Locarno #72 Regen und Rituale

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Tag 5, Halbzeit in Locarno, soweit ein eher erfreuliches, interessantes
Programm das Lili Hinstin zusammengestellt hat.

Am morgen heisst es ein Kurzfilmprogramm der Pardi di domani nachzuholen, selbst um halb zehn morgens und im glamourösesten Saal des Festivals ist es schon recht voll. In All the fires the fire von Efthimis Kosemund Sanidis, es geht um Rituale, um Jagd und um Konkurrenz, zwischen den Jägern, zwischen Brüdern. Die Geschichte ist archaisch, die wenigen Wortgefechte sind kurz und eher geknurrt. Ein Spielfilm, der eine dokumentarische Anmutung hat, distanziert, präzise, unparteiisch. Der schöne Animationsfilm Moutons, loup et une tasse de thé von Marion Lacourt ist ein surrealer Kindertraum. Während sich die Erwachsenen schlaffertig machen erschafft das Kind unter der Decke Wesen und Bilder, die im Verlauf ein seltsames Eigenleben bekommen, Träume, Ängste und knurrende Schafe, alles fliesst wunderbar ineinander. In Mom’s Movie von Stella Kyriapopoulos soll ein Kleinstkind die abschliessende Prüfung in einem Schwimmbecken ablegen, eine Prüfung, die sicherstellen soll, dass es sich im Notfall bekleidet im Pool über Wasser halten kann. Alles geht gut, bis bei der letzten Übung das Handy der filmenden Mutter ins Wasser fällt, und Trainerin wie Mutter Kind Kind sein lassen und sich nur um die Rettung des Mobiltelefons kümmern. Das Kind hat zum Glück den Kurs verinnerlicht. Rassentrennung und Vorurteile sind schwer loszuwerden, das zeigt in dichten 9 Minuten der Südafrikaner Tebogo Malebogo in Mthunzi. Ein junger Schwarzer wird Zeuge, wie eine Weisse vor ihrer Tür einen epileptischen Anfall erleidet, er kümmert sich, hilft die Frau in ihr Haus zu tragen. Als er nach einem Medikament suchen soll, fällt der Strom aus, im dämmerigen Haus trifft er auf einen Mann, der ihn, wie selbstverständlich, für einen Einbrecher hält, der Helfer entkommt nur knapp. Eine düstere Stimmung, die zeigt wie schnell und leicht Situationen durch festgefahrenen Muster aus dem Ruder laufen können.

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Mittlerweile versinkt Locarno in gewittrigem Starkregen, Schirme und Regencapes sind das gesuchteste Accessoire, die Schuhe nimmt man am besten in die Hand, am Mittag ist es dunkle wie am Frühabend, sich ins Kino retten ist da durchaus wörtlich zu nehmen.

Terminal Sud von Rabah Ameur-Zaïmeche ist ein starker Film, der zeitweilig schwer auszuhalten ist. In einem fiktiven Land irgendwo am Mittelmeer verbreiten bewaffnete, uniformierte Gruppen Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Manche sind einfach Verbrecher, manche Polizisten oder Armee, Rebellen oder Miliz, keiner kennt sich wirklich aus, wodurch der Terror, den sie verbreiten umso grösser wird, da er nicht abzuschätzen ist, da er völlig willkürlich ist. Mittendrin ein Arzt, der eigentlich nur versucht in diesem Chaos seiner Arbeit nachzugehen und zu überleben. Nachdem er entführt und an einen geheimen Ort gebracht wird, um einen angeschossenen Mann zu versorgen, gerät er ins Visier der Machthaber. Politische Willkür, Entführung, Mord und Folter, Einschüchterung, führen schliesslich zu Flucht, nicht nur im Film, aber das ist eine andere Geschichte, die allerdings mehr als deutlich hier mitgemeint ist. Der erste Film so weit, bei dem es frenetischen Applaus gab.
Gleich danach, der zweite, der das Publikum mitgerissen hat: The Last Black Man in San Francisco von Joe Talbot. Zwei junge Schwarze leben am Rand von San Francisco, da wo es nicht schön, nicht touristisch poliert und gentrifiziert ist. Für die Strassengang aus der Nachbarschaft sind sie die Nerds, die Seltsamen, an Kunst und Kultur interessiert, eben anders. Ein schönes altes Haus im Zentrum, das angeblich vom Grossvater des einen eigenhändig gebaut wurde, wird zum Traum, zur Obsession fast, und als es eines Tages leer steht, wollen sie es übernehmen, egal ob regulär als Käufer oder als Hausbesetzer. Ein Film vom Träumendürfen, von Loyalität, Freundschaft, Selbstverständnis und Selbstwert, warmherzig, witzig und melancholisch. Der Film hat beim Sundance Festival den Preis für die beste Regie bekommen, zu Recht.

Aufgrund des Starkregens wandert nicht nur die Mehrheit der Zuschauer, sondern auch künstlerische Leitung und Moderatorin von der Piazza Grande ins grosse Fevi Kino. Der Südkoreanische Schauspieler SONG Kang-ho bekommt einen Ehrenleoparden und wird lautstark bejubelt.

In Weltpremiere dann Instinct von Halina Rejin, ein Film, der wirklich unter die Haut geht. Eine junge Psychologin übernimmt die Behandlung eines psychopathischen Sexualstraftäters. Doch so souverän, wie sie gerne erscheinen möchte, ist sie nicht und so gerät sie in eine immer fataler werdende Spirale von Gefühlen, fleissig befeuert durch ihren manipulativen Patienten. Vieles bleibt angedeutet in diesem beeindruckenden Erstlingsfilm, die Spannung und Grausamkeit, die die Figuren erleben, übertragen sich auf beunruhigende Weise, durch das intensive Spiel der Schauspieler in den Kinosaal. Am Ende sitzt man fröstelnd und erleichtert im Saal.

 

 

Realfiktion

Tag 6 beginnt mit einem seltsamem, surrealen Film. Lengo Weiyang lengmo (The cold raising the cold) von RONG Guang Rong. Der Film entwirft eine gefühlskalte, graue Welt, mit Menschen, die zwar reden, aber nicht wirklich in Verbindung zu treten scheinen. Dazwischen taucht immer wieder plötzlich und nur von hinten zu sehen ein Mörder auf, ersticht jemanden, das Bild verwandelt sich, bekommt die Ästhetik eines Handyvideos, als würde jemand das Geschehen mitdrehen. Die Szenen sind lose verwoben durch den gemeinsamen Ort oder durch Begegnungen der Figuren, dazwischen stromern erst Kühe, dann ein Schwein durch den Ort, surreal, etwas befremdlich, hat aber dennoch Charme.

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Und dann das bisher beste Programm der Pardi di domani. Marée von Manon Coubia erzählt von Pistenraupenfahrern in den Alpen, eine laute, raue Mannschaft, die sich auf den Weg macht jeder mit seinem Gefährt. Doch plötzlich wird der Schnee zum Schneesturm und der Ausspruch des Einen „der Berg macht, was er will“ wird zur dramatischen Wahrheit. Sehr schön und ruhig in 35 mm gedreht, das Schneegestöber im Dunklen erscheint wie ein abstraktes Gemälde. In Poslednja slika o ocu (The last image of Father) von Stefan Djordjevic reisen Vater und kleiner Sohn per Anhalter quer durch ein graues, verregnetes Serbien, es wird die letzte Reise sein, die beide zusammen unternehmen. Ein Abschied im Krankenhausflur, anrührend und trotzdem nicht kitschig, ein kleiner stiller, schöner Film über Liebe und Verlust. L’azzurro del cielo von Enea Zucchetti erzählt mit Formen, Bildern und Rhythmus von einer Welt, die zerfällt. Türme, verlassen Fabriken, leere Fensterhöhlen, Fabrikschlote, Überbleibsel einer Zivilisation, am unteren Bildrand, manchmal nur halb zu sehen, spaziert ein Mann, bis auch er, wie der Rest des Lebendigen, in einer Türöffnung verschwindet. Wunderbar gedreht, geschnitten, sodass Form und Inhalt eine konsequente Einheit bilden. Ähnlich spielt All come from dust von Younes Ben Slimane mit Formen und Bildern. Staub und Sand, ein verlassener Wüstenort, in dem ein einzelner Mann Ton mit Wasser mischt, verputzt, Ziegel brennt. Eine tiefe Ruhe liegt auch hier über den Bildern und den Bewegungen. Seh schön. Witzig und grell dagegen Frisson d’amour von Maxence Stamatiadis, der den lockeren Umgang einer Grossmutter mit modernen Kommunikationsmedien porträtiert, gleichzeitig aber auch die Vergangenheit und den verstorbenen Grossvater mit einzubauen schafft, ohne den Faden zu verlieren.

 

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Zur Abwechslung mal Atempause und kurzes Sitzen in der Sonne, bevor es dann doch wieder ins Kino geht.
Ivana cea Groaznica (Ivana die Schreckliche) von Ivana Mladenović. Was macht eine Regisseurin und Schauspielerin, um sich selbst zu therapieren – sie schreibt ein ausgefeiltes Drehbuch, fährt von Bukarest, wo sie lebt, ins heimatliche Kladovo, und setzt ihr Drehbuch mit ihrer Familie und ihren Freunden um. Es spielen also alle sich selbst, aber nach dem Buch der Regisseurin, die natürlich auch mitspielt. Was dabei entsteht, ist extrem lustig, manchmal nah am Chaos, dabei aber gut durchdacht und toll gedreht. Realität und Spiel purzeln munter durcheinander und alles tanzt nach Ivanas Pfeife, wenn das keine prima Therapie ist.

Auf der Piazza Grande gibt es mit Camille von Boris Lojkine einen Spielfilm nach realen Ereignissen. Erzählt wird das letzte Jahr der französischen Fotojournalistin Camille Lepage, die 2014 in Zentralafrika erschossen wurde. Ein starker, aber auch grausamer Film, der die Realität des Bürgerkriegs nicht ausspart. Aber hauptsächlich erzählt er von einer jungen Frau, die an das geglaubt hat, was sie machen wollte, die der Welt zeigen wollte, was passiert in Zentralafrika, die aufrütteln und informieren wollte. Die tolle Kameraarbeit, kombiniert mit einer beeindruckenden Hauptdarstellerin, einigen Originalfotos der Journalistin und ab und zu Nachrichtenbildern ergeben einen Film, der nachdenklich macht, und trotzdem spannend unterhält.

Und als wäre das alles noch nicht genug, schwebt der fast volle Mond kitschig über  Locarno.