#Locarno77 Erinnern

 

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Beiläufig

 

In Mond von Kurdwin Ayub bekommt eine ehemalige MMA–Kämpferin ein Jobangebot in Jordanien, sie soll dort die Töchter einer reichen Familie trainieren. Der Job scheint eine gute Chance zu sein, ihr etwas ramponiertes Ego wieder aufzupolieren. Aber recht schnell zeigt sich, dass der Job nicht so einfach ist. Die Mädchen sind teilweise bockig-unwillig und hängen lieber den ganzen Tag vor dem Fernseher. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, irgendetwas scheint verkehrt zu laufen in dem palastartigen Haus.
Den Mädchen ist fast alles, was Teenager heute so machen, verboten: WLAN im Haus, Handy ausserhalb des Hauses, Kommunikation, alles Fehlanzeige.
Und wer ist die vierte Schwester?
Die Idee ist eigentlich sehr gut und spannend, scheitert aber daran, dass alle Figuren seltsam unbeteiligt und losgelöst sind. Die Trainerin will zwar wissen, was los ist, aber so recht glauben mag man ihr das nicht. Sie taumelt mit stets gleichem neutralen Gesichtsausdruck durch die Szenen, selbst als es zu einem kurzem, aber heftigem Schockmoment kommt. Die Schwestern wirken, selbst wenn sie sich aufregen, wie aufgezogen und die Security-Männer wirken wie hohle Hüllen.
Als eine der Schwestern die Trainerin bittet, ihnen zu helfen zu fliehen, erledigt sie alles mit unverändert stoischem Blick. Sämtliche Handlungen – der Schwestern, der Trainerin – bleiben völlig ohne Konsequenzen. Das nimmt dem Film sehr viel Empathiepotenzial und Glaubwürdigkeit.

 

 

Sex und Familie

 

Mother Is a Natural Sinner von Boris Hadžija und Hoda Taheri ist der dritte Kurzfilm des Regie-Paares, und wieder eine – scheinbar – sehr persönliche Geschichte, die drastisch-geradlinig erzählt wird.
Der Film fängt mit einer medizinischen Kamerafahrt aus der Scheide heraus an, um dann von der Vulva aussen in die Totale beim Gynäkologen zu fahren. Möglicherweise war das eine der angekündigten „Triggerwarnungen“ für sensible Gemüter. Danach hat das Paar eine ziemlich schräge Unterhaltung über Sex und sexuelle Vorlieben und Praktiken, während sie in aller Ruhe Gemüse putzen und ein Hühnchen zerlegen. Der Kontrast ist tatsächlich ziemlich lustig, mehr allerdings auch nicht.

Maman danse von Mégane Brügger ist inhaltlich härter. Die Erinnerungen von Mutter und Tochter an eine Zeit des Missbrauchs und der Gewalt. Familienphotos, das ehemalige Wohnhaus, Fragen, Antworten, der Versuch, die Erinnerung des Kindes ins Heute der Regisseurin zu bringen. Auch wohl um damit abzuschliessen.

Ein spielsüchtiger Vater und seiner kleiner Sohn sind die Protagonisten in Punter von Jason Adam Maselle. Eine kleine, tragisch-traurige Geschichte von Verrat. Der Junge kauft für den Vater von seinem Ersparten eine Geburtstagstorte, die aber möglichst schnell in den Kühlschrank sollte. Der Vater hat allerdings andere Pläne: nur eine einzige Pferdewette, versprochen. Versprechen gebrochen!

In The Cavalry von Alina Orlov ist eine politische Erinnerung an das Jahr, in dem die israelische Regierung den Zaun zum Westjordanland gebaut hat, Ausgangspunkt für eine experimentelle Auseinandersetzung mit Aspekten der israelischen Politik. Am Beispiel der Kavalerie-Truppe im Verlauf der Jahrzehnte bis heute mischt die Regisseurin reale Bilder mit computermodifizierten Aufnahmen. Sie verfremdet und bringt damit Details einander näher. Nicht uninteressant.

Chou He Zhuang von Hao Zhou spielt mit der Thematik der Selbstkritik in China. Homosexualität, Bespitzelung, nicht erfüllbare Erwartungen und dazwischen: Lautsprecherdurchsagen, die Selbstkritik als Massnahme zur inneren Harmonie predigen. Sehr schräg, relativ explizit.

 

 

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Kinderblick

 

Kada je zazvonio telefon (Als das Telephon klingelte) von Iva Radivojević ist ein Mosaik an Erinnerungen, geformt aus dem Blick eines 11-jährigen Mädchens, dessen Welt dabei ist, sich radikal zu verändern.
Als das Telephon klingelt, 1992, an einem Freitag um 10:36, besteht Jugoslawien (gerade) noch. In Schleifen, Loopings, Assoziationen und dem immer wiederkehrenden Motiv des klingelnden Telephons entsteht die Welt der kleinen Lana. Der Anruf fungiert als Drehpunkt, um den und von dem aus die Bilder rein und raus fliessen können. Das kindliche Erinnern an Freunde, Spiele, Situationen, kurz vor einer Flucht, kurz vor dem Ende des bekannten Lebens. Fragmentiert, nicht chronologisch, aber immer sehr intim. Der Film hat kaum Dialoge, dafür eine Off-Erzählstimme, die kurz die Situationen skizziert, sich aber auch den kindlichen Bögen unterwirft.

 

 

Pasta statt Piazza

Es mag ein Fehler sein, oder ein Zeichen von Kultur-Ignoranz, aber 150 Minuten Filme auf unbequemen Stühlen, nachdem vorher noch Ehrenpreise verteilt wurden, nein, das ist zu viel.
Also, statt auf der Piazza den nepalesischen Film anzuschauen, essen gehen und dann einen litauischen Film aus dem internationalen Wettbewerb sehen.

 

Schwestern

Laurynas Bareiša wählt für Seses einen Erzählstil mit Unterbrechungen und Wiederholungen. Eine Art Parallelmontage von einem Vorher und einem Nachher, Cliffhanger inklusive. Das ist ganz kurz etwas verwirrend, aber dann eigentlich ein sehr schöner Kunstgriff. Zwei Schwestern, ihre Männer und je ein Kind fahren gemeinsam in ein Ferienhaus an einem See, die Stimmung ist relativ gelöst, kleine Reibereien und Angebereien mal ausgenommen. Der erste Strang endet, als eines der Kinder nach einem Sprung in den See nicht mehr auftaucht. Im zweiten Strang versteht man recht bald, dass der Mann einer der Schwestern nicht mehr am Leben ist. Danach wechseln sich die Sequenzen ab, und Stück für Stück erlebt man, was vorher geschah und was heute daraus geworden ist. Ein Film bei dem man trotz Spannung ganz in Ruhe schauen, folgen und verstehen kann.

 

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Auf dem Rückweg, vorbei an der Piazza, wo der nepalesische Film in vollem Gange ist, schöne Bilder hat er auf jeden Fall.

Locarno#76 Politisch

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Abgebrochen

 

Wenn man sein Festivalprogramm eng taktet, dann darf nichts schiefgehen. Andererseits, was schiefgehen kann, geht dann auch schief, zumindest manchmal. In der Open Doors Sektion läuft am Morgen der peruanische Film Autoerótica von Andrea Fernanda Hoyos Valderrama. Nachdem er schon etwas verspätet anfängt, dann der Ton so laut und verzerrt ist, dass man Ohrenschmerzen bekommt, läuft der Film gut 20 Minuten in erträglicher Lautstärke. Doch dann, Film stoppt, Licht geht an: „Tonprobleme, wir starten den Film neu“. Schade, aber mit einem Neustart ist der nächste Film nicht mehr zu schaffen, verschieben bringt das nachfolgende Programm komplett aus dem Lot. Raus aus dem Kino, aber schade um den peruanischen Film.

 

Taschen

Weiterhin werden vor jedem Kinosaal, aber auch vor dem abendlichen Zugang auf die Piazza Taschen und Rucksäcke kontrolliert. Allerdings sind die Sicherheitsleute im Lauf der Jahre etwas flexibler geworden. Es wird nicht jede Trinkflasche moniert, sondern nur, sollte sie aus Glas sein, spitze Gegenstände sind natürlich auch nicht im Saal erlaubt. Ganz selten gibt es dann doch übereifrige Kontrolleure, die die Grösse der Rucksäcke kritisch beäugen.

 

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Was bleibt

 

40 Minuten vor der Nachmittagsvorstellung ist die Warteschlange schon erheblich, Festivalpublikum ist wirklich unermüdlich und fleissig.
Zur Einführung von Maryna Vrodas Film wird der künstlerische Leiter Nazzaro kurz und, für ihn eher ungewöhnlich, politisch und verlässt die Bühne mit einem „Slava Ukraini“.
Ok, kann man machen.

Bei Stepne von Maryna Vroda weiss man nicht immer, ob man noch in einem Spielfilm ist, oder schon in einem ethnologischen Dokumentarfilm. Dank der wunderbaren Kamera-Arbeit ist das allerdings verzeihlich.
Ein Dorf, irgendwo in der Ukraine, grau, schlammig, nur noch von alten Menschen und deren Erinnerungen bevölkert. Ein Sohn kommt zurück, um sich um seine sterbende Mutter zu kümmern. Aber auch, um sich selbst zu erinnern, sich von den Geschichten der Alten tragen zu lassen, in eine Welt, die so nicht mehr existiert. Manche der „ethnologischen“ Exkurse sind arg lang, zum Beispiel die Beerdigung und der anschliessende Leichenschmaus, auch wenn die Kamera hier wieder sehr viele fabelhafte Bilder findet: Bilder von Gesichtern, die wie verwittertes Holz aussehen, abgearbeitete Finger, oder einfach ein Raum, dunkel, voller Menschen, schön wie ein Gemälde. Aber eben manchmal auch etwas langatmig. Dennoch, der Film gibt ein Gefühl für diesen verlorenen Ort, und erinnert vielleicht an eigene verlorene, vergessene Orte.

 

 

Unterwegs

 

On the Go von María Gisèle Royo und Julia de Castro ist ein ziemlich durchgeknalltes Roadmovie. Die Protagonisten, ein Freundespaar: er schwul, sie mit dringendem Kinderwunsch. Dazu dann noch Brandstiftung, ein amerikanisches Auto, eine philosophierende Meerjungfrau – die scheinen gerade Konjunktur zu haben – alles lustig durcheinander gewirbelt. Nichts wird wirklich auserzählt, und erst recht wird nichts aufgeklärt. Die Figuren lassen sich treiben vom Rhythmus der Ereignisse, wie sie halt gerade kommen, sofern sich das Publikum auf diesen etwas rauen Spass einlässt, treibt es fröhlich mit. Das ganze gedreht auf 16 mm und zum Teil aberwitzig geschnitten.

 

Unrund

 

Irgendetwas scheint dieses Jahr in Locarno nicht richtig rundzulaufen. Es sind Kleinigkeiten, die irritieren, die den Festivalalltag etwas mühsamer machen. Neben den schon beklagten Problemen mit der App, der Webseite und der Netzabdeckung, scheint jemand befunden zu haben, dass man nicht mehr täglich die Zuschauerzahlen der Piazza anzugeben braucht. Auf Nachfrage heisst es: wird am Ende des Festivals gemacht. Aber da braucht das keiner mehr, zumindest nicht in der Form. Der Aufwand, das auf die Tafel zu schreiben, sollte überschaubar sein. Kleinigkeiten, aber eben einige davon.

 

 

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Unterbrechung

 

Noch einmal wird Giona Nazzaro heute politisch, allerdings eher ungeplant.
Als am Abend Regisseur Luc Jacquet einen Ehrenleoparden bekommen und seinen neuen Film vorstellen soll, stürmen zwei sehr junge Klimaaktivisten die Bühne auf der Piazza. Fast genauso schnell wollen sich Sicherheitskräfte auf sie stürzen, um sie wegzuzerren. Sofort springt Nazzaro dazu, hält die Sicherheitskräfte davon ab, zu zerren, fordert sie laut auf, niemandem weh zu tun, und kniet sich zu den Aktivisten runter. Kurz darauf erscheint auch noch Marco Solari auf der Bühne, der sich auch schützend zu den beiden Protestieren stellt. Schliesslich übergibt Nazzaro dem jungen Mann das Mikrophon, und hält während der kurzen Ansprache der jungen Frau beruhigend die Hand. Am Ende gehen beide mit Marco Solari friedlich von der Bühne.
Eine eigentümliche Situation, weil die beiden Jugendlichen gleichzeitig zielstrebig und doch von der Situation völlig überwältigt wirken. Ausser den Sicherheitsleuten, sind alle anderen auf der Bühne ruhig, freundlich und verständnisvoll. Mit Giona Nazzaros Aufruf, den Zustand der Erde gemeinsam und jederzeit zu verbessern, beginnt dann:
Voyage au pôle Sud von Luc Jacquet. Der Film ist das gefilmte Tagebuch einer Reise von Patagonien zum Südpol, sehr persönlich, aber auch manchmal etwas geschwätzig, belehrend im Off-Text. Grandios sind hingegen die Bilder, sowohl die karge Landschaft Patagoniens als auch das Meer und die Eisberge sehen in kontrastreichem Schwarzweiss einfach sensationell aus.
Man kann nachempfinden, warum der Regisseur von dieser Landschaft, diesem Ort so überwältigt ist, dass er immer wieder dorthin zurückmuss. Die Härte und gleichzeitige Zerbrechlichkeit der Natur dort sind einfach umwerfend. Was leider etwas lästig ist, ist die viele, oft auch sehr aufdringliche Musik. Dabei hat der Film eine sehr gute, interessante Tonebene, mit wunderbaren Geräuschen und Atmos. Insgesamt ist der Film einfach sehr schön. Er ist für den Pardo Verde nominiert, und hat sicher gute Chancen, den auch zu gewinnen.

 

 

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Feuer

 

Ein weiterer Film, der sich mit jugendlicher Sexualität befasst. In Todos los incendios von Mauricio Calderón Rico kommen Wut, Trauer und Pyromanie mit dazu. Der mexikanische Film verrät seine Figuren nicht, dichtet ihnen keine Hysterie oder Überspanntheit an, sondern lässt sie sein, was 16-Jährige vor allem sind: unsicher und heranwachsend.
Das Feuer, mit dem der junge Bruno spielt, ist sowohl Ausdruck seiner innern Spannung als auch einer allgemeinen, ungerichteten Wut auf alles. Die Internet-Filme seiner Feuerchen bringen ihn mit Daniela zusammen, die ihm, schmerzhaft aber direkt, ein Stück weit aus seinem Teufelskreis aus Wut und Unwissen heraushilft. Aufkeimende Gefühle zu verstehen in einer Gesellschfaft, in der der Vater seine Tochter lieber als Hure denn als lesbisch sehen möchte, bedeutet eine zusätzliche Herausforderung. Aber mit den letzten Streichhölzern entsorgt Bruno auch einen Teil seiner inneren Zweifel.

 

Filmemacherinnen

 

Die Kurzfilme des Tages wurden alle von Frauen gemacht, ein sehr schönes, starkes Programm.
In Loving in Between formt Jyoti Mistry aus Archivmaterial, Animation und Dichtung, mittels fabelhaftem Schnitt, ein Filmgedicht. Zwischen Geburt: schwer und Tod: schlecht soll man lieben, um diese Vorgabe drehen sich sowohl Texte als auch Bilder, die Ebenen verschmelzen und ergänzen sich, werden ein neues Ganzes. Beeindruckend.

Pleine Nuit von Manon Coubia. Was, wenn man plötzlich erfährt, dass die eigene Grossmutter in der Résistance war, und auch nach dem Krieg die erbeuteten Waffen nicht abgegeben, sondern diese lieber im See versenkt hat? Eine kleine, hübsche Geschichte von der Weitergabe des Feuers. Auch dieser Film gedreht auf 16 mm Material.

Der schöne Animationsfilm O krávě von Pavla Baštanová erzählt vom Leben und teilweise Leiden von Kühen weltweit. Zauberhafte Bilder, die mal an Picassos, mal an Chagalls Kühe erinnern, und doch eine eigenständige künstlerische Handschrift haben.

Wenn die Verzweiflung gross genug ist, greift man zu den unglaublichsten Mitteln. Das erzählt Hoda Taheri in Engar madaram geriste bud aan shab (As if Mother Cried That Night). Der letzte Weg für ein iranisches Paar in Deutschland einen Aufenthaltstitel zu bekommen, scheint zu sein, dass die Frau das Kind eines Deutschen zur Welt bringt. Verzweiflung in extrem ruhiger Erzählweise.

 

 

Familie

 

Weihnachten in Texas, Kleidchen, Sandalen, grüne Wiese und eine grosse Familie, versammelt für die Feiertage. Das ist die Ausgangslage von Family Portrait von Lucy Kerr. Jeder, der eine grosse Familie an Feiertagen kennt, versteht sofort die Dynamik, die dort herrscht. Ein Mittelding zwischen Langeweile und grosser Vertrautheit, als Fremder ist man allerdings hoffnungslos verloren. Als Zuschauer in diesem Film leider auch. Weil an sich nichts weiter passiert. Das Aufregendste ist, dass der polnische Freund einer der Töchter das jährliche Familienphoto machen soll. Die Kamera kreist etwas unruhig um diese vielen Menschen, mäandert zwischen ihren Unterhaltungen, erzeugt eine Art erwartungsvoller Unruhe, aber mehr wird nicht geschehen.

 

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Hoffnung

 

Auch an diesem Abend wird es politisch auf der Piazza. Nach stehendem Begrüssungsapplaus für Ken Loach, mahnt dieser Solidarität ein und warnt eindringlich davor, nach „unten“ zu treten und Sündenböcke zu suchen.
Solidarität und Hoffnung als Mittel gegen den weiteren Anstieg rechter Parteien.

Sein aktueller Film The Old Oak erzählt genau davon. Ein Dorf im Nordosten Englands, runtergekommen seitdem die Bergwerke geschlossen sind, die Dorfkneipe der letzte öffentliche Ort. Als mehrere syrische Familien im Ort ankommen, herrscht mehrheitlich Skepsis und einige der Stammgäste steigern sich mit rechten Parolen immer weiter in ihre Ablehnung. Es geht anfangs vieles schief, bevor es besser wird, bevor es Solidarität zwischen den armen englischen Familien und den Neuankömmlingen gibt. Was dem Film mangelt, ist  künstlerische Subtilität, so geraten viele Situationen doch sehr plakativ didaktisch. Viele Wendungen kündigen sich viel zu deutlich an, die gute Absicht gerät ins Lehrerhafte, was etwas schade ist. Weil das Thema ist wichtig. Dem Applaus nach zu urteilen, kam der Film aber gut an, möglich, dass das ein Publikumspreis wird. Aber noch sind nicht alle Filme auf der Piazza gelaufen.

 

#Locarno75 _ Schmelzender Asphalt

 

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Sommerhitze am Lago Maggiore

 

Wer bei diesem Wetter lieber am See liegen mag, kann trotzdem  ein Festivalzeichen setzen, mit leopardengemusterte Flipflops oder Badehandtüchern, die es, neben weiterem Marketing-Schnickschnack, zu kaufen gibt.

Für alle anderen gilt, von Kino zu Schatten und von Schatten zu Kino zu gelangen, ohne sich dabei komplett aufzulösen. Die nicht kommerziellen Schattenplätze sind allerdings dünn gesät, auch wenn dieses Jahr wieder der Spazio Cinema zwischen Fevi Kino und La Sala in Betrieb ist.

 

Publikumspreis

 

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Kleiner Nachtrag zum Eröffnungsabend, die Piazza war mit 8000 Besuchern ausverkauft, nochmal etwa 2000 hatten gleichzeitig im Fevi Platz, wo die Filme der Piazza jeden Abend parallel gezeigt werden.

 

 

 

 

An sich sollte die Abstimmung für den Prix du Public via Festival App funktionieren. Klingt leicht genug. Code des Tickets einscannen, Namen eintippen, wenn man möchte, und schon kann man Sterne vergeben. Bloss, mit einem Festivalpass (egal welchem) funktioniert das nicht. Da man als Passbesitzer für die Piazza kein Ticket zu reservieren braucht, fehlt der Beweis, dass man wirklich am Abend den Film geschaut hat.
Also: keine Chance abzustimmen.

QR-Code in Blumensamen

Zwei Festivalmitarbeiter und drei Anrufe später ist klar wie man doch mitmachen kann. Nahezu altmodisch mutet der notwendige Trick an: nach dem Einlass auf die Piazza verteilen Mitarbeiter Kärtchen mit einem individuellen Code, der dann wiederum in der App eingescannt werden kann, der Abstimmung steht dann nichts mehr im Wege. Vermutlich wird es ein bisschen dauern, bis sich das herumgesprochen hat, es sei denn, es wird irgendwie in der App noch als Weg eingetragen. Die Karten sind übrigens abbaubar und mit Blumensamen „getränkt“.

 

 

Lateinamerikanisches Kino

 

Die Sektion Open Doors widmet sich immer dem Filmschaffen ganzer Regionen, ab diesem Jahr und noch bis 2024 ist das Lateinamerika und die Karibik.
Der erste Tag startet mit einem Film aus der Dominikanischen Republik.
Una película sobre parejas von Natalia Cabral und Oriol Estrada.
Ein Film über das Filmen eines Dokumentarfilms. Das Regiepaar Cabral/Estrada spielt ein Regiepaar auf der Suche nach einem Thema für seinen nächsten Dokumentarfilm. Geldgeber wurden überzeugt, auch wenn man nicht genau weiss auf Basis welcher Idee. Und so entspinnt sich ein gleichermassen witziges und wahres Portrait über die Mühen, als Paar einen Film zu machen und gleichzeitig als Paar zu bestehen. Witzig, sensibel und sehr gut gemacht.

 

Metaphern und Mehr

 

Das erste Kurzfilmprogramm zeigt sich vielschichtig und mit reichlich Freude am Experimentieren.
In Tiger stabs Tiger von SHEN Jie geht es subtil um Gewalt. Der Animationsfilm nutzt dafür nur Schwarz-, Weiss- und Grautöne und hin und wieder ein schockierendes Rot, ganz zart, subtil und grausam. Die Figuren in einer Art, mit einem Strich, der an Schiele erinnert, bloss statt ausgemergelt eher rundlich. Verstörend und schön.

Unsere Erde brennt, nicht nur metaphorisch, sondern ganz real. In Il faut regarder le feu ou brûler dedans von Caroline Poggi und Jonathan Vinel, mischen sich reale Nachrichtenbilder von Feuern in Korsika mit der fiktiven Geschichte einer Brandstifterin. Feuerlegen als vermeintliche Rettung einer zubetonierten Welt, in der es nicht mehr lebenswert zu sein scheint.

Auch Der Molchkongress von Matthias Sahli und Immanuel Esser spielt mit Metaphern. Molche, eingesetzt, um zu dienen, zu buddeln und zu gestalten, nehmen überhand und scheinen damit die Welt immer mehr zu beherrschen. Der Mensch steht machtlos vor den Kreaturen, die er schuf und rief. Sehr schön sind die grossen Molchpuppen, und die Puppenspielarbeit mit ihnen inmitten realer Darsteller.

Asyl, Scheinehe oder doch eine echte (lesbische) Liebe? Madar tamame rooz doa mikhanad von Hoda Taheri mischt die Möglichkeiten und lässt den Zuschauer über die „wahren Absichten“ im Dunkeln. Ein bisschen zu lang, und mit teilweise zu lautem, klirrenden Ton, was in Dialogpassagen wirklich unschön ist.

 

 

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Im Kreis drehen

 

Der indonesisch-malayische Film Stone Turtle von Ming Jin Woo begeistert und nimmt mit.
Am Anfang die Ermordung einer Frau, begründet mit verlorener Ehre, die nur durch Blut wiederhergestellt werden kann. In der Folge reiht der Film Gewalt und lang gepflegte Rache in sich wiederholenden Kreisen aneinander. In jeder Wiederholung erfährt man mehr vom Hintergrund der Geschichte, in jeder Wiederholung spielt sich die Gewalt etwas anders ab, um am Ende doch wieder dasselbe Ergebnis zu haben. Jeder neue Versuch macht es klarer, nichts wird besser durch Rache und Gewalt, aber niemand kann aus seiner Haut. Die Geister sind, einmal losgelassen, unbarmherzig. Eine Parabel auf die Sinnlosigkeit dieses Teufelskreises, und innerhalb der Parabel noch eine Parabel, die gezeichnete Geschichte der Steinschildkröte, und ihrer sinnlos gewordenen Aufgabe.

 

Bühne frei für Udo Kier

 

Zum 75. Geburtstag gehört die Bühne der Piazza am Abend zunächst einer grossen Anzahl ehemaliger künstlerischer und operativer Leiter, jeder und jede mit einer kurzen Erinnerung an die Zeit in Locarno. Matt Dillon bekommt einen Leoparden für sein Lebenswerk, auch wenn er betont dafür doch deutlich zu jung zu sein, und potentielle Regisseure unter den Zuschauern anbietet ihn zu besetzten.

My neighbor Adolf von Leon Prudovsky bringt dann nicht nur den Regisseur auf die Bühne, sondern auch die drei Hauptdarsteller. Udo Kier wäre nicht, wer er ist, würde er diese Chance nicht nutzen.
Die Folge: ein Spektakel, das nur noch schwer zu stoppen ist, eine, im besten Sinne, Rampensau bei der Arbeit – herrlich.

My neighbor Adolf spielt mit der Idee, dass ein Holocaustüberlebender in seinem südamerikanischen Exil plötzlich einen deutschen Nachbarn bekommt, den er für Hitler hält. Verschreckt, aber auch entschlossen, sucht er nach Belegen. Er setzt sich mit der israelischen Botschaft in Verbindung, wo man versucht, ihn als Spinner abzuwimmeln. Der Film wird getragen vom Spiel der beiden Hauptdarsteller, Udo Kier und David Hayman, die zwei skurrile alte Männer mit extrem viel Charme, Stolz und Würde spielen. Die Wendung, die der Film dann nimmt, sieht man tatsächlich nicht kommen; eine rührende Satire, oder eine traurige Komödie, die viel Applaus bekam.

 

 

Erst heiß, dann nass

 

 

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Während sämtliche Wettervorhersagen behaupten, es gäbe heute Regen, scheint unbeirrt weiter die Sonne.

Aus Gesprächen ist herauszuhören, dass die Blumenkärtchen zum Abstimmen für Festivalpass-Besitzer nur schleppend funktionieren; zu wenig Kärtchen, zu wenig klar, wie man abstimmen kann. Nicht abstimmen können, das kommt in der Schweiz nicht gut an.
Verbesserungsbedarf besteht auch eindeutig bei der Abdeckung mit WLAN, es gibt zwar seit letztem Jahr ein Festivalnetz, aber das besteht nicht überall in der Stadt (und die ist klein). Und so steht man oft ohne Internet da, während fast alles über Handy Apps laufen soll. Prinzipiell ist die Festival App auch off-line arbeitsfähig, ausser sie hat einen mal wieder abgemeldet, denn ohne Netz ist keine neue Anmeldung möglich.

 

Inneres nach Aussen

 

Petrol von Alena Lodkina ist ein seltsamer Film. Angefangen beim Titel, dessen bedeutung sich innerhalb des Films nicht erschliesst. Der Erklärung der Regisseurin nach, ist es eine Art Metaebene, eine Anspielung auf urbanes Leben, auf das was unter dem Asphalt liegt in unseren Städten. Es bleibt auch mit dieser Erklärung wirr.
Ähnlich geht es einem mit der Geschichte. Zwei junge Frauen, die eine Regiestudentin, die andere Künstlerin, treffen aufeinander, beide scheinen angetrieben von irgendwelchen Geheimnissen, Sehnsüchten oder Geistern. Wind bläst, wirft Dinge um, erschrickt. Inneres wird scheinbar nach aussen gekehrt, aber was dieses Innere ist, warum es raus will, bleibt das Geheimnis der Regisseurin. Was schade ist, denn eigentlich möchte man den Figuren folgen, sich ihrer Sinnsuche/Selbstfindung hingeben, mitleiden, mitfiebern, mitlernen. Aber man bleibt draussen und man bleibt verwirrt. Und das ist in diesem Fall kein positiver Zustand am Ende eines Films.

 

 

 

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Publikumsgespräch

 

Im Vorbeigehen ein kurzer Blick zum Publikumsgespräch mit Udo Kier, schon von Weitem ist klar: der Mann geniesst auch heute das Rampenlicht. Die vielen Zuschauer hängen gebannt an seinen Lippen. Da ich nur vorbeischaue, um gleich weiterzugehen, stehe ich hinten, und werde kurz zum Fokus von Kier, ein fröhliches „hallo dahinten“ gilt eindeutig mir. Wir haben uns für ein paar Sekunden das Rampenlicht geteilt.

 

Off-Stimmen

 

Laut Moderatorin, ist das Gemeinsame der heutigen Kurzfilme, dass sie alle von Wahrheit erzählen.Tatsächlich ist ihnen hauptsächlich der Einsatz einer Off-Stimme gemeinsam.

Songy Seans von Darezhan Omirbaev treibt das System dabei auf die Spitze. Ein Schüler, mal Zuhause, mal in der Schule, viel in Bussen und U-Bahnen unterwegs, und immer Stimmen aus dem Off. Anfangs wirkt das noch interessant, erinnert an die Engel in der U-Bahn in „Himmel über Berlin“. Aber mit der Zeit scheinen die Texte wichtiger zu werden, als das Bild, und der Film wird zäh anzuschauen und führt nirgendwo hin. In I’m the only one I wanna see von Lucia Martinez Garcia ist nicht ganz klar, was die Stimmen, die über einer erotisch tanzenden Frau liegen, darstellen sollen. Im Verlauf des Films scheinen sie, im Wesentlichen, böse, hasserfüllte und sexistische Internet Kommentare zu sein. Castells von Blanca Camell Galí fängt an mit einer Frau, die durch Barcelona geht, im Ohr die Stimme ihres französischen Liebhabers, den sie verlassen zu haben scheint. Eine Frau, die weggeht, um am Ende zurückkommen zu können, dazwischen viel katalanisches Lokalkolorit und einige flüchtige Liebschaften.
Misaligned von Marta Magnuska ist der einzige Animationsfilm in diesem Program. Wunderschöne Kohlezeichnungen, leicht verschwommen, schwebend, erzählen sie vom Nebeneinander eines Paars. Eine Lebensführung, die immer rasanter wird und in der die Figuren nicht zusammenkommen. Sehr schön.
Mulika von Masha Maene kombiniert wieder eine Off-Erzählstimme mit extrem spannenden, verrückten Bildern. Ein auf der Erde gestrandeter Astronaut, glitzernd und leuchtend geht er durch ein afrikanisches Dorf, Tradition und Science-Fiktion treffen aufeinander, zeigen Verbindendes. Die Zukunft der Vergangenheit, oder die Vergangenheit der Zukunft, Rettung ist eine Möglichkeit.

 

Dunkle Wolken
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Raus aus dem Kino, der Himmel ist schwarz, Wind ist aufgekommen und bringt die Leute zum kollektiven Aufatmen. Zu dick war die Luft bis jetzt. Ab in den nächsten Kinosaal, das mögliche Gewitter bleibt draussen.

 

 

Schwärzer als schwarz

 

Die Regisseurin Patricia Mazuy beschreibt vor der Vorführung ihren Film Bowling Saturne als die Auslotung des Schwarzen. Dem kann man am Ende uneingeschränkt zustimmen. Wenige Psychothriller sind so konsequent düster und offensichtlich brutal. Zwei Halbbrüder, die über lange Phasen der Geschichte echte Antagonisten sind, der eine Polizist, der andere Psychopath mit mörderischen Neigungen. Ein Film, in dem fast immer Nacht zu sein scheint, die wenigen Szenen bei Tag haben dafür innere Düsternis, und am Ende gibt es viele hässlich zugerichtete Leichen und viel Raum für alle Schattierungen von Schwarz.

 Der Regen hat diese Vorführung genutzt, um etwas Abkühlung zu bringen, und sich dann wieder verzogen, einem trockenen Abend auf der Piazza steht nichts im Weg.

Grosse Gefühle

 

Die Literaturverfilmung Where the Crawdads Sing von Olivia Newman beeindruckt in erster Linie durch die tollen Bilder einer traumhaft schönen Landschaft, und durch das Spiel der jungen Hauptdarstellerin, Daisy Edgar-Jones. Die Geschichte bietet ein Panorama an menschlichen Dramen. Prügelnder Familienvater, verlassenes kleines Mädchen, Vorurteile, Liebe, Verrat und ein möglicher Mord. Parallel montiert in Rückblenden und während der Gerichtsverhandlung hält der Film seine Spannung, liefert ganz grosse Gefühle und am Ende eine kleine gemeine Wendung, als Fussnote sozusagen. In den letzten Minuten fing es dann passenderweise an, leise zu regnen, aber nichts, was die Zuschauer hätte vertreiben können.

 

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