57.Solothurner Filmtage mehr

 

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Wochenende in Solothurn

 

Das Festival Wochenende beginnt mit strahlend blauem Himmel und fast milden Temperaturen. Dafür hat die Festival App eine neue Idee, wie sie Reservierungen verkomplizieren kann; eventuell ist frühstücken ganz ohne Einsatz von Elektronik ein guter Plan für die kommenden Tage.

 

Kurzfilme-morgens

 

Souviens-toi hier von Juliette Menthonnex. Wie erinnert man sich an das verdrängte? Wie schafft man die Traumata, die einem das Leben verderben wieder aus sich heraus? Eine junge Frau entschliesst sich, lange nach einer Vergewaltigung, den Täter anzuzeigen. Ein bewegendes und bedrückendes Dokument einer Heilung.

von Christoph Oeschger.  Ausgehend von der Unmöglichkeit 2° Erderwärmung zu verstehen, übersetzt der experimentelle Dokumentarfilm diese Problem in Bilder. 2° mehr in einem Filmbild bedeuten etwa 3 Blenden weiter auf, eine Visualisierung, die man verstehen kann. Gletscherbilder werden mittels Bearbeitungsapps zu abstrakten und verstörenden Konstrukten, mit Stoff bedeckte Gletscher sehen wie Kunstobjekte aus, Abstraktion macht manches sichtbar.Die menschengemachte Erwärmung entzieht sich dem Verstehen und zeigt doch den Imperativ zu handeln.

Fièvre von Michele Pennetta und Géraldine Rod. Ein junger Schauspieler in einem Luxushotel, der Drehbeginn steht unmittelbar bevor, da erfährt er, dass sein PCR test positiv ist. Nicht nur muss er jetzt 14 Tage in seinem Zimmer bleiben, er verliert auch die Rolle. Ein böser Spass, sehr gut gespielt.

Senza sturnizi – Richard Coray, constructur da punts persas von Susanna Fanzun. Faszinierendes über den Gerüstkonstrukteur Coray, der Ende des 19. Anfang des 20.Jahrhundert nicht nur im heimatlichen Graubünden, sondern weltweit für die Hilfsbauten von Brücken und Seilbahnen verantwortlich war. Kreatives Genie und eine grosse Portion Schwindelfreiheit prägen die Geschichte. Fragil wirkenden Holzbauten, die so schön sind, dass man ihnen ein eigenständiges Dasein gewünscht hätte, werden mittels Filmtechnik in ihrem Kontext wieder sichtbar, und verschwinden wieder.

 

 

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Kurzfilme – mittags


Was macht das fast völlige Fehlen weiblicher Vorbilder im Filmschaffen mit einer jungen Regisseurin? Dieser Frage geht Juliette Klinke in Dans le silence d’une mer abyssale auf den Grund. In einer Kollage aus Filmausschnitten von Regisseurinnen, Kamerafrauen und Produzentinnen aus den Anfängen der Filmkunst, komponiert sie einen Essay zu ihren Reflexionen. Ab den 30er Jahren des letzten Jahrhundert, als Film von einer abseitigen Kunst zu einer Industrie wurde, sind Frauen aus dem Blick, dem Gedächtnis sukzessive entfernt worden, bis zu einem heute nahezu völligen Vergessen. Es liegt also an heutigen, jungen Filmemacherinnen, diesen Kulturschatz wieder ans Licht zu bringen.
In guten Händen von Philipp Ritler und Kezia Zurbrügg, zeigt einzelne Situationen, in denen Menschen Hilfe bieten, sich kümmern, alles in statischen, bühnenhaften Szenen. Tatsächlich ist das nicht wirklich interessant.
Ein weiterer Film, diesmal kurz und fiktional, der sich mit Krieg, Bildern und deren Deutungshoheit befasst. Real News von Luka Popadić kreiert eine Geschichte um einen jungen Reporter, der während des Kosovo Kriegs in Belgrad seine ersten Aufträge hat. Genau zu der Zeit, als die NATO das serbische Fernsehen bombardiert hat, er muss sich entscheiden, seine persönliche Betroffenheit zu formulieren oder seine Karriere weiter zu treiben.
Kann man aus Dias aus den 80er Jahren unterlegt mit Tonaufnahmen aus der gleichen Zeit eine Film machen? Und wird dieser Film flüssig und schlüssig sein? Im Fall von TRAP NYC 1988 von Dieter Fahrer funktioniert das Experiment tatsächlich gut, der Film hat Rhythmus und Fluss, und lässt die Vergangenheit wieder aufstehen.

 

Familiensache

 

Der privateste Film so weit ist Pas de deux von Elie Aufseesser. Die Langzeitdokumentation einer Familie aus Genf, im Zentrum zwei Brüder, die sich gleichzeitig extrem ähnlich und völlig gegensätzlich sind. In der Familie treffen nicht nur verschiedene Temperamente, sondern auch verschiedene Ethnien, manchmal durchaus rabiat, auf einander. Der Film ist mit kleinsten Mitteln gedreht, heisst in diesem Fall, der Regisseur war mit seiner Kamera immer wieder präsent. Unter der Bedingung nicht einzugreifen, bekommt er so Zugang zu vielen sehr intimen Familienszenen. Er folgt der Familie in den Urlaub auf die Azoren, dem einen Bruder an eine amerikanische Uni, wo er als Turmspringer ein Stipendium hat. Dem anderen Bruder folgt er nach Jordanien, wo der mal einfach nur kichernd rumhängt, mal für einen Werbefilmdreh rekrutiert wird.
Der zeitliche Ablauf erscheint manchmal konfus, so dass man als Zuschauer die Orientierung verliert. Das Hirn wünscht sich Kohärenz in den Abläufen, aber im Endeffekt sind die Ereignissen keine Folge eines Zeitablaufs, sondern singuläre Ereignisse, die für einen Aussenstehenden in jedweder Reihenfolge Sinn ergeben, oder eben nicht.

 

 

Farbrausch


Youth Topia
von Dennis Stormer spielt mit Farben und Formaten und erzählt eine Art 1984 auf LSD. Der „Grosse Bruder“ ist ein Algorithmus, der, anhand der Instagramauftritte, ermittelt, ob man ewig Jugendlicher oder Erwachsener wird, entsprechende „Beamte“ kommen einen dann informieren. So wird eine Gruppe von Freunden, die in einer alten Scheune leben, wilden Unfug treiben und das Leben geniessen, auseinanderdividiert. Während die Erwachsenenwelt in klaren Farben, die Räume aus Sichtbeton sind, ist die Welt der ewig Jugendlichen in grelle Fehlfarben getaucht. Wenn die Welten interagieren, verwischen die Verhältnisse etwas. Dazwischen Instagrampostings mit farbigen Filtern, Emojis, Kommentaren und in 1:1 Format. Ganz hält der Film das Konzept nicht durch, und leider geht im Verlauf des Films der Erzählstrang des „bösen“ Algorithmus verloren, er mischt sich nicht mehr ein, greift nicht mehr ein. Das ist ein bisschen schade, da wäre mehr möglich gewesen. Auch der sehr jubelhafte Schluss nimmt dem Film die Schärfe und das Originelle, ein offeneres Ende wäre eine denkbare Abhilfe gewesen.

 

 

Openairkino
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Völlig Abgedreht


Wenn es einen Preis für den besten Filmtitel gäbe, Wer hat die Konfitüre geklaut? von Cyrill Oberholzer und Lara Stoll, wäre der beste Kandidat dafür. Ihr zweiter gemeinsamer Langfilm ist eine wilde, durchgedrehte Mischung aus Horror, Science Fiction und Kaspertheater. Grell, bunt und unverfroren mischen sie alle Genres, jagen ihre Darsteller durch unglaubliche Situationen, mischen popkulturelles und Michael Jackson hinein und garnieren alles mit einer boshaften Drohne, und einem Algorithmus, der irgend etwas schwer giftiges verdaut haben muss. Ein Film, der sicher nicht jedem gefällt, für Fans des Abstrusen Kinos aber ist der Film eine Freude. Und ausverkauft war die Uraufführung auch.

 

 

Die App – Mission Impossible

 

Die Reservierungs-App hat eine neue Methode der Quälerei gefunden….
Filme im Programm werden im richtige Kino angezeigt, will man dann allerdings buchen, wird ein falsches Kino und ein falscher Tag angezeigt! Buchung unmöglich. Nach einem Update geht es ein bisschen besser.

 

 

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Film? Kunst?

 

Während in Solothurn die sonntäglichen Bürgersteige noch verschlafen weggeklappt sind, gehen einige Mutige ins Kino.
Was Systemrelevant aber unsichtbar von Hedwig Bäbler bei einem Filmfestival zu suchen hat, erschliesst sich allerdings nicht. Der Film behandelt ein relevantes gesellschaftliches Thema, ist aber im besten Fall eine dürftige Tv-Reportage. Die Protagonisten sind gut gewählt und präsentieren ihre Schwierigkeiten auf verständliche Weise , aber die Bilder sind beliebig, die Dramaturgie uninspiriert und der Kommentartext ist ganz schlimmer, bedeutungsschwangerer Fernsehkommentar.
Der zweite Film in diesem morgendlichen Programm, Haltlos von Peter Guyer und Jürg Halter, zeigt eine Spokenword Performance. Die Performance ist gut, die Übertragung auf die Leinwand ist es nicht. Ohne einem nachvollziehbarem Konzept zu folgen, sieht man mal Vollbild, mal einen breiten, schmalen Schlitz oben, oder unten, mal Quadratisches Bild, mal Hochkant. Die „Vignetten“ sind dabei mal grösser, mal kleiner, werden von bunt zu schwarz-weiss gezogen und wieder zurück. Die sehr rhythmische Sprache der Performance wird dabei weder unterstützt, noch kontrapunktisch betont. Eher schaut man einer Spielerei am Schneidetisch zu. Was kann man alles mit Bildern machen?
Die Antwort wäre: viel mehr, als was hier zu sehen war.

 

Weltherrschaft

 

Sonntag viertel nach Zwölf, und der grosse Konzertsaal ist voller Zuschauer, die einen Dokumentarfilm über Pilze sehen wollen. Das ist echte Filmbegeisterung.
In The Mushroom Speaks von Marion Neumann geht es um die Welt der Pilze, in all ihren oft unterschätzten und wenig bekannten Facetten. Pilze beherrschen die Welt und sind überall, nicht die Fruchtkörper, die man gemeinhin als Pilze sieht, sondern das was sie wirklich ausmacht, das Unterirdische, Vernetzte. Lange Zeit wurde diese Spezies vernachlässigt. Neumann nähert sich dem Thema sowohl poetisch, als auch wissenschaftlich. Pilzkenner, Wissenschaftler, Aktivisten, Pilzgurus aller Arten teilen ihr Wissen und ihre Hoffnungen, mit Hilfe der Pilze einige menschengemachte Probleme der Welt zu beheben. Gegen Ende verliert der Film etwas an Spannung, macht noch einen, eher entbehrlichen, Schlenker zu psychoaktiven Pilzen und verliert den Weg zu einem sauberen Schluss aus den Augen. Insgesamt aber eine gut gemachte Dokumentation.

 

 

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DIe Maskensisziplin ist tasächlich hoch, ganz selten sieht man Masken als Kinnschutz getragen.

 

Mut

 

Laurence Deonna libre von Nasser Bakhti. Das Portrait der Genfer Journalistin und Schriftstellerin zeigt eine mutige Frau, die familiären und gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz ihren Weg gegangen ist. Für die Tochter aus „gutem Haus“, 1937 geboren, war es keineswegs vorgezeichnet, dass sie als Reporterin hauptsächlich den Mittleren Osten bereisen und Reportagen liefern würde, in denen sie sehr oft die Frauen der Region in den Fokus stellte. In ihrer aktiven Zeit ist sie sicher nicht immer bequem gewesen, aber eine Journalistin, die einiges bewegt hat, auch in ihre Funktion bei Reporter ohne Grenzen.

 

 

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Träume

 

Aya von Lorenzo Valmontone und Thomas Szczepanski zeigt zwei Menschen am Rand der Gesellschaft, ohne zu werten dafür mit einem sanften Blick. Ein in Calais gestrandeter Migrant, der im mittlerweile abgerissenen Lager „Dschungel“ eine Schule auf die Beine gestellt hat und eine arbeitslose Französin, die im Lager als Freiwillige geholfen hat. Das triste, graue und sturmgebeutelte Calais bietet die Bühnen auf der beide immer wieder von Grossem träumen. Zimako, ursprünglich aus Togo, hat, so scheint es, ständig neue Ideen, wie die Welt ein besserer Ort werden kann.Mal will er leerstehende Häuser für Migranten und Obdachlos herrichten, oder einen Film machen, den er dann nur noch einem Hollywood Produzenten verkaufen muss, auch eine Karriere als Rapper hält er für denkbar. Auch Lydie träumt von einer Welt, in der Menschen ohne Vorurteile miteinander umgehen, von einem vernünftigen Job, von einem Leben als Fahrerin. Zwei Träumer in einer unwirtlichen Landschaft, in einer Welt, die mit solchen Träumern nicht viel anzufangen weiss.

 

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Bisher war noch kein Film dabei, der wirklich umwerfend war, eine originelle oder neue Handschrift oder Bilderwelt gezeigt hätte, aber ein bisschen geht das Festival ja noch weiter.