Orte der Kindheit
Zum Glück gibt es Sichtungslinks, denn 27 Storeys – Alterlaa Forever von Bianca Gleissinger verpasst zu haben wäre wirklich schade gewesen. Auch wenn er natürlich auf einer Kinoleinwand noch schöner ist. Der Film ist eine Rückkehr an den Ort der Kindheit, den Ort, an dem die Regisseurin aufgewachsen ist. Eine Zeitreise nicht nur, um die Erinnerungen zu überprüfen, sondern auch eine Reise zu den städtebaulichen Ideen der 70er Jahre. Zu Wohnprojekten, in denen Menschen nicht nur zum Schlafen sollten, sondern wo auch Sozialleben, Gemeinschaft, etwas Dörfliches entstehen sollte. Alterlaa in Wien, ein Hochhauskomplex, mit Clubräumen, viel Grünfläche, Swimmingpools auf den Dächern, Geschäften und vielen schrägen Bewohnern, von denen einige Gleissinger ihre Türen geöffnet haben. Sie bei dieser Spurensuche zu begleiten, selbst nur auf der anderen Seite der Leinwand, ist ein grosses Vergnügen, in dem auch immer ein kleines Stück Wehmut mitschwingt. Am Ende verlassen alle ihre verklärten Kindheitsorte, und das ist gut so.
Schuldfragen
Im grossen Annenhof-Kino wird am Morgen noch gesaugt und geputzt, während die ersten Festivalbesucher für die Frühvorstellungen eintreffen; eine merkwürdig schwebende Stimmung erzeugt das.
Selma Doborac überzeugt mit ihrem 130 Minuten langen Film De Facto, in dem sie zwei Schauspieler vor exakt inszenierter und kadrierter Kulisse von den Taten während eines nicht benannten Konfliktes sprechen lässt. Nichts anderes, keine Bilder von Schauplätzen, keine zerschossenen Häuser, keine Körper, nichts von dem, was man in dem Zusammenhang kennt. Stattdessen jeweils ein Mann an einem hochglänzenden Tisch, in einem Raum, der Innen und Aussen verschwimmen lässt, die Bäume draussen rauschen, es regnet, es donnert, unbeeindruckt, quasi emotionslos rezitieren sie das Grauen. Der eine, ein einfacher Soldat, der die scheusslichsten Handlungen schildert, sagt, dass man tat, was alle taten, spricht vom Entmenschlichen der Gefangenen in den Lagern, von Verstümmelung und Vergewaltigung. Spricht im Verlauf aber auch davon, dass ihm dann manches doch zu viel war, sieht sich als Zeuge der, für die Überlebenden aussagt, da diese doch als Zeugen, ob ihres andauernden Traumas, kaum zu gebrauchen sind. Der andere, ein Befehlsgeber, einer der „Autoren“ der Geschehnisse, spricht von sich immer in der zweiten Person, sieht sich als Verantwortlichen, aber nicht als Schuldigen. Sieht die Soldaten als stumpfe Tiere, denen man nie gesagt hätte, sie sollten entmenschlichen. Ein Technokrat, ein Theoretiker, der sich immer mehr in einer kruden Pseudophilosophie verliert. Sie sprechen abwechselnd, in jeweils einer statischen Einstellung, atemlos fast, ohne „Ähs“ und „Hms“. Das macht ihre Aussagen so extrem unangenehm, lässt sie noch mehr als alles andere unter die Haut kriechen. Man versteht die Universalität solcher Handlungen, solcher Gedanken; hier geht es – unausgesprochen – wohl um Bosnien, aber es kann um jeden sinnlosen Konflikt gehen, in dem Menschen entmenschlicht werden, die Opfer, genau wie die Täter.
Von Graz in die Welt
Das Rahmenprogramm In Referenz zeigt dieses Jahr, unter anderem, eine Auswahl Filme mit der österreichischen Schaupielerin Marisa Mell, Feuerblume – Die zwei Leben der Marisa Mell von Markus Mörth ergänzt die Reihe mit einem aktuellen Dokumentarfilm zur Person Mell. Leider ist der Film eher mittelmässig. Dabei hätte er alles, um gut und interessant zu sein: Eine Grazerin, die vom Reinhard-Seminar weg eine internationale Filmkarriere macht, Zeitgenossen und Weggefährten im Interview, gutes Archivmaterial, schön gedrehte Bilder aus Rom, wo Marisa Mell gelebt und gearbeitet hat. Aber einerseits ist einfach zu viel aufdringliche und sinnlose Musik im Film, und die schönen, neuen Filmbilder sind völlig beliebig und ohne sichtbares Konzept einfach so zwischen die Interviews und Filmausschnitte gepackt. Wirklich schade, da wäre mehr möglich gewesen.
Verantwortung
Wer wir einmal sein wollten von Özgür Anil ist ein melancholischer Film mit einem sehr guten jungen Schauspielensemble. Anna, eine junge Frau, meistert ihr Leben, sie arbeitet, versucht ihr Abitur nachzumachen, Geld für ihr geplantes Studium zu sparen, alles alleine. Aber um sie herum scheinen alle ihr Verantwortungsbewusstsein auszunutzen. Ganz zuerst ihr Bruder, der irgendwelchen windigen Gestalten viel Geld schuldet und sich bei ihr einnistet. Ihr Liebhaber ist ein Egomane, dem nur seine Karriere als Regisseur wichtig ist, ihre Mutter kümmert sich wohl schon seit Jahren nicht um sie. Und doch, Anna bleibt bei all dem eine zuverlässige Stütze für alle, auch wenn sie eigentlich keiner stützt, das ist traurig, irgendwie, aber auch sehr mutig. Ein schöner, unaufgeregter Film.
Überleben
Ein weiterer Film heute, in dem vom Grauen erzählt wird, was Menschen Menschen antun: A Boy’s Life von Christian Krönes und Florian Weigensamer.
Wie schon in ihren letzten Zeitzeugen-Filmen steht auch dieses Mal der Erzählende unabgelenkt im Fokus. Daniel Chanoch kam als etwa Neunjähriger ins Konzentrationslager, überlebte nicht nur Auschwitz, sondern auch einen Todesmarsch und wurde mit knapp 13 Jahren befreit. Eine Kindheit in der „Schule Auschwitz“, wie er es selber nennt. Die ruhigen Schwarzweissbilder: Totalen, Halbtotalen, Nahe, alle vor schwarzem Hintergrund, lenken nicht vom Erzählten ab. Stattdessen entsteht der Eindruck eines Zwiegesprächs mit dem Zuschauer. Unterbrechungen, mit Material aus Archiven, dienen nicht der Untermalung des Gesprochenen, sondern sind Zäsuren, Pausen, in denen man trotzdem nicht aufatmen kann. Trotz der erzählten Grausamkeiten verströmt der Film Ruhe, durch den Duktus der Sprache, durch den langsamen Schnittrhythmus, man hört zu und wundert – wie so oft – wie es sein kann, dass Menschen einander solche Dinge antun.
Die Jurys in Graz haben wohl heute schon entschieden. Wer die Preisträger sind, wird dann morgen bekanntgegeben.