59.Solothurner Filmtage Fremd

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

 

Grosser Andrang – grosser Applaus

 

 

Das Interesse an Filmen, egal welcher Art, ist in Solothurn ungebrochen. Bereits eine Minute nachdem für den Folgetag reserviert werden kann, ist ein Dokumentarfilm am Nachmittag ausreserviert. Das heisst, da die Reservierung für Akkreditierte erst eine Minute lief, gekaufte Plätze. Das ist sehr schön für die Filmwirtschaft und das Festival, aber sehr ärgerlich für mich.
Es sind überhaupt die Kinos voll, egal zu welcher Uhrzeit, egal welche Art Film gezeigt wird.
Filme im Kino schauen ist immer noch nicht tot, egal wie oft das propagiert wird, egal wie viel Streamingdienste es gibt!

 

Loslassen

 

Laissez-moi von Maxime Rappaz ist ein sanfter, etwas trauriger Film übers Loslassen. Claudine, Mutter eines erwachsenen, behinderten Sohns, gönnt sich ihre Auszeit von Arbeit und Pflege, indem sie einmal wöchentlich mit fremden Männern in einem abgelegenen Hotel schläft. Bis eines Tages ein Mann nicht fremd bleiben will. Ihre Welt, die eigentlich aus einer ungesunden Abhängigkeit zwischen ihr und ihrem Sohn besteht, gerät durcheinander. Sie wird sich entscheiden müssen, ihm die Freiheit zu geben, die auch sie selber so sehr braucht. Der Film besticht hauptsächlich wegen seiner Darstellerin, Jeanne Balibar, der man das Zerbrochene, Suchende in jeder Szenen schmerzlich ansieht.

 

 

Kleine Fische

 

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Politik, Mafia und Kriegsverbrechen prallen in Silence Of Sirens von Gazmend Nela aufeinander. Zwei Streifenpolizisten, denen kleinere Bestechung nicht fremd ist, halten bei einer Verkehrskontrolle einen Mann an, der nicht nur betrunken scheint, sondern auch noch eine Tasche voller Bargeld bei sich führt. Kurzerhand verhaften sie ihn. Und setzen damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die sie fast ihr Leben kosten wird. Eine Art Krimi vor dem oft wirren Hintergrund von Kriegsverbrechen, Korruption und Machtmissbrauch. Auf der Strecke bleiben, nicht nur im Kosovo, die kleinen Fische, während die anderen friedlich weiter in ihren Villen leben und mit dicken Autos rumfahren. Düstere Bilder, eine trostlose Landschaft, und kleine Polizisten, die irgendwie versuchen am Ende des Tages genug Geld nach Hause zu bringen.

 

 

Chaos

 

Aus dem Film Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste von Adrian Winkler kommt man überwältigt raus. Überwältigt von der akribischen Recherche, der Masse an Material, das zusammengetragen wurde, aber auch von den Ereignissen, die der Film auf die Leinwand bringt. 1970 entführt die Palästinensische Befreiungsfront eine Swissair-Maschine. Bei der Landung in der jordanischen Würste befindet sich dort bereits eine weitere entführte Maschine, und eine dritte wird noch folgen. Die Ereignisse werden aus Nachrichtenmaterial der Zeit, aber auch aus Swissair-Bildern und neuen Aufnahmen am Anfang so montiert, dass man sich mitten in einem Actionfilm wähnt. Allerdings sind von Anfang an immer wieder Zeitzeugen zu hören und zu sehen: Crewmitglieder, Passagiere, Verhandler des Internationalen Roten Kreuzes. Die Spannung bleibt dennoch aufrecht, verführt aber nicht dazu, die Ereignisse für Spielerei zu halten. Atemlos macht einen auch das Chaos, das bei den Verhandlungen sowohl in Jordanien als auch in der Schweiz, den USA, Israel und Grossbritanien herrscht. Politisches Kalkül, das nicht immer nachvollziehbar ist, wechselnde Positionen besonders von Seiten des jordanischen Königs und dazwischen Geiseln, die nicht wissen, wie es mit ihnen weitergehen wird, und Terroristen, denen die Situation über den Kopf zu wachsen scheint. Man verlässt das Kino und weiss, auch 50 Jahre später ist die politische Lage im Nahen Osten nicht besser geworden.

 

 

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Echt nachgestellt

 

Den bisher längsten, lautesten und euphorischsten  Applaus gibt es am Abend für:
Die Anhörung von Lisa Gerig.
Dabei ist der Dokumentarfilm weder leicht noch witzig, noch behandelt er ein „Wohlfühlthema“, auch Tiere kommen keine vor. Stattdessen geht es um 4 Asylbewerber aus verschiedenen Ländern, die ihre Asylanhörungen für den Film nachstellen. Mit dabei echte Mitarbeiter des Staatssekretriat für Migration, echte Dolmetscher, Schriftführer und Beisitzer. Dieses Nachstellen wird von Anfang an klar gezeigt, es wird der Raum hergerichtet, während einige der Protagonisten nebenbei erzählen, was wo üblicherweise steht, oder wie sich das anfühlt, so von mehreren Beamten angestarrt und ausgefragt zu werden. Die Szenen wechseln von „Gruppe“ zu „Gruppe“, die Geschichten gleichen sich nicht, aber die Fragen, oder eher die Art der Fragen, oder das manchmal quälend langsame der Übersetzungen, Nachfragen, Insistieren, Unterbrechen. Eine Situation, in der man nicht stecken möchte. In der Mitte des Films, eine Phase der Ruhe, das Team, die Protagonisten vereint in der gemeinsamen Mittagspause, die Gespräche fast entspannt. Gegen Ende dreht die Regisseurin die Geschichte um, lässt die Asylbewerber in der gleichen Art Fragen an die Beamten stellen. Fragen zu ihrer Motivation, diesen Job zu machen, Fragen zu ihrem Erinnerungsvermögen, Fragen, die ihnen zum Teil unangenehm sind. Daraus resultieren kurze Momente grosser Heiterkeit, auch wenn der Ernst der Situation ständig im Raum bleibt. Die Mischung aus Künstlichem, also Nachgestelltem, und Echtem, also den Fluchtgründen, ergibt einen anstrengenden, aber auch beeindruckenden Film. Der Schlussapplaus gilt nicht nur dem Film und der Regisseurin, sondern fast noch mehr den anwesenden Protagonisten.

Am Sonntag gibt es zum Thema Wirklichkeit im Dokumentarfilm eine Diskussionsrunde in der Programmschiene Fare Cinema.