59.Solothurner Filmtage Preise

 

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Politische Filme gewinnen

 

Tabus wurden eher nicht gebrochen, und Heiliges auch nicht wirklich über Bord geworfen, aber ganz deutlich ist, dass thematisch Kontroversielles so gut ankam, und dass damit auch Preise zu gewinnen sind.

Das Schweizer Festivalpublikum, sowohl in Locarno als auch jetzt in Solothurn, hat ein feines Gespür für Themen, für Filme abseits des Leichten und Gefälligen. Und so ist auch der Prix du Public 2024 nicht wirklich überraschend. Die Zuschauer wählten Echte Schweizer von Luka Popadić.
Das war auch einer der Filme, die schon am frühen Morgen des Vortags ausverkauft waren, den ich deshalb ohne Publikum in der verhältnismässigen Ruhe des Medienraums gesehen habe, wie also die Reaktionen im Kino waren, kann ich nicht sagen. Möglicherweise ist diese Wahl auch ein Zeichen, dass Schweizer Soldaten, Schweizer Bürger in Zukunft als selbstverständlicher gesehen werden, egal welche Hautfarbe, welche Religion, welche Muttersprache.

In die gleiche Richtung geht auch der Prix de Soleure an Lisa Gerig
für Die Anhörung.
Der scharfe Blick der Regisseurin auf die Abläufe der Asylbefragungen, die konstruierte Umkehr der Befragungen durch die Asylbewerber, all das kann vielleicht zu einem besseren Verständnis für die Betroffenen führen.

 

 

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Es haben sich zwei durchaus politische Filme Preise durchgesetzt, durchdachte und gut gemachte Filme, die aber nicht versuchen zu indoktrinieren, sondern sich auf die Kraft ihrer Protagonisten und ihrer Bilder verlassen.

Luka Popadić setzt zusätzlich auf Humor und bringt sich selbst als Betroffener und Filmemacher in den Film ein, während Lisa Gerig die Realität nachstellt, inszeniert, um so einen sonst hinter Türen versteckten Prozess sichtbar zu machen.

Insofern ist auch der Visioni Preis für Autour du feu von Laura Cazador und Amanda Cortés in der Reihe politischer Dokumentarfilme einzureihen, selbst wenn er wesentlich schwächer ist, als die beiden andern Preisträger-Filme.

 

Handwerk

 

Insgesamt waren die 25 angeschauten Filme handwerklich alle gut und solide gemacht, aber wesentlich weniger originell oder überraschend als in manchem anderen Jahr.
Nächstes Jahr Mitte Januar werden wieder neue Filme zur Auswahl stehen, vielleicht dann mit mehr Mut zum Aussergewöhnlichen, besonders in der Gestaltung.

 

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59.Solothurner Filmtage Wut

 

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Festivalsonntag

 

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Sonntag in Solothurn.
Das heisst vor allem: die Kinos sind voll, keine Chance mehr für einen Film noch kurzfristig einen Platz zu bekommen. Auch wenn in diesem Jahr die Festival-App brav und problemlos funktioniert, ausverkauft ist ausverkauft. Ins Kinogehen ist beliebt, mindestens bei Festivals.

 

 

 

 

Wirklich wahr

 

 

Eine interessante Gesprächsrunde, zum Thema Wirklichkeit oder Inszenierung im Dokumentarfilm bei: Fare Cinema: Extrem ehrlich oder ehrlich inszeniert?
Als Beispiele dienten: Die Anhörung und Chagrin Valley, zwei Filme mit sehr gegensätzlichen Ansätzen ihre Themen zu behandeln. Die Anhörung stellt eine reale Situation komplett nach, legt das aber von Anfang an offen. Und Chagrin Valley zeigt die komplett künstlich gestaltete Welt eines Altersheims für Demenzkranke, greift aber überhaupt nicht in das Geschehen ein, sondern dreht fleissig alles, was sich ergibt. Beiden Beispielen wohnt dadurch eine gewisse Künstlichkeit inne, die aber trotzdem – oder deshalb – ein gutes Abbild der wahren Situation ergibt. Natürlich bleibt bei jedem Dokumentarfilm die Frage: Was passiert, weil oder obwohl eine Kamera, ein Team vor Ort ist?  Eine Frage, die man nie wirklich wird beantworten können. Und dann kommt noch der Schnitt dazu, der gnadenlos und, für Zuschauer eher unsichtbar, die Gewichtung, die Perspektiven schärft.
Es bleibt also die Verantwortung der Filmemacher, ihr „Objekt“ so wenig wie nötig zu verändern, und trotzdem visuell, erzählerisch hinreichend interessant zu bleiben. In einer Medienlandschaft, in der immer weniger Zuschauer dem glauben, was sie sehen, wird es allerdings immer wichtiger, Interventionen als solche zu kennzeichnen.

 

 

Wütend

 

 

Erwachsenwerden ist wohl immer und überall mit einer grossen Portion innerlicher Wut verbunden. In Rivière von Hugues Hariche kommen zur Wut noch emotionale Verletzungen, Druck und Drogen. Trotzdem überzeugt die Geschichte von Manon, der wilden Eishockeyspielerin, und Karine, der tablettenschluckenden Eiskunstläuferin, nicht wirklich. Zum einen ist der Film mit fast zwei Stunden definitiv zu lang, und die Konflikte innerhalb der Gruppe von Jugendlichen sind einfach zu stereotypisch gezeichnet. Der Film kommt nicht vom Fleck, und alle Wendungen sind so sehr erwartbar, dass man sich fragt, warum sie nicht schon früher gekommen sind. Ganz schön gedreht und geschnitten sind die Eishockey-Szenen, aber selbst da verschenkt der Film mögliches Potenzial.

 

 

 

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Gewalt

 

Ein erster Preis ist gestern Abend vergeben worden. In der Kategorie Visioni, also erste und zweite Langfilme, gewann Autour du feu von Laura Cazador und Amanda Cortés.
Der Dokumentarfilm vereint um ein Feuer irgendwo im Wald zwei ehemalige Kämpfer des sogenannten Antikapitalistischen Widerstands der 70er Jahre und drei junge Frauen, Aktivistinnen diverser aktuell aktiver Gruppen. Während die beiden älteren Herren damals mit Waffengewalt kämpften, Banken ausraubten und Menschen entführten – und dafür ins Gefängnis kamen, sind die drei Frauen in ihrem Widerstand vergleichsweise friedfertig. Die Idee klingt besser, als die Ausführung sich dann im Ende darstellt. Oft entsteht der Eindruck, dass doch sehr aneinander vorbei einfach Geschichten erzählt werden. Nach etwa einer Stunde kommt es dann doch zu einer heftigen Auseinandersetzung über die legitime oder nicht legitime Tötung von Tyrannen. Ein Thema, über das allein man ganze Bücher verfassen könnte. Die Begründung der Jury für den Preis an diesen Film: «Es ist ein mutiger und riskanter Film, der – mit einer einfachen, aber originellen Anordnung – auf unerwartete, fesselnde Weise ein komplexes und gleichzeitig hochaktuelles Thema behandelt» ist nur bedingt nachvollziehbar. Was interessant ist, ist die veränderte Perspektive, wen man als Terroristen bezeichnet, was Gewalt ist und was legitime Selbstverteidigung.

 

Durchhalten

 

Zehn Jahre von Matthias von Gunten ist genau, was der Titel suggeriert: ein Langzeitprojekt. Über 10 Jahren begleite der Film 4 jungen Menschen auf ihrem Weg ins Arbeitsleben. Ein Bäckerlehrling, eine Medizinstudentin, eine künftige Grundschullehrerin und ein Oboist, der dirigieren studiert. Ihre Träume, ihre Wege sind teilweise von Anfang an sehr klar gezeichnet und verändern sich über die Zeit nur minimal. Besonders die beiden Frauen bleiben ihren Plänen treu. Die stärkste Veränderung durchläuft der Bäckerlehrling, bei dem sowohl physisch als auch im Lebensplan sehr viel passiert. Visuell und gestalterisch ist der Film nicht sehr originell, was eventuell daran liegt, dass der Regisseur auch selber die Kamera gemacht hat, ein klassischer Fall von Ein-Personen-Team.
Aber der Film kam, aufgrund der sehr sympathischen und offenen Protagonisten, extrem gut an.

 

Sprachlich rund

 

Von Kreisverkehr zu Kreisverkehr durch die Dialektlandschaft der Deutsch-Schweiz: Omegäng von Aldo Gugolz. Wie viel Dialekt wird noch gesprochen, und wo? Wie unterscheiden sich die Dialekte, sowohl in der Zeit als auch von Ort zu Ort? Und was heisst Omegäng? Fragen über Fragen werden hier auf witzige, informative und sehr musikalische Art gestellt und – zum Teil – beantwortet. Egal ob bärtiger Bauer, Sprachwissenschaftler, Rap-Sängerin oder Dichter, alle kommen zu Wort. Der Film ist sehr rhythmisch, hat tolle Bilder und macht wirklich Spass. Dabei ist es egal, ob man den Dialekt versteht. Notfalls gibt es Untertitel, aber essenziell erzählt er sich, obwohl Sprache sein Thema ist, durch seine filmischen Komponenten, und das ist einfach sehr, sehr gut gelungen. Ja, und Omegäng? Das heisst vielleicht: „nur immer“. Aber ganz sicher oder gar einig sind sich die Befragten da nicht.

 

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Seit diesem Jahr wird der Publikumspreis nicht mehr mittels Stimmkarten ermittelt, sondern am einfachsten direkt in der Festival-App. Das spart viel Papier und sehr viele Plastikkugelschreiber. Bleibt zu hoffen, dass viele Leute das verstehen und fleissig abstimmen.

 

 

 

59.Solothurner Filmtage Fremd

 

 

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Grosser Andrang – grosser Applaus

 

 

Das Interesse an Filmen, egal welcher Art, ist in Solothurn ungebrochen. Bereits eine Minute nachdem für den Folgetag reserviert werden kann, ist ein Dokumentarfilm am Nachmittag ausreserviert. Das heisst, da die Reservierung für Akkreditierte erst eine Minute lief, gekaufte Plätze. Das ist sehr schön für die Filmwirtschaft und das Festival, aber sehr ärgerlich für mich.
Es sind überhaupt die Kinos voll, egal zu welcher Uhrzeit, egal welche Art Film gezeigt wird.
Filme im Kino schauen ist immer noch nicht tot, egal wie oft das propagiert wird, egal wie viel Streamingdienste es gibt!

 

Loslassen

 

Laissez-moi von Maxime Rappaz ist ein sanfter, etwas trauriger Film übers Loslassen. Claudine, Mutter eines erwachsenen, behinderten Sohns, gönnt sich ihre Auszeit von Arbeit und Pflege, indem sie einmal wöchentlich mit fremden Männern in einem abgelegenen Hotel schläft. Bis eines Tages ein Mann nicht fremd bleiben will. Ihre Welt, die eigentlich aus einer ungesunden Abhängigkeit zwischen ihr und ihrem Sohn besteht, gerät durcheinander. Sie wird sich entscheiden müssen, ihm die Freiheit zu geben, die auch sie selber so sehr braucht. Der Film besticht hauptsächlich wegen seiner Darstellerin, Jeanne Balibar, der man das Zerbrochene, Suchende in jeder Szenen schmerzlich ansieht.

 

 

Kleine Fische

 

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Politik, Mafia und Kriegsverbrechen prallen in Silence Of Sirens von Gazmend Nela aufeinander. Zwei Streifenpolizisten, denen kleinere Bestechung nicht fremd ist, halten bei einer Verkehrskontrolle einen Mann an, der nicht nur betrunken scheint, sondern auch noch eine Tasche voller Bargeld bei sich führt. Kurzerhand verhaften sie ihn. Und setzen damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die sie fast ihr Leben kosten wird. Eine Art Krimi vor dem oft wirren Hintergrund von Kriegsverbrechen, Korruption und Machtmissbrauch. Auf der Strecke bleiben, nicht nur im Kosovo, die kleinen Fische, während die anderen friedlich weiter in ihren Villen leben und mit dicken Autos rumfahren. Düstere Bilder, eine trostlose Landschaft, und kleine Polizisten, die irgendwie versuchen am Ende des Tages genug Geld nach Hause zu bringen.

 

 

Chaos

 

Aus dem Film Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste von Adrian Winkler kommt man überwältigt raus. Überwältigt von der akribischen Recherche, der Masse an Material, das zusammengetragen wurde, aber auch von den Ereignissen, die der Film auf die Leinwand bringt. 1970 entführt die Palästinensische Befreiungsfront eine Swissair-Maschine. Bei der Landung in der jordanischen Würste befindet sich dort bereits eine weitere entführte Maschine, und eine dritte wird noch folgen. Die Ereignisse werden aus Nachrichtenmaterial der Zeit, aber auch aus Swissair-Bildern und neuen Aufnahmen am Anfang so montiert, dass man sich mitten in einem Actionfilm wähnt. Allerdings sind von Anfang an immer wieder Zeitzeugen zu hören und zu sehen: Crewmitglieder, Passagiere, Verhandler des Internationalen Roten Kreuzes. Die Spannung bleibt dennoch aufrecht, verführt aber nicht dazu, die Ereignisse für Spielerei zu halten. Atemlos macht einen auch das Chaos, das bei den Verhandlungen sowohl in Jordanien als auch in der Schweiz, den USA, Israel und Grossbritanien herrscht. Politisches Kalkül, das nicht immer nachvollziehbar ist, wechselnde Positionen besonders von Seiten des jordanischen Königs und dazwischen Geiseln, die nicht wissen, wie es mit ihnen weitergehen wird, und Terroristen, denen die Situation über den Kopf zu wachsen scheint. Man verlässt das Kino und weiss, auch 50 Jahre später ist die politische Lage im Nahen Osten nicht besser geworden.

 

 

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Echt nachgestellt

 

Den bisher längsten, lautesten und euphorischsten  Applaus gibt es am Abend für:
Die Anhörung von Lisa Gerig.
Dabei ist der Dokumentarfilm weder leicht noch witzig, noch behandelt er ein „Wohlfühlthema“, auch Tiere kommen keine vor. Stattdessen geht es um 4 Asylbewerber aus verschiedenen Ländern, die ihre Asylanhörungen für den Film nachstellen. Mit dabei echte Mitarbeiter des Staatssekretriat für Migration, echte Dolmetscher, Schriftführer und Beisitzer. Dieses Nachstellen wird von Anfang an klar gezeigt, es wird der Raum hergerichtet, während einige der Protagonisten nebenbei erzählen, was wo üblicherweise steht, oder wie sich das anfühlt, so von mehreren Beamten angestarrt und ausgefragt zu werden. Die Szenen wechseln von „Gruppe“ zu „Gruppe“, die Geschichten gleichen sich nicht, aber die Fragen, oder eher die Art der Fragen, oder das manchmal quälend langsame der Übersetzungen, Nachfragen, Insistieren, Unterbrechen. Eine Situation, in der man nicht stecken möchte. In der Mitte des Films, eine Phase der Ruhe, das Team, die Protagonisten vereint in der gemeinsamen Mittagspause, die Gespräche fast entspannt. Gegen Ende dreht die Regisseurin die Geschichte um, lässt die Asylbewerber in der gleichen Art Fragen an die Beamten stellen. Fragen zu ihrer Motivation, diesen Job zu machen, Fragen zu ihrem Erinnerungsvermögen, Fragen, die ihnen zum Teil unangenehm sind. Daraus resultieren kurze Momente grosser Heiterkeit, auch wenn der Ernst der Situation ständig im Raum bleibt. Die Mischung aus Künstlichem, also Nachgestelltem, und Echtem, also den Fluchtgründen, ergibt einen anstrengenden, aber auch beeindruckenden Film. Der Schlussapplaus gilt nicht nur dem Film und der Regisseurin, sondern fast noch mehr den anwesenden Protagonisten.

Am Sonntag gibt es zum Thema Wirklichkeit im Dokumentarfilm eine Diskussionsrunde in der Programmschiene Fare Cinema.