subtilität, so geraten viele Situationen doch sehr plakativ didaktisch. Viele Wendungen kündigen sich viel zu deutlich an, die gute Absicht gerät ins Lehrerhafte, was etwas schade ist. Weil das Thema ist wichtig. Dem Applaus nach zu urteilen, kam der Film aber gut an, möglich, dass das ein Publikumspreis wird. Aber noch sind nicht alle Filme auf der Piazza gelaufen.

 

#Locarno Die Eröffnung

Piazza Grande im Regen
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Die Kraft der Kultur

Als gestern Abend die 74. Filmfestspiele in Locarno eröffnet wurden, stand für Festivalpräsident Marco Solari einmal mehr die einende Kraft der (Film)Kultur im Vordergrund. Trotz aller Unkenrufe, Widrigkeiten und Pandemierückschläge glaubte das Team an das Wiedererwachen des Festivals in – fast – normaler Form und Grösse.

Das zweitälteste europäische Filmfestival versteht sich als gleichermassen lokal verwurzelt wie auch international vernetzt, es verbindet Intellektualität und Glamour zum anfassen, und es kämpft unermüdlich für die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks.
Das alles wurde und wird wertgeschätzt und, nicht zuletzt, auch finanziell belohnt.
Gerade wurde die Förderung des Festivals sowohl vom Kanton als auch vom Bund erhöht. Locarnos Filmwelt hat viele Fans und Freunde, nicht zuletzt den für Kultur (und Gesundheit) zuständigen Bundesrat Alain Berset.

 

Der – fast – Neue

 

Giona A. Nazzaro
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Giona A. Nazzaro hat nach dem überraschenden Abgang von Lili Hinstin die künstlerische Leitung übernommen. Nazzaro ist in Locarno kein Unbekannter, der Filmjournalist und Festivalkurator kümmerte sich in den vergangenen Jahren immer wieder um deutschsprachige Gäste und moderierte Filmgespräche. Entsprechend unverkrampft und selbstverständlich trat er am Abend vor sein erstes Locarno Publikum, mit fröhlichem Charme und lässiger Ernsthaftigkeit.

Check und Re-check

Natürlich ist alles ein bisschen komplizierter dieses Jahr. Neben allen, hauptsächlich online zu tätigenden, Käufen und Reservierungen, wird auch an „jeder Ecke“ der Impfstatus kontrolliert. Und Kontrollen werden hier durchaus ernst genommen. Heisst: QR-Code herzeigen, scannen lassen, Ausweis hervorkramen, dann QR-Code vom Ticket beim nächsten Kontrollpunkt checken lassen, und da fehlt momentan noch die Taschenkontrolle, die ja schon seit Jahren lästiger Alltag geworden ist. Am Eröffnungsabend ging das, zumindest auf der Piazza Grande, gut und schnell, allerdings hat es auch geregnet und es waren entsprechen nur wenige Zuschauer vor Ort.
Wie das bei Vollbesetzung oder in den grossen Kinos wird, muss sich noch zeigen.

Regenwolken über der Leinwand
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Das bisschen Regen

 

PardoKuh zurück vor der Leinwand
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Das bisschen Regen und die eher unangenehm tiefen Temperaturen schrecken wahre Freunde der Piazza Grande natürlich nicht ab. Und so fanden sich am Abend dann doch gar nicht so wenige Zuschauer, eingepackt in Regencapes, auf den unbequemsten Kinostühlen im schönsten Freiluftkino, ein.
Weniger mutig war diesmal das Festivalteam, die Zeremonie fand im Fevikino statt und wurde auf die Piazza übertragen. Dennoch, schöne Worte, Vorfreude und ein erster Ehrenleopard an die Schauspielerin Laetitia Casta, die mutig auf Italienisch sprach.

Und dann endlich: Locarno ist wirklich eröffnet, der erste Abendfilm startet.

Beckett rennt

In Welturaufführung, Beckett von Ferdinando Cito Filomarino, ein Actionfilm mit einem unermüdlich rennenden John David Washington.
Beckett rennt und Leichen pflastern seinen Weg, wäre die Kurzfassung.
Man kann über den Film kaum sprechen, ohne mit jedem Satz zu viel zu verraten. Beckett, ein amerikanischer Tourist in Griechenland, findet sich nach einem Autounfall plötzlich verletzt und verfolgt und zwischen irgendwelchen Fronten wieder. Wer ihm warum nach dem Leben trachtet, ist unklar, aber ihm bleibt nichts anderes übrig als zu flüchten, mit Gipsarm, angeschossen, allein und schmutzig. An jeder Ecke Verrat, trauen kann er anscheinend niemandem und das Warum der ganzen Geschichte erschliesst sich auch nur teilweise. Washington trägt den Film mit seiner sehr greifbaren Körperlichkeit und Präsenz, spannend ist es auch – irgendwie. Aber man fragt sich schon die ganze Zeit, warum die „Bösen“ den ersten Schuss überhaupt abfeuern, denn ohne diese dumme und sinnlose Aktion, hätte keiner Probleme. Aber wahrscheinlich ist das auch eine müssige Betrachtung, die auf die meisten Dramen zutrifft, und ohne den ersten, mehr oder weniger dummen Schritt, kein Drama, heisst auch: keine Geschichte, keinen Film. Wie der Film im Fevi aufgenommen wurde, weiss ich nicht, auf der Piazza war der Applaus mehr als verhalten, aber es war auch schon spät und nass und kalt und es hätte ohnehin keiner der Beteiligten gehört.

Auch an diesem ersten Abend ist auf der Piazza einer der Plastikstühle mit lautem Krachen zerbrochen, manche Sachen ändern sich irgendwie nie.

Die Stühle
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