Das war sie also, die letzte Diagonale von Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger. Es waren wie immer zu wenige Stunden, um alle Filme anzuschauen, die man hätte anschauen können, oder wollen. Ob das Grund ist, dass ich dieses Jahr so gut wie keinen der Preisträgerfilme gesehen habe?
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Preise
VERA von Tizza Covi und Rainer Frimmel gewinnt als bester Spielfilm den großen Diagonale-Preis des Landes Steiermark. Souls of a River von Chris Krikellis bekommt als bester Dokumentarfilm den großen Diagonale-Preis des Landes Steiermark. Immerhin zwei Preisträgerfilme sind dann doch dabei: Cornetto im Gras von David Lapuch, die Geschichte der Abgehängten rund um einen Imbisswagen im ländlichen Österreich, gewinnt den Preis für den besten Kurzspielfilm. Und die beste künstlerische Kamera geht an Klemens Koscher für 27 Storey – Alterlaa forever. Alle Preise auf der Festivalseite.
Ausblick
Mit dem Ende der Diagonale 2023 treten Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh ihre Intendanz an. Wie sie das Festival gestalten werden, was ihre Vorstellungen sein werden, wie ihre Netzwerke funktionieren, wird sich alles im kommenden Frühjahr zeigen. Vielleicht gibt es dann ja auch Saalpläne für die Buchung der Tickets…
Zum Glück gibt es Sichtungslinks, denn 27 Storeys – Alterlaa Forever von Bianca Gleissinger verpasst zu haben wäre wirklich schade gewesen. Auch wenn er natürlich auf einer Kinoleinwand noch schöner ist. Der Film ist eine Rückkehr an den Ort der Kindheit, den Ort, an dem die Regisseurin aufgewachsen ist. Eine Zeitreise nicht nur, um die Erinnerungen zu überprüfen, sondern auch eine Reise zu den städtebaulichen Ideen der 70er Jahre. Zu Wohnprojekten, in denen Menschen nicht nur zum Schlafen sollten, sondern wo auch Sozialleben, Gemeinschaft, etwas Dörfliches entstehen sollte. Alterlaa in Wien, ein Hochhauskomplex, mit Clubräumen, viel Grünfläche, Swimmingpools auf den Dächern, Geschäften und vielen schrägen Bewohnern, von denen einige Gleissinger ihre Türen geöffnet haben. Sie bei dieser Spurensuche zu begleiten, selbst nur auf der anderen Seite der Leinwand, ist ein grosses Vergnügen, in dem auch immer ein kleines Stück Wehmut mitschwingt. Am Ende verlassen alle ihre verklärten Kindheitsorte, und das ist gut so.
Schuldfragen
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Im grossen Annenhof-Kino wird am Morgen noch gesaugt und geputzt, während die ersten Festivalbesucher für die Frühvorstellungen eintreffen; eine merkwürdig schwebende Stimmung erzeugt das.
Selma Doborac überzeugt mit ihrem 130 Minuten langen Film De Facto, in dem sie zwei Schauspieler vor exakt inszenierter und kadrierter Kulisse von den Taten während eines nicht benannten Konfliktes sprechen lässt. Nichts anderes, keine Bilder von Schauplätzen, keine zerschossenen Häuser, keine Körper, nichts von dem, was man in dem Zusammenhang kennt. Stattdessen jeweils ein Mann an einem hochglänzenden Tisch, in einem Raum, der Innen und Aussen verschwimmen lässt, die Bäume draussen rauschen, es regnet, es donnert, unbeeindruckt, quasi emotionslos rezitieren sie das Grauen. Der eine, ein einfacher Soldat, der die scheusslichsten Handlungen schildert, sagt, dass man tat, was alle taten, spricht vom Entmenschlichen der Gefangenen in den Lagern, von Verstümmelung und Vergewaltigung. Spricht im Verlauf aber auch davon, dass ihm dann manches doch zu viel war, sieht sich als Zeuge der, für die Überlebenden aussagt, da diese doch als Zeugen, ob ihres andauernden Traumas, kaum zu gebrauchen sind. Der andere, ein Befehlsgeber, einer der „Autoren“ der Geschehnisse, spricht von sich immer in der zweiten Person, sieht sich als Verantwortlichen, aber nicht als Schuldigen. Sieht die Soldaten als stumpfe Tiere, denen man nie gesagt hätte, sie sollten entmenschlichen. Ein Technokrat, ein Theoretiker, der sich immer mehr in einer kruden Pseudophilosophie verliert. Sie sprechen abwechselnd, in jeweils einer statischen Einstellung, atemlos fast, ohne „Ähs“ und „Hms“. Das macht ihre Aussagen so extrem unangenehm, lässt sie noch mehr als alles andere unter die Haut kriechen. Man versteht die Universalität solcher Handlungen, solcher Gedanken; hier geht es – unausgesprochen – wohl um Bosnien, aber es kann um jeden sinnlosen Konflikt gehen, in dem Menschen entmenschlicht werden, die Opfer, genau wie die Täter.
Von Graz in die Welt
Das Rahmenprogramm In Referenz zeigt dieses Jahr, unter anderem, eine Auswahl Filme mit der österreichischen Schaupielerin Marisa Mell, Feuerblume – Die zwei Leben der Marisa Mell von Markus Mörth ergänzt die Reihe mit einem aktuellen Dokumentarfilm zur Person Mell. Leider ist der Film eher mittelmässig. Dabei hätte er alles, um gut und interessant zu sein: Eine Grazerin, die vom Reinhard-Seminar weg eine internationale Filmkarriere macht, Zeitgenossen und Weggefährten im Interview, gutes Archivmaterial, schön gedrehte Bilder aus Rom, wo Marisa Mell gelebt und gearbeitet hat. Aber einerseits ist einfach zu viel aufdringliche und sinnlose Musik im Film, und die schönen, neuen Filmbilder sind völlig beliebig und ohne sichtbares Konzept einfach so zwischen die Interviews und Filmausschnitte gepackt. Wirklich schade, da wäre mehr möglich gewesen.
Verantwortung
Wer wir einmal sein wollten von Özgür Anil ist ein melancholischer Film mit einem sehr guten jungen Schauspielensemble. Anna, eine junge Frau, meistert ihr Leben, sie arbeitet, versucht ihr Abitur nachzumachen, Geld für ihr geplantes Studium zu sparen, alles alleine. Aber um sie herum scheinen alle ihr Verantwortungsbewusstsein auszunutzen. Ganz zuerst ihr Bruder, der irgendwelchen windigen Gestalten viel Geld schuldet und sich bei ihr einnistet. Ihr Liebhaber ist ein Egomane, dem nur seine Karriere als Regisseur wichtig ist, ihre Mutter kümmert sich wohl schon seit Jahren nicht um sie. Und doch, Anna bleibt bei all dem eine zuverlässige Stütze für alle, auch wenn sie eigentlich keiner stützt, das ist traurig, irgendwie, aber auch sehr mutig. Ein schöner, unaufgeregter Film.
Überleben
Ein weiterer Film heute, in dem vom Grauen erzählt wird, was Menschen Menschen antun: A Boy’s Life von Christian Krönes und Florian Weigensamer.
Wie schon in ihren letzten Zeitzeugen-Filmen steht auch dieses Mal der Erzählende unabgelenkt im Fokus. Daniel Chanoch kam als etwa Neunjähriger ins Konzentrationslager, überlebte nicht nur Auschwitz, sondern auch einen Todesmarsch und wurde mit knapp 13 Jahren befreit. Eine Kindheit in der „Schule Auschwitz“, wie er es selber nennt. Die ruhigen Schwarzweissbilder: Totalen, Halbtotalen, Nahe, alle vor schwarzem Hintergrund, lenken nicht vom Erzählten ab. Stattdessen entsteht der Eindruck eines Zwiegesprächs mit dem Zuschauer. Unterbrechungen, mit Material aus Archiven, dienen nicht der Untermalung des Gesprochenen, sondern sind Zäsuren, Pausen, in denen man trotzdem nicht aufatmen kann. Trotz der erzählten Grausamkeiten verströmt der Film Ruhe, durch den Duktus der Sprache, durch den langsamen Schnittrhythmus, man hört zu und wundert – wie so oft – wie es sein kann, dass Menschen einander solche Dinge antun.
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Die Jurys in Graz haben wohl heute schon entschieden. Wer die Preisträger sind, wird dann morgen bekanntgegeben.
Morgendlicher Spass: um 9:30 auf der Reservierungsplattform einloggen, um dann erstmal eine Fehlermeldung zu bekommen. Das wiederholt sich dann etwa zweimal, bis die Plattform die vermutlich vielen gleichzeitigen Anfragen „verdaut“ hat. Mittlerweile hat sich auch eingespielt, in welchem Kino, welche Reihen zu bevorzugen sind – wenn sie denn dann noch buchbar sind.
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Nur um es mal wieder gesagt zu haben: Es gehören mehr Kurzfilme ins Kino. Egal wo, wenn es Kurzfilmprogramme zu sehen gibt, sind die Säle voll, unabhängig vom Wetter und der Uhrzeit. Das Frühprogramm Kurzspielfilm ist da keine Ausnahme. Wer also Tickets hat, wird belohnt mit vier schönen Filmen, die sich auf die eine oder andere Art mit Liebe befassen.
Die Zerredete
gschichtl von Franz Quitt ist eine wunderbare Übung in Schauspiel und Kamera. Ein Paar, oder eben nicht mehr Paar, zerredet die möglichen Reste einer Beziehung. Immer wieder wären sie kurz davor, einen Ansatz zum Lieben zu finden, aber zielsicher wird dieser dann zerredet. Darsteller, Kamera und Schnitt tragen den Film, obwohl wenig anderes passiert als Dialog.
Die Romantische
Voodoo Jürgens – Federkleid von Hannes Starz, Marianne Andrea Borowiec und Voodoo Jürgens. Ein wunderschönes, üppig ausgestattetes Musikvideo über die ultimative, endlose und romantische Liebe. Schöne balladenhafte Musik, und dazu zart gespielt eine Liebesgeschichte. Viel zu schade für reines Streaming.
Die Schräge
In Bye Bye, Bowser von Jasmin Baumgartner treffen eine wilde, punkige Musikerin und ein Bauarbeiter aufeinander. Zwei radikal unterschiedliche Welten prallen mit Wucht aufeinander, lassen für eine lange Nacht alles möglich sein, und scheitern am Morgen tragisch.
Die Tragische
Cornetto im Gras von David Lapuch zeigt verlorene Gestalten irgendwo im ländlichen Österreich. Einzig die Beziehung zwischen Enkel und Grossvater scheint von tiefen Gefühlen geprägt. Alle anderen Figuren, versammelt rund um den Imbisswagen des Enkels, verbindet eher die Gewohnheit und die über Jahre gewachsenen Abneigungen. Ein verloren gegangenes Pferd, eine junge Frau und eine tickende Standuhr, am Ende der Nacht reisst ein Ereignis kurz das Immergleiche auf, um dann wieder in den altenTrott zurückzufallen.
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Kraftvoll
Film, beschränkt in gewisser Weise durch die Zeit auf der und den Rahmen durch die Leinwand, kann genutzt werden, um zu zeigen, wie die Welt ist oder auch wie sie sein könnte. Mal ideal, mal utopisch, mal dystopisch, in der Enge von Zeit und Rahmen ist alles denkbar. Auch die Wirklichkeit. Evelyne Faye nutzt in Lass mich fliegen diese Möglichkeit. Ausgehend von ihrer eigenen Tochter, die mit Down-Syndrom geboren wurde, zeichnet sie ein Portrait von jungen Erwachsenen, die selbstbewusst und grossteils selbstbestimmt trotz und mit Down-Syndrom ihr Leben leben. Tatsächlich sind ihre Leben, ihre Träume nicht zu unterscheiden von denen anderer junger Menschen: eine erfüllte Partnerschaft, ein Beruf, soziales Miteinander, mit dem Unterschied, dass man ihnen von Staatswegen und von der Gesellschaft her immer wieder Steine in den Weg legt. Ein sehr schöner Film, der das Thema ohne Weinerlichkeit angeht, immer nah an den Personen bleibt, und durch die eingestreuten Sequenzen mit der kleinen Tochter, einen zusätzlichen Blick in Richtung Zukunft wirft.
Tote Tiere
In Archiv der Zukunft streift Joerg Burger durchs Innere des Naturhistorischen Museums in Wien. Im Zentrum stehen nicht die prunkvollen Säle, sondern die Hinterzimmer, Schubläden, Keller, Archive. Er zeigt das, was der Besucher nie zu sehen bekommt, aber wichtiger und unschätzbarer Bestand diverser Forschungsgebiete ist. Nass- und Trockenpräparate stapeln sich, und werden genutzt, um mit immer neueren wissenschaftlichen Methoden zum Beispiel DNA-Analysen vorzunehmen. Nicht nur Tiere, sondern auch Steine, Pflanzen und alte Akten sind Ziel der Forschung, und können Aufschluss aus der Vergangenheit für die Zukunft geben. Eine endlos erscheinende Arbeit, witzig anzusehen und informativ dazu.
Reisefieber
Petra Zöpnek erzählt in Wo ist Ida von der Weltreisenden und Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer, die ab den 1840er Jahren bis zu ihrem Tod alleine von Wien aus die Welt bereiste, und in Vielem die erste (weisse) Frau war. Soviel zu den „harten Fakten“. Der Film erzählt das alles auf extrem originelle und phantasievolle Weise, in vignettierten Schwarz-Weiss-Bildern, in Animationen, mit Zwischentiteln wie bei Stummfilmen, darunter eine ausgeklügelt komponierte Geräuschspur und immer wieder Zitate aus den Reisetagebüchern. So macht Geschichte Freude.
Tatsächlich ist es immer wieder eine gute Idee, den intellektuellen Filmdiskurs zu hinterfragen, seine eingefahrenen Wege zu kritisieren oder sich darüber lustig zu machen. Selbst das Konzept auf den Kopf zu stellen, kann ein sehr guter Plan sein. Was bei Razzennest von Johannes Grenzfurthner passiert, ist allerdings eher grosser Unfug. Der Film besteht aus einer Bild- und einer davon losgelösten Tonspur. Im Bild gibt es Landschaft, kaputte Häuser, Friedhöfe, Kreuze, Details von jeder Komponente, die Tonspur ist ein Hörspiel, das immer mehr aus dem Ruder läuft. Am Anfang hört man eine Art Interview in einem Studio, zwischen einer Kritikerin und dem fiktiven Filmemacher der Bilder. Sie haben einen recht harschen, manchmal sogar ganz witzigen Austausch über Film als visuelles Medium, das sich, laut fiktivem Regisseur, nicht von Erklärung und Konzept in die Knie zwingen lassen darf. Dazu sind die Bilder ruhig, meditativ. Plötzlich wird aus dem Interview eine Art Horrorhörspiel, in dem sich der Tonmeister und der Kameramann in marodierende Horden aus dem 30-jährigen Krieg verwandeln, und in Folge das gesamte Studio abbrennen und am Ende alle tot sind. Die Bilder, werden – immerhin – dazu rabiater, schneller geschnitten, die Sequenzen abgefahrener. Aber es bleiben Bilder einer Landschaft, in der im 30-jährigen Krieg (wo nicht in Europa?) Mord und Totschlag herrschten, die gleichen Bilder wie vorher schon. Die Idee und Umsetzung sind eindeutig durchdacht und nicht beliebig hingepfuscht, und als Kurzfilm wäre das Ganze wahrscheinlich noch originell gewesen. So war es hauptsächlich anstrengend, und einige Zuschauer haben auch den Saal verlassen.
Geister
Um 18 Uhr hat bei vollem Saal ein Horrorfilm mit zarten Schockelementen seine Uraufführung: Heimsuchung von Achmed Abdel-Salam. Eine Kleinfamilie muss gegen die Geister der Mutter kämpfen. Wie immer in solchen Geschichten, was man aus der Vergangenheit verdrängt, verfolgt und peinigt in der Gegenwart, wenn man das Verdrängte aber erkennt, stehen die Geister plötzlich im Zimmer. Zumindest bis man sie erkannt, zurückgedrängt, ihren Ursprung verstanden hat. Sehr hübsch gemachter Film, schön gespielt, vor allem vom kleinen Mädchen (Lola Herbst), das die Bandbreite von Schreck bis Aufmüpfigkeit und wieder zurück perfekt beherrscht. Diese österreichische Produktion, keine Koproduktion, braucht sich vor vergleichbaren Filmen definitiv nicht zu verstecken.
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Fussball
… ned, tassot, yossot … von Brigitte Weich erzählt sowohl von Fussballerinnen als auch von Nordkorea. Was auch bei dieser zweiten Beobachtung – nach ..hana, dul, sed..– hervorragend gelingt, ist, die Protagonistinnen offen, liebevoll und voller Enthusiasmus erzählen zu lassen. Dabei ist es egal, ob sie über ihre Karrieren nach der aktiven Zeit als Nationalspielerinnen reden, über Kinderwunsch, Abtreibung oder die Verehrung für ihren politischen Führer. Weich mischt Privates und Politisches mit ebenso leichter Hand, wie sie in den verschiedenen Lebensphasen der Frauen hin und her wechselt, und sie so immer wieder auch ihr eigens Leben mit Humor kommentieren.So entsteht eine ehrliches, feinfühliges Portrait, in dem man die Frauen wirklich kennenlernt und das beim Schauen sehr viel Spass macht.
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Die heutigen Vorstellungen waren alle ausverkauft, und vor den Kassen bilden sich immer wieder Schlangen, um doch noch Restkarten zu ergattern.
Während Graz langsam wach wird, geht es los ins erste Kino. Der Unsinn im Buchungssystem der Karten wird offensichtlich: Die gebuchten Sitzreihen sind entweder zu weit vorne oder zu weit hinten. Und statt bequem und bereit zur Flucht am Rand, sind sie mitten in den Reihen. Saalpläne auf der Buchungsseite wären wirklich sehr, sehr hilfreich.
Zäher Start
Das erste Programm, Kurzdokumentarfilme, klingt gut, klingt spannend, ist am Ende aber nur zu einem Drittel geglückt. Wir sind alle Kanaken von Kervin Saint Pere will einfach zu viel gleichzeitig. Er thematisiert Kolonialismuskritik, eine sprachwissenschaftliche und soziologische Analyse des Begriffs „Kanake“, und obendrauf noch Kritik an frühen Formen der Ethnologie, am Ende kommt alles zu kurz. Und was vor allem zu kurz kommt, sind die Bilder, das Filmische, obwohl er eine gute Grundidee hat. Von alten ethnologischen, kolonialen Photos schneidet er die abgebildete indigene Bevölkerung aus, hinterlegt die frei werdende Fläche mit Filmbildern, teils aus altem Material, aber auch mit neuen, symbolträchtigen Bewegtbildern. Das alleine wird mit der Zeit anstrengend zu decodieren, weil darüber von Anfang bis Ende der sehr intellektuelle, komplexe, zu komplexe Off-Text liegt. Als Zuschauer hört man auf, den an sich interessanten Gedanken und originellen Bebilderungen zu folgen.
Sehr gelungen, und mit minimalem „didaktischem“ Überbau, kommt Reihe 6 von Lennart Hüper und Bidzina Gogiberidze aus. Sie zeigen das Leben im Exil, in einem Dorf, das zunächst nur ein Flüchtlingslager war. Geflüchtete aus dem von Russland annektiertem Südossetien sind dort gestrandet, hängen geblieben, im Exil in Georgien. Während es für die Grosselterngeneration eine Tragödie bedeutet, Heimat und Gewohntes zu verlieren, spielen die im Exil geborenen Kindern völlig entspannt, leben wie alle Kinder, und wollen eines sicher nicht: den Ort verlassen, der für sie Heimat ist.
Tara Najd Ahmadi will in My Sleepless Friends die Schlaflosigkeit ergründen, ihre und die ihrer Freunde. Sie mischt dafür Gespräche – Online-Interviews – mit sehr disparaten und – für sie –assoziativen Bildern. Die Idee dahinter ist klar, aber die real existierende Ausführung funktioniert nicht. Die Bilder und ihr Rhythmus scheinen völlig beliebig über den Texten zu liegen, mal als Überlagerung, mal in langen Ein- und Ausblenden, ihre Beziehung zum Gesagten mag sich für die Regisseurin völlig logisch erschliessen, als Zuschauer wundert man sich und ist verwirrt. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Schlaflosigkeit viele Gründe hat, und dass 20 Minuten ganz schön lang werden können.
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Sehr schön Dunkel
Nachdem die Vorstellungen weitgehend entzerrt wurden, ist immer wieder Zeit, in der Sonne zu sitzen, die letzten Bilder sacken zu lassen, und sich auf die nächsten Bilder vorzubereiten. Mit frischem Blick also zurück ins Dunkel, und das ist durchaus wörtlich gemeint. Staging Death von Jan Soldat zeigt in 8 kompakten Minuten die Filmtode von Udo Kier. Alle Filmtode! Das ist witzig, skurril, gekonnt und sehr blutig. Kier als Meister des abseitigen Films bietet eine wirklich sensationelle Bandbreite an Filmtoden.
Wenn Albträume albträumen würden, dann käme dabei wahrscheinlich sowas wie Norbert Pfaffenbichlers 2551.02 – The Orgy of the Damned heraus. Wie schon im ersten Teil der als Trilogie angelegten Geschichte, taucht Pfaffenbichler Kellerräume in monochrom eingefärbte Horrorräume, in denen maskierte Gestalten ihr Unwesen treiben. Blut, Gedärme, Sex und Gewalt in allen möglichen Kombinationen, die sich damit ersinnen lassen, und alles ohne eine einzige Dialog- oder Textzeile. Aber bei allen originellen Einfällen, in der Basis erzählt er eine Geschichte voller Liebe, Empathie, Action und Verrat und löst die Sequenzen auch ganz klassisch oder genregerecht auf. Die Phantasie, das Aussergewöhnliche kommt allein aus den schrägen Gestalten, aus den Orten, der Farbdramaturgie, der Tonspur und der überbordenden Menge an vermeintlichen Schockeffekten. Ein Konzept, das wunderbar funktioniert, sofern man mit dem Genre keine Probleme hat. Danach wundert man sich, dass draussen Menschen friedlich und unverletzt in der Sonne sitzen.
Der Nachwuchs schläft nicht
N.Geyhalter mit jungem Filmteam (c) ch.dériaz
Während der nächsten Pause plötzlich hektische Betriebsamkeit. Eine Gruppe ganz junger Filmschaffender rennt in den Hof des Schubert-Kinos, räumt Tische weg, baut ihr Equipment auf. Auftritt Nikolaus Geyrhalter, der von der Gruppe interviewt wird. Der Profi ganz entspannt, die künftigen Profis leuchten still vor sich hin, ein schönes Bild. Am Ende des Interviews gibt er dem jungen Tonmann noch einen Tipp, wie er die Tonangel besser halten kann, ohne dabei Kraft zu verlieren.
Stilisiert
Le Formiche di Mida von Edgar Honetschläger will mit seinem Film dazu beitragen, dass der Mensch mit der ihn umgebenden und ihn nährenden Natur (wieder) pfleglich umgeht. Das ist ein nobles Ansinnen. Ob sein überstilisierter Film das wirklich schafft, bleibt unsicher. Über den immer sehr schönen Bildern liegen fast konstant Off-Texte, in denen die diversen Mythen, Philosophien und Religionen das Verhältnis von Mensch und Natur verhandeln. Es „sprechen“ ein Esel, ein Baumgeist, Ameisen, und – grösstenteils– Männer, deren Funktion im Gefüge nicht näher definiert werden. Das hat etwas filmpoetisch-essayhaftes und kann, wenn man sich Mühe gibt, mit den Landschaftsbildern in Beziehung gesetzt werden. Über die Länge des Films ist es aber etwas manieriert. Und die Frage, ob der Mensch die Natur nährt, oder die Natur den Menschen, ja, kann man diskutieren, ist aber beim aktuellen Zustand der Umwelt fast schon egal.
Tiere gehen immer
Während der Hochphase der Pandemie hatte auch der Salzburger Zoo geschlossen. Von den Tieren und ihren Pflegern in dieser Zeit handelt Zoo Lock Down von Andreas Horvath. Was bereits nach den ersten Minuten nervt, ist die Musik, sie suggeriert Spannung bis hin zu Horrorelementen, die der Film dann in keinster Weise einlöst. Insgesamt leitet der Film einen grossen Teil seiner Spannung von behaupteten Kausalzusammenhängen her, die aber selten belegt werden. Ja, dafür ist Schnitt (auch) da, man zeigt ein Tier, man hört ein Geräusch, man zeigt den Blick, oder die Bewegung. Wenn man also erklären will, wie Filmschnitt funktioniert, dann kann man das hier gut zeigen. Aber Horvath macht es sich damit irgendwie zu leicht, er zeigt zu selten den Gesamteindruck, und spielt zu oft mit den kreierten Erwartungen. Schön ist, dass es weder Interviews noch Kommentare gibt, die Tiere tun, was sie so tun in ihren Gehegen und Käfigen, die Pfleger arbeiten, und selbst die Tiere, die verfüttert werden, werden liebevoll in ihren Behausungen gezeigt. Am wildesten ist eine Sequenz, in der einem betäubten Nashornbullen von zwei Tierärzten Sperma „abgezapft“ wird. Das Spendersperma wird kurz untersucht und dann einer, ebenfalls betäubten, Nashornkuh in mühevoller Arbeit in die Gebärmutter gespritzt. Was man nie erfährt: Ist diese Transaktion erfolgreich verlaufen? Ein kleiner Verweis im Nachspann wäre schön gewesen.
Es wurde auf jeden Fall viel und fröhlich gelacht im Kino, weil: Tiere gehen immer.
Die Festivalarbeit beginnt noch vor der Anreise nach Graz, um 9:30 wird die Reservierungsseite freigeschaltet. Also schnell für morgen Tickets reservieren. Seit der Pandemie besteht keine freie Platzwahl mehr, wieso allerdings nur einige Plätze zur Auswahl erscheinen, ist etwas undurchsichtig. Und ohne Saalplan ist die Reservierung für den ersten Festivaltag ein Ratespiel: Welches war doch gleich die richtige Reihe? Welcher Platz ist aussen? Nun gut, spätestens übermorgen wird sich das wieder eingependelt haben. Die ersten vier Vorstellungen sind auf jeden Fall gebucht.
Grosse Gefühle
Milde 20 Grad am Eröffnungstag der Diagonale in Graz. Die Helmut List Halle ist voll wie lange nicht mehr und mit etwas Verspätung gibt es den ersten Eröffnungsfilm des Abends: NYC RGB von Viktoria Schmid.
Sieben kurzweilige Minuten New York: analog und in Dreifachbelichtung, mit schrägen Farbakzenten und interessanter Tonbearbeitung. Eine Postkarte ans Publikum, eine Aufforderung zu träumen, ein schöner Einstieg. Erst danach treten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber das letzte Mal vors Publikum, um die Diagonale zu eröffnen. Schon als sie auf die Bühne kommen, ist der Applaus mächtig, hindert sie anzufangen. Auch in diesem Jahr verbinden sie in ihre Rede Kunstgeschehen und Politik. Sowohl Weltpolitik als auch österreichische Lokalpolitik werden dabei mit kritischen Seitenhieben bedacht. Unterbrochen werden sie immer wieder von wildem Klatschen. Die Intendanten werden dann doch langsam etwas verlegen, ob dieser mächtigen emotionalen Welle, die sie zum Abschied anschwappt. Auch die Vergabe des Schauspielpreises an Margarethe Tiesel wird von grossem Beifall und kleinen Freudentränen begleitet.
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Vom Warten
Spät, aber dann doch, die Österreich-Premiere von Das Tier im Dschungel von Patric Chiha. Der Film beginnt mit grobkörnigen 4:3 Aufnahmen, ein Fest, irgendwo, Menschen tanzen, feiern, unspezifisch, eher ein Urlaubsfilm. Dann ein Sprung, Menschen tanzen, diesmal in einem Club, ausgelassen, wild, sexy. Im Off, eine Erzählerin, sie spricht von May und John, die sich 1979 treffen. Ein Paar, das den ganzen Film über kein Paar sein wird. Zwei Menschen, die im Warten verharren, während draussen die Jahre vergehen. Aber für May und John, die sich nur in diesem Club sehen und das auch nur samstags, steht die Zeit in einer Schleife. Für den Zuschauer bricht die Zeit immer wieder mittels kurzer Sätze, oder mittels kurzer Fernseh-Ausschnitte durch, schafft Zäsuren im immer Gleichen. Jahrzehnte verstreichen, andere Tänzer, andere Musik, aber das Warten, das die Beiden verbindet, wird nicht belohnt. Sie warten auf das Grosse, das eintreffen wird, irgendwann, und das Johns Welt komplett verändern wird. Mit May wartet auch der Zuschauer, und wie bei May schleicht sich doch bald die Erkenntnis ein, dass das, worauf John wartet, schon längst da ist, dass er sein und ihr Leben sinnlos vertrödelt mit dem endlosen Warten. Und das ist dann auch das Problem des Films, es ist so offensichtlich, auf was die Geschichte hinaus will, dass es dann viel zu lange dauert, dort anzukommen. Der Film halt viel Interessantes, zuallererst die Kamera, die Entfesselung und Statik spannend ins Bild bringt, und der Schnitt, der einem oft kontrapunktischen Rhythmus folgt, aber trotzdem: zu lang.
Gegen halb elf schiebt sich das Premierenpublikum dann hungrig und durstig ins Foyer, und wie im Film gibt’s dann: Party, das Warten hat ein Ende.
Das war sie nun, die letzte Diagonale Programmpräsentation des Intendantenduos Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger. In gewohnter Doppelconférence, die auch immer eine Art Schnellrede-Wettbewerb ist, führten sie durch das Filmprogramm ihrer letzten Diagonale.
115 Spiel-, Dokumentar-, und Experimentalfilme werden in Graz zu sehen sein, dazu noch Rahmenprogramme, Retrospektiven, Diskussionen und wie immer wird die österreichische Filmbranche in grosser Zahl die Gassen und Cafés der Stadt bevölkern. Frühling in Graz eben.
Frühlingsanfang
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Eröffnet wird am 21. März mit dem bereits in Berlin gezeigten Spielfilm Das Tier im Dschungel (AT/BE/FR 2023) von Patric Chiha. Aber auch wenn der Eröffnungsfilm eine grosse Koproduktion und auch keine Uraufführung ist, sind im Programm dann doch eine ganze Reihe Uraufführungen vertreten.
Wie so oft machen hauptsächlich die Dokumentar – und Experimentalfilme neugierig, zum Beispiel Brigitte Weichs ...ne, tassot, yossot…, die Fortsetzung des grossartigen Hana, dul, set… über das nordkoreanische Flussballfrauennationalteam. Oder Archiv der Zukunft von Joerg Burger über das Naturhistorische Museum in Wien, und bei den Experimentalfilmen zum Beispiel Norbert Pfaffenbichlers 2551.02 The Orgy of the Damned.
Wenn man von der überschwänglichen Begeisterung der Intendanten ausgeht, dann wird diese Diagonale ein rauschendes Fest bunter Bilder, voller Emotionen, Humor und Intellekt.
Schernhuber und Höglinger in Aktion (c) ch.dériaz
Kino-Flatrate
Nicht für Festivalkinos, sondern für den täglichen Kinobedarf gedacht, ist die neue Nonstopkino-Karte, die es ab Mitte des Monats österreichweit geben wird. Mit dieser personalisierten Karte – sprich: nicht übertragbar – kann man dann für 24 Euro monatlich in jedes der mitmachenden Kinos gehen und so viele Filme schauen, wie man mag. Der Haken an der Sache? Es machen „nur“ die Programmkinos mit und, in wirklich grosser Zahl, auch nur in Wien. Weiterer Haken, man muss sich mindestens 8 Monate binden. Bei Kartenpreisen von derzeit ca. 10 Euro, sollte man also dreimal im Monat ins Kino gehen. Jeden Monat, 8 Monate lang. Man muss also ein fleissiger Kinogänger sein, denn sonst sind die 24 Euro doch teuerer als sie erscheinen.
Da alles noch sehr in den Anfängen steckt, machen im Moment auch nicht alle Verleiher der Programmkinos mit, was dann auch bedeutet, dass einige Filme, selbst in den mitmachenden Kinos, nicht im Preis der Karte inbegriffen sind.
Ansonsten klingt das Projekt wie eine sehr schöne Idee, um einerseits mehr Menschen ins Kino zu bringen, dem Publikum preislich entgegenzukommen und andererseits die Planbarkeit für die Kinos zu erhöhen.
Das war sie also, die Jubiläumsausgabe der Diagonale. Die Kinos waren voll wie in vorpandemischen Zeiten und auf den Caféterrassen trafen sich Filmschaffende und Zuschauer. Wie oft gab es etwas mehr lange Dokumentarfilme(20) als lange Spielfilme(18). Es wurden weiterhin mehr Filme von Regisseuren gezeigt (oder gedreht?) als von Regisseurinnen, etwas mehr Regisseurinnen bei den Dokumentarfilmen.
Dafür waren die Jurys überwiegend von Frauen besetzt.
Dennoch, es bleibt die Frage: Wo sind die ganzen Regisseurinnen?
Die Preise
Zumindest eine Regisseurin findet sich bei den Gewinnern.
Sabine Derflinger gewinnt verdient den Grossen Diagonale Preis Dokumentarfilm für Alice Schwarzer.
Der Grosser Preis Spielfilm geht an RiminivonUlrich Seidl, der Film gewinnt auch für das beste Kostümbild, der Preis geht an Tanja Hausner.
Sowohl der Preis für die beste Kamera, Crystel Fournier, als auch für die beste künstlerische Montage,Joana Scrinzi, gibt es für den Spielfilm Grosse Freiheit. Beide, Fourniers Kamera und Scrinzis Schnitt tragen ganz wesentlich diesen tollen Film. Mehr zu Grosse Freiheithier.
Dass Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien den Preis für die beste künstlerische Montage gewinnt, erschliesst sich nicht wirklich. Nicht weil etwas an Dieter Pichlers Leistung auszusetzen ist, aber der Film bleibt eine zweistündige Werbung, egal wie ordentlich geschnitten er ist.
Der Publikumspreis geht an Andrina Mračnikar für ihren Film Verschwinden / Izginjanje. Auch ohne den Film gesehen zu haben, es ist immer wieder eine schöne Überraschung, dass Festivalpublikum oft einem (politischen) Dokumentarfilm seinen Preis zuspricht.
Kalt ist es geworden über Nacht und nass. So werden dann die angenehmen Pausen zwischen zwei Vorstellungen plötzlich unangenehm lang. Kein Sitzen in der Sonne, sondern die Suche nach Innenräumen mit heissen Getränken.
Arbeitswelt
Eine Institution ist 100 Jahre alt. Constantin Wulff zeigt, wie diese funktioniert in: Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien. Der Film kommt komplett ohne Kommentar aus, dennoch wird fast die ganze Zeit geredet. Über die zwei Stunden Länge wird es dann irgendwann zu viel.
Die Funktion der Arbeiterkammer als einerseits Beratungs- und Unterstützungsstelle für alle arbeitsrechtlichen Belange, als auch politische Institution nach Aussen, ist nicht nur wichtig, sondern auch löblich. Aber trotz der ruhigen Kamera, trotz der netten, motivierten und vielsprachigen Mitarbeiter, man wird auf die Dauer müde, dem allen zuzuhören. Zuzuhören deshalb, weil die Bilder sich nicht so wahnsinnig verändern. Beratungen und Teambesprechungen, Pressekonferenzen und Auftritte im Parlament sehen sich irgendwann doch alle sehr ähnlich. Besonders lustig wird es, wenn mittlerweile überholte Ansichten zum Thema Pandemiedauer zu hören sind, oder mittlerweile abgesetzte Politiker einen Kurzauftritt haben. Aber gut, diese Freude war wohl nicht wirklich im Konzept des Films geplant. Der Film wirkt insgesamt mehr gut gemeint als gut, macht über seine Länge mehr Werbung für die Institution Arbeiterkammer, als man sich im Kino anschauen möchte.
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Assoziative Innenschauen
Acht Kurzfilme der Sektion Innovativ- oder auch Experimentalkino. Die Filme umfassen von 16 mm Arbeiten bis Animation ein breites handwerkliches Spektrum.
KatharinaViktoria 2(021) von Viktoria Schmid lässt ihr Gesicht und das ihrer Schwester in 16 mm Einzelbildern drehen, alterniert sie rhythmisch, um zu sehen, zu zeigen, wie viel Ähnlichkeit zwischen beiden besteht. Kurzweilig – 1Minute – und schön und mit dem satten Projektorknattern im Rücken.
Für Under the microscope von Michaele Grill muss man den Katalogtext gelesen haben. Ohne den Text versteht man nicht, dass es sich bei den pulsierenden, wabernden Formen um Ausschnitte aus Wissenschaftsfilmen der 1920er Jahre handelt. Unterlegt ist das Ganze mit elektronischen Geräuschen.
Auf der Suche nach dem Ich, oder zumindest der inneren Stimme ist Ganaël Dumreicher in Otoportait. Er filmt zunächst sich, steil von oben, mit einer Handykamera. Man beobachtet, wie er etwas versucht zu schlucken. Einen Schlauch? Eine Kamera? Ein Mikrophon? Dann kehrt sich das Innere nach aussen, und Bilder einer Magenspiegelung, mit einer Tonkollage aus Würgen und Schlucken unterlegt. Innen, aussen, innere Stimme, Ich. Ein bisschen gruselig, irgendwie.
Sehr schön ist In the upper room von Alexander Gratzer. Der Animationsfilm zeigt eine Generationsliebesgeschichte. Der Enkel wird erwachsen, während er sich vom geliebten Grossvater verabschieden muss. Schön, schlicht, berührend.
Und wieder rattert der Projektor von hinten für: Das Rad von Friedl vom Gröller. Kreisbewegung in Form von radschlagenden Mädchen.
Nach 7 Jahren sieht Sie möchte dass er geht, sie möchte dass er bleibt von Viki Kühn erstmals die Leinwand. Davor lag der Film in einer 80 Minuten Fassung in der Schublade, am Ende sind 13 Minuten geblieben, die assoziativ von einer Beziehung handeln.
Auch experimentelle Kurzfilme können sich sehr direkt mit pandemischen Massnahmen befassen. Zwei lustige Minuten lang zeigt Friedl vom Gröller in 2020 Zähne: beim Zahnarzt, hinter runter gezogenen Schutzmasken, in Hundeschnauzen. Zähne, die in letzter Zeit tatsächlich selten zu sehen waren.
Noch eine assoziative Reise, diesmal gerichtet an ein noch nicht geborenes Kind. Die Welt ist an ihren Rändern Blau von Iris Blauensteiner und Christine Moderbacher, mischt Archivvideos, Babyultraschall und Selbstgedrehtes, das eigentlich ein anderer Film hätte werden sollen. Der Text gibt den disparaten Bildern einen Rahmen, macht den Gedankenfluss dadurch allgemein verständlich.
Multiplexen
Samstag Nachmittag im Multiplex. Es piept, fiept und klirrt. Das Foyer des Kinos ist voll mit Kindern an elektronischen Maschinen. Dazwischen Diagonalezuschauer und Kinozuschauer auf dem Weg zum aktuellen Blockbuster, es riecht nach Popcorn und Nachos.
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Liebe geht
Para:Dies von Elena Wolff zeigt auf witzige Art, was passiert, wenn Selbstdarstellung wichtiger ist als Treue oder Loyalität. Die Liebe zwischen zwei jungen Frauen zerlegt sich zusehend vor der Kamera für einen fiktiven Dokumentarfilm. Anfangs scheinen sie noch ganz romantisch von ihren Anfängen zu berichten, aber schon da schleichen sich böse Zwischentöne ein. Die Kamerafrau dient zusehends mehr als Reflexionsfläche, als Spiegel für die eigenen Selbstdarstellungen. Im Verlauf des Films wird sie mehr und mehr einbezogen, angesprochen, bleibt aber bis kurz vor Schluss unsichtbar und unhörbar. Als sie dann mit vor ihre Kamera tritt, sich mit ins Bild begibt, schnappen alle Fallen, die vorher von der einen oder der anderen ausgelegt wurden, auf einen Schlag zu. Treue, Loyalität, Liebe, alles egal.
Grenzen
Krai von Aleksey Lapin ist laut Programm ein Dokumentarfilm, dass das nicht so ganz stimmen kann, ahnt man schon nach der Kurzbeschreibung. Hier werden Grenzen ausgelotet, überschritten und umgeformt. Das Ergebnis ist originell.
Das Drehteam kommt ins kleine russische Dorf, aus dem ein Teil der Familie des Regisseurs stammt, vermeintlich, um dort einen Historienfilm zu drehen. Aber recht schnell mischen sich in das Casting mit den Dorfbewohnern auch bizarre Geschichten von verschwunden Pilzsammlern, aus dem Boden austretendem Radon, Maschinen, die nicht mehr laufen, und weitere Skurrilitäten.
Grenzen liefert auch das Bild, in schwarz-weiss und in 4:3 Format gedreht. Innerhalb dieses engeren Rahmens wird durch die Kadrierung das Bild zusätzlich begrenzt, es entstehen guckkastenhafte Räume von eigenwilliger Schönheit.
Die perfekte Szenerie für die absurde Geschichte. Gefragt, warum der Film in der Kategorie Dokumentation läuft, liefert der Regisseur die charmante Antwort: Die Finanzierung war für einen Dokumentarfilm. An sich wären alle diese Einteilungen in Fiktion-, Dokumentar- oder Experimentalfilm gar nicht nötig, aber das hiesse im Fall der Diagonale, das System der Preise neu zu regeln. So wird es dieser Film vermutlich schwer haben in seiner Kategorie einen Preis zu bekommen, aber wer weiss.
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Das war der letzte Kinoabend, morgen werden die Preise dann vergeben, Prognose wage ich lieber nicht.
Knapp nach dem Frühstück heute ein schräger, eigenwilliger Film: Wander von Rosa Friedrich. Eine surreale Apokalypse, in der tote Fische und Vögel in fluoreszierenden Farben vom Himmel plumpsen, während vier junge Menschen zwischen tosendem Meer, Schlamm und Felsen versuchen, ihre Umgebung, ihre Welt zu begreifen.
Anfangs erweckt der Film bildliche Assoziationen an Bergmanns Das siebente Siegel oder Buñuels L’âge d’or. Die suggestive Musik, die sich mit den Naturklängen mischt, und von schrägen, vielsprachigen Dialogen abgelöst wird, ein wilder (Fehl)Farbenrausch, die erste Hälfte des Films ist wirklich sensationell. Ab der Mitte geht der Geschichte immer wieder etwas die Puste aus. Leider gab es ab der Hälfte auch technische Probleme mit der Tonwiedergabe, sodass man statt Klavier, Klarinette und Stimme so etwas wie elektronische Experimentalmusik zu hören bekam. Insgesamt ein wirklich beeindruckender Film, voller lyrischer Schönheit und wilder Phantasie.
Schatten
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Als noch freie Platzwahl galt, gab es dicke, amorphe Menschentrauben vor den Kinosälen, und die Zuschauer wollten so früh wie möglich rein, um ihre Lieblingsplätze zu besetzen. Jetzt werden die Plätze beim Buchen zugewiesen, mit dem Ergebnis, dass die Leute in der letzten Minuten kommen, ihre Plätze suchen, und die Vorstellungen immer leicht verspätet beginnen.
Vielleicht geht da irgendein Mittelding?
Das Kurzspielfilmprogramm ist, wie fast alle Kurzfilmprogramme, nahezu ausverkauft. Familie und Schatten in der familiären Vergangenheit dominieren alle drei Filme. In Absprung von Valentin Badura, angesiedelt im ländlichen steierischen Gebiet, entdeckt der Enkel, beim Ausräumen des grossväterlichen Haus, eine unklare Geschichte aus der Zeit des 2. Weltkrieges. Hat der Grossvater, als Wehrmachtsoffizier, einen Deserteur verraten? Und was ist dann mit dem passiert? Der Vater weiss es nicht, und wiegelt ab. Und der Enkel? Am Ende zieht er es vor, die unklare Geschichte zu begraben. Jan Prazak lässt in Alles ist hin eine ältere Obdachlose und einen jungen Musiker in einer Zufalls WG aufeinander treffen. Das ungleiche Paar, das scheinbar nichts gemeinsam hat, entdeckt doch eine Verbindung. Ihre düstere Vergangenheit und seine plötzlich gar nicht so bunte Gegenwart schaffen ein Band, von dem beide profitieren. Familiengeschichte, diesmal im dörflichen Tirol, in Zwölferleitn von Fentje Hanke. Traditionen und unausgesprochene Verletzungen aus der Vergangenheit schicken Enkel und Grossmutter in einen zunächst aussichtslosen Kampf. Aber Stück für Stück klären sich Kränkungen aus der Vergangenheit, dafür zeigt sich die traditionelle Gegenwart im Dorf als viel grösseres Problem. Alle drei Filme sind sauber, wenn auch recht konventionell gemacht, alle drei könnten etwas kürzer sein, ohne dabei zu verlieren, unterhaltsam sind sie aber trotzdem.
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Krieg
Bisher waren weder das Virus noch der Krieg in der Ukraine wirklich Thema in Graz. Weder in den Filmen (die ich gesehen habe) noch in den Gesprächen am Rand.
Bei Signs of war von Juri Rechinsky&Pierre Crom ist es schwierig zu sagen, was man vor sich hat.
Der Pressephotograph Pierre Crom hat zwischen 2014 und 2015 auf der Krim und im Donezk Gebiet photographiert, und manchmal auch gedreht. Diese sehr beeindruckenden Photos sind die Basis des Films. Die zweite Ebene bildet ein Interview mit Crom, in dem er von den Situationen erzählt, in denen die Bilder entstanden sind. Wie er überhaupt dazu kam, dort zu arbeiten, unter welchen Bedingungen er im Verlauf der Zeit und der Konflikte dort gearbeitet hat und was die Arbeit und die Bedingungen mit ihm gemacht haben. Die Erzählung ist gleichzeitig sehr sachlich und doch persönlich und immer eloquent. Seine Bilder brauchen sich auf der grossen Leinwand nicht zu verstecken, ihre technische Qualität erlaubt Schwenks und Bewegungen innerhalb der Photos. Unterlegt ist das Ganze mit einer Tonspur aus Geräuschen, die aus den Situationen zu stammen scheinen, und mit oft bedrohlicher Musik. Das alles entspricht den Hörgewohnheiten, die man zu diesen Bildern hat. Es entspricht in seiner suggestiven Art allerdings auch einem dystopischen Kriegsdrama. Im Nachspann liest man, dass die Töne, zumindest in Teilen, aus Tonarchiven kommen. Das alles ist, besonders Anbetracht der aktuellen politischen, kriegerischen Entwicklungen, emotional sehr aufgeladen.
Und genau da stellt sich dann auch der Frage, was dieses Werk eigentlich ist:
Eine Erinnerung? Eine Reflexion über die Arbeit als Pressephotograph?
Aber ist es auch ein (Dokumentar)Film?
Die Aussagen, Erinnerungen und das Entstehen der Bilder sind so weit über den Zweifel an der Redlichkeit erhaben, und sie sind zweifelsohne extrem interessant. Aber es bleibt die Frage, ob ein Film ein Dokumentarfilm ist, wenn er in wesentlichen Teilen aus Photos, (Archiv-) Geräuschen und Musik besteht.
Viren
Nach Krieg dann also doch noch ein Film, in dem es um die Pandemie geht, aber nicht nur. Der stille Sturm von Cristina Yurena Zerr fängt mit dem ersten Lockdown an. Eigentlich wollte sie mit ihrem Freund nur das Osterwochenende bei dessen Familie in einem 700 Seelen Dorf im Burgenland verbringen, der Lockdown bewegt das Paar dazu, lieber im Familienhaus mit Garten zu bleiben als nach Wien zurückzufahren. Aus dem Wochenendausflug werden zwei Monate, verbracht mit drei Generationen der Familie in einem Haus. Sehr früh im Film spürt man, dass die 94-jährige Grossmutter echte Starqualitäten hat. Und so kommt es immer wieder zu sehr intimen, schönen und lustigen Momenten mit der sehr wachen Oma. Ab der Hälfte etwa öffnet sich die Geschichte etwas mehr, die Pandemie ist immer noch nicht vorbei, es folgt Lockdown auf Lockdown, und immer wieder – kurze – Besuche im Burgenland. So entsteht ein buntes, schönes Panorama einer beeindruckenden Familie, aber auch ein persönliches Stück über Leben und Sterben, soziales Engagement und entspanntes Miteinander. Ein sehr schönes, rundes Erstlingswerk.
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Das beliebte Popcorn sorgt übrigens nicht nur für Maskentragepause, sondern auch für ordentliche Ferkelei im Kino.