#Locarno77 Zum Schluss

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Trauern und Traditionen

Locarno bereitet sich vor, auf die Preise, auf den letzten Abend auf der Piazza Grande und auf das Gewitter, das für den Abend angekündigt ist.

Kasachische Filme sieht man wirklich selten in Europa, dafür fanden sich dieses Jahr gleich zwei in den Wettbewerbsprogrammen. Joqtau von Aruan Anartay ist ein Spielfilm in Dokumentarfilm-Ästhetik gehüllt. Tatsächlich ist man erst mit dem Abspann sicher, dass es ein Spielfilm war, davor lässt der Film Zweifel zu.
Dem Patriarchen einer kasachisch-nomadischen Familie geht es nicht gut, also reist sein Enkel mit Freundin aus Russland an. Nomadische und islamische Traditionen, die beiden fremd sind, machen die Reise zu einem Abenteuer. Die Geschichte wird in nicht chronologischen, nicht linearen Bögen erzählt. Eine letzte Fahrt des Grossvaters mit Enkel und Freundin ins Herkunftsdorf werden mit Photos der Fahrt und mit Vorbereitungen für das Begräbnis gemischt. Dazu, einem akustischen Tagebuch gleich, Off-Refelxionen der Freundin und des Enkels. Nicht uninteressant.

 

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Litauen räumt ab

Litauen hat zwei Filme im Programm und beide werden mit reichlich Preisen ausgezeichnet.
Der Pardo d’Oro, Hauptpreis des Festivals, ebenso wie der Pardo Swatch First Feature Award gehen an Saulė Bliuvaitė für Akiplėša (Toxic). Dazu kommen noch der Preis der Ökumänischen Jury und der zweite Preis der Jugend-Jury.

Seses von Laurynas Bareiša gewinnt den Pardo für die beste Regie und das gesamte Darstellerteam den Schauspiel-Pardo.

Der MUBI Award – Debut Feature, also ein weiterer Preis für Erstlingsfilme, geht an:
Green Line von Sylvie Ballyot, und auch hier ein Preis der Jugend-Jury.

 

 

Saulė Bliuvaitė (li)
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Österreich und Georgien mit zahlreichen Preisen


Mond von Kurdwin Ayub erhält den Spezialpreis der Jury, sowie auch den Preis von Euroimages und der Jugend-Jury.
Der Pardo d’Oro im Concorso Cineasti del Presente geht an Holy  Electricity von Tato Kotetishvili und auch dieser Film wurde von der Jugend-Jury bedacht.

Beste aufstrebende Regisseurin in dieser Sektion: Denise Fernandes für HanamiI.

Der Pardo Verde geht an: Agora von Ala Eddine Slim.

 

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Vielleicht keine Premiere, aber selten genug, dass ich alle Preisträgerfilme gesehen habe. Auch nicht einmalig, aber auch selten, finde ich alle Preise nachvollziehbar, gerechtfertigt und lassen den Glauben an die Qualitäten von Festival-Jurys wachsen.
Besonders schön und spannend sind immer die Preise der Jugend-Jurys, die jedes Jahr wieder mit enormem filmischen Wissen und Gefühl für gute Geschichten auffallen.
Gewonnen haben, fast durch die Bank, Filme mit (sozial)politischen Themen und alle haben eine spezielle, originelle filmische Handschrift und Herangehensweise an ihre Themen gezeigt.
Alle Preise auf der Festivalseite.

 

 

 

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Es bleibt schön

 

Das, was am Morgen noch drohende Gewitterwolken waren, hat sich in der Hitze des Nachmittags in niedliche Abendwölkchens verwandelt. Es wird wohl auch an diesem Abend auf der Piazza trocken bleiben.

Der Abschlussabend verläuft etwas anders als sonst, Jury-Präsidentin Jessica Hausner hat kurz die Bühne, übergibt vor dem grossen Publikum nochmal den Goldenen Leoparden an Saulė Bliuvaitė.
Der Publikumspreis der Piazza Grande wird noch bekannt gegeben, er geht an Reinas von Klaudia Reynicke.

 

Giona A. Nazzaro
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Giona A. Nazzaro spricht noch einmal mit viel Emotion von der grossen Liebe zum Kino, zum Kino als Mittel des Miteinanders. Es hat etwas Schwermütiges, wie er das sagt. Von der neuen Festival-Präsidentin Maja Hoffmann ist nichts mehr zu sehen oder zu hören.
Der letzte Abendfilm der 77. Ausgabe des Festivals kann beginnen.

 

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Hund

Eine Dramödie möchte man Le Procès du chien von Laetitia Dosch nennen. Der Film, nach einer wahren Begebenheit, erzählt vom Prozess gegen einen Hund, der mehrmals zugebissen hat. Jetzt drohen dem Halter eine hohe Geldstrafe und dem Hund der Tod. Eine etwas chaotische Anwältin verteidigt den Hund, indem sie über ihn zunächst nicht als Sache, sondern als Entität verhandeln lässt. Ihr gegenüber, die Verteidigerin der Gebissenen, eine karrieregeile, geifernde Anwältin, auf dem Sprung in die Lokalpolitik. Der Film hat sehr witzige Momente, nervende Passagen, weil sowohl das Chaotische als auch das Geifernde auf die Dauer zu viel werden. Und der Film ist auch berührend, einfach, weil der Hund so toll ist, und man ahnt, dass das alles nicht wirklich gut ausgehen kann.

Das Festival ist zu Ende, bleibt die Hoffnung, dass möglichst viele der Filme ihren Weg in Kinos finden, nicht nur in ihren Herkunftsländern. Weil, ja, Filme verbinden, Filme öffnen die Sicht auf Anderes, und Filme bereichern.
Locarno 78 startet am 6. August 2025

 

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#Locarno77 Liebe

 

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Zeitlos

Das Locarno Filmfestival als Zeitblase.
Wochentage, Datum, alles verschwimmt, es bleibt nur der Blick auf die nächsten Vorführungen. Da kann man dann schon ziemlich blöd an einem Feiertag vor dem geschlossenen Supermarkt stehen, und nicht verstehen, was da los ist.

 

Liebe verträumt

Olivia & Las Nubes von Tomás Pichardo-Espaillat ist ein faszinierender Animationsfilm. Der Film zeigt eine ganze Palette von verschiedenen Animationstechniken, vermischt Super 8 Filmmaterial mit Stop-Motion und Zeichnungen der verschiedensten Stile. Heraus kommt eine surreale, verträumte Geschichte über die Unmöglichkeiten der Liebe. Der schnelle Erzählrhythmus zwingt einen, den Geist fliessen zu lassen, und sich in Folge ganz auf den Film und seine irren Bilder einzulassen.

 

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Freundschaft

Akiplėša (Toxic) von Saulė Bliuvaitė ist eine ziemlich grimmige Geschichte von jungen Mädchen, die mit allen Mitteln aus ihrem abgerockten Zuhause irgendwo in der litauischen Provinz rauskommen wollen.
Marija, die Neue, wird zunächst von den lokalen Mädchen wegen ihres leichten Hinkens abgelehnt und beklaut. Aber an Orten, wo es nicht viel Abwechslung gibt, sind alle Allianzen und Freundschaften willkommen, und so wird sie schnell Kristinas beste Freundin. Beide versuchen einen vermeintlichen Model-Kurs gut abzuschliessen, und sich für die angepriesenen Reisen ins Ausland zu qualifizieren. Ein Teufelskreis aus Essensverweigerung, Fressattacken, Drogen und im Darknet erworbenen Bandwürmern, die Versprechen, das Gewicht von innen „wegzufressen“, entsteht. Ein Film über toxische Weltbilder, giftige Substanzen und über unwahrscheinliche, enge Freundschaften, die überleben helfen.

 

Fremd

Es gilt, ein verpasstes Kurzfilmprogramm nachzuholen, aber wirklich toll ist es leider nicht. Dafür ist das kleine Kino sehr voll.

My Life is Wind (a letter) von Anahita Ghazvinizadeh ist der beste Film des Programms.
Eine junge Frau aus einem nicht näher benannten arabischen Land kommt in den USA im Mittlerenwesten an. Niemand von der Flüchtlingsorganisation spricht Arabisch, also verbringt sie ihre ersten Tage schweigend. Während sie in ihrem Kopf einen Brief an die Zuhause gebliebene Grossmutter verfasst. So erfährt man stückweise ihre tragische Geschichte, lernt ihre Träume, ihre Ängste kennen. Parallel dazu, um sie herum ein lautes, fremdes Leben. Sehr schön gemacht.

Dull Spots of Greenish Colours von Sasha Svirsky ist ein experimenteller Animationsfilm. Vage meint man zu verstehen, dass es um Kritik an Politik, um Krieg, um Machtmissbrauch geht. Aber wirklich sicher ist das nicht.

The Nature of Dogs von Pom Bunsermvicha ist einfach nur uninteressant.
Eine Familie mit kleinem Hund kommt in einem schönen Ferienressort an. Als der Hund verschwindet, entsteht ein ziemlich sinnloser Streit um ganz allgemeine Verhaltensweisen der einzelnen Familienmitglieder. Ein Ausflug zu einer buddhistischen Grotte sorgt für Ruhe, irgendwie. Und der kleine Hund ist auch wieder da.

The Form von Melika Pazouki ist hübsch, lustig und kurzweilig.
Eine iranische Schülerin macht sich im Klo der Schule zurecht für eine Verabredung mit einem Mann, den sie nicht kennt. Ihre Freundin gibt Ratschläge und wird später alle Details wissen wollen. Aber der Mann versetzt sie.

 

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Liebe komisch

 

Ein fast kurzer Abend auf der Piazza, niemand wird geehrt, das macht den Ablauf vor dem Film deutlich flotter.
Schon bei der Präsentation ihres Films sind Regisseurin Alice Lowe und einige der Schauspieler ziemlich witzig. Was aber dann in Timestalker alles abläuft, ist komödiantischer Science-Fiction Spass mit vielen schrägen Kostümen und reichlich verspritztem Blut.
Die Geschichte startet im späten 17. Jahrhundert, Agnes (von der Regisseurin selbst genial gespielt) sieht Alex zum ersten Mal, mit reichlich Weichzeichner wird ihr plötzlicher Anfall von Liebe fröhlich übertrieben sichtbar. Aber der Zustand hält nicht lang, und schon ist Agnes einen bösen, blutigen Tod gestorben.
Nächster Halt: 100 Jahre später. Und dann noch mal 100 Jahre später.
Immer wieder treffen die beiden aufeinander, immer wieder ist Agnes wie hypnotisiert und Alex ein Idiot. Neben Agnes und Alex „reisen“ noch drei weitere Figuren durch die Jahrhunderte, in immer gleichen Verstrickungen. Der Film ist wirklich extrem lustig und dabei sehr klug und gut gemacht.
Beste Unterhaltung.

 

#Locarno77 Tiere

 

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Zwischenbilanz

 

Die erste Woche in Locarno ist vorbei, das Festival geht langsam in die Endrunde.
Richtig überwältigende Filme haben sich noch nicht präsentiert.
Bisher am besten:
Les Enfants rouges, Crickets, It’s Your Turn, Kada je zazvonio telefon, alle aus der Sektion Cineasti del presente, also erste und zweite Langfilme. Aus dem Concorso Internazionale hebt sich Green Line hervor.

 

Wiedergänger

Nach der Pressevorführung von Agora von Ala Eddine Slim verwunderte Blicke, Kopfschütteln, Fragen. „Hast du das verstanden?“
Wiedergänger, die plötzlich in einem Ort in Tunesien erscheinen, ein Polizeichef, der versucht Ruhe in den Ort zu bringen, und dann taucht ein mysteriöser Typ von einer Art Geheimpolizei auf. Der Film fängt an wie ein Science-Fiktion-Horror-Film, driftet aber zusehends ins Unverständliche ab.
Geht in jede nur denkbare Richtung, scheint sich mal an politischen, mal an mystischen Themen abzuarbeiten, auch Umweltzerstörung und Machtmissbrauch sind als Ideen enthalten. Unterbrochen wird die Handlung mehrfach von einem tonlosen Dialog zwischen Hund und Rabe, die von ihren Ängsten sprechen, die wissen, dass schreckliches passieren wird, wenn die Toten wiederkehren.
Und immer wieder Hunde, streunende, tote, schlafende. Surreal, aber auch unverständlich. Möglicherweise ist da genau das Problem, der Film scheint zu narrativ, um sich einfach nur dem Surrealen hinzugeben, macht zu viele Fenster auf, durch die man meint, schauen zu müssen, nur um dann nichts sehen zu können.
Gut gemacht an sich, schöne Bilder, interessante Effekte, aber man möchte so gerne etwas verstehen. Irgendetwas.

 

 

Mittags
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Jeden Tag und tatsächlich auch jedes Jahr, die mittägliche Suche nach einem schattigen Platz, an dem man sitzen kann und Eingekauftes essen kann. Eine Aufgabe, die ans Unmögliche grenzt.
Die paar schattigen Orte bieten keine Sitzmöglichkeiten, ausser auf dem blanken Boden. Heute im „Angebot“ trockene Wiese unter einem Baum, mit einer dicken Hornisse als Nachbar. Kommerzfreier öffentlicher Raum tut Not.

 

Digital

Weltweit Freunde, Liebhaber in Phantasiewelten, Avatare, VR-Welten, Tick Tock, Influencer, schöne neue Digitalwelt.
Was in Real von Adele Tulli ganz poppig und nicht uninteressant anfängt, hat ein deutliches Struktur- oder Organisationsproblem. Nach welchem System die einzelnen Sequenzen zusammengestellt sind, erschliesst sich nicht, und macht das Zuschauen mit der Zeit immer ermüdender.
Menschen in Südkorea, Italien, Schweden, den USA präsentieren sich, oder ihre VR-Avatare, freimütig der Regisseurin, diese mischt deren selbst gefilmten Schnipsel, oder Welten, mit „objektiven“ Blicken auf die jeweilige Situation, aber der dramaturgische Bogen fehlt komplett. Mittendrin eine kurze Sequenz mit Spiel- und Internetsüchtigen, die in einem Kloster Entzug und Therapie machen, aber auch das bleibt losgelöst von allem anderen und frei von innerer Konsequenz. Irgendwann sieht man nichts mehr, will auch nichts mehr sehen. Von Anfang an nervt eine Art Meditationsmusik, die unter fast egal was für Bilder geklebt wurde, das ist noch schlimmer als der Mangel an Ziel in der Geschichte.

 

 

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Krieg

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, manchmal ist aber trotzdem gut, nicht genau gelesen zu haben.
Green Line von Sylvie Ballyot ist 150 Minuten lang, hätte ich das vorher gelesen, wäre ich vermutlich nicht reingegangen. Was ein grosser Fehler gewesen wäre.
Fida war gerade geboren, als 1975 im Libanon der Bürgerkrieg ausbrach, der 15 Jahre ihres Lebens stahl und 200.000 Opfer brachte. Regisseurin Ballyot geht mit Fida zurück nach Beirut, in ihr Viertel in West-Beirut. Anhand der ganz persönlichen Geschichte des kleinen Mädchens von damals, und mit sehr einfachen Puppen und Papierhäusern auf einem Stadtplan in Szenen gesetzt, erfährt man auch Fakten. Unterbrochen und genial gegeneinander geschnitten: die Puppe Fida und die heute erwachsene Fida in Beirut, vor ihrer Schule, in ihren Gassen.
Aber der Film erzählt mehr, als nur die Fakten eines Krieges und eines Traumas. Fida spricht mit Kämpfern aller beteiligten Seiten, immer im gleichen Setting: ein zerstörtes Haus, die Wände offen nach draussen, der Plan mit den Papierhäusern dem Wind ausgesetzt. Sie lässt die Kämpfer erzählen, aber nicht irgendetwas, sondern deren Sicht auf Ereignisse, die sie als Kind erlebt hat. Fragt aus der Perspektive des Kindes von damals, holt die (meist) Männer immer wieder zu diesen kindlichen Fragen zurück. Sie will nicht, dass man ihr, einer erwachsenen, intelligenten Frau den Nahostkonflikt erklärt. Sondern, dass man dem kleinen Mädchen erklärt, wie es zum Beispiel sein kann, dass ein Soldat, der sie „beschützen“ soll, für sie ein angsteinflössendes Monster ist.
Sie stellt ihre Fragen freundlich, aber hartnäckig, lässt die Befragten nicht in Phrasen abgleiten. Und bekommt immer Antworten. Und die Erkenntnis, dass, selbst wenn man einsieht, dass dieser Krieg ein Riesenfehler war, er trotzdem von jeder Seite anders gesehen und erinnert wird.
Zwei Kämpfer, ein Christ, der mit für die Massaker in Sabra und Schatila verantwortlich war, und ein Palästinenser, sind die einzigen, die eindeutig Stellung gegen den Krieg beziehen: Der christliche Kämpfer hat sich in einem Brief an das libanesische Volk öffentlich für seine Beteiligung entschuldigt, der Palästinenser ist Mitglied einer Gruppe „Kämpfer für den Frieden“. Fast alle anderen schaffen es immer noch, ihrer Perspektive einen Sinn zu geben, ein: „es hiess die oder wir“.
Ein Film, der ein so komplexes Thema gleichzeitig originell und sensibel behandelt, der trotz der Länge unglaublich intensiv und spannend ist, wäre ein guter Kandidat für einen der Leoparden. Zu gönnen wäre es ihm auf jeden Fall.

 

 

Geräusche

 

Laserschwert
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Ben Burtt, Erfinder unter anderem der Geräusche von R2D2 oder der Laserschwerter in Star Wars, ist der Ehrenleopard-Empfänger des Abends. Es ist immer wieder schön, wenn Meister ihres Fachs, die nicht so oft im Rampenlicht stehen, vor grossem Publikum gewürdigt werden.


Pferde

Gaucho Gaucho von Michael Dweck und Gregory Kershaw setzt den Nordosten Argentiniens in schönen Schwarzweiss-Bildern in Szene. Ein Dokumentarfilm über eine Gruppe Gauchos, der immer dann stark ist, wenn die Gauchos und eine Gaucha reiten, mit den Tieren arbeiten oder den Kindern Fertigkeiten beibringen. Etwas schwerfällig sind die Szenen, in denen – meistens – zwei Leute miteinander reden, immer in gleicher Art, seitlich an einem Tisch sitzend, oder einander gegenüberstehend, gefilmt wurden. Das sieht und klingt inszeniert und schwächt die Kraft des ansonsten schönen Films.

 

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#Locarno Keine Macht den Monstern

 

 

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Umwelt

 

Einige Filme, die sich mit Umweltthemen befassen und ein weiterer Hitze-Tag in Locarno. Am Nachmittag zeigt ein Thermometer kuschelige 38°, in den Kinosälen bleibt es dank Klimaanlage kühl, bis kalt.

 

Bildverliebt

 

Fogo do vento von Marta Mateus ist eine Ansammlung allegorischer Bilder, christlicher Motive und Metaphern. Weinreben, Landarbeiter, hartes Licht, scharfe Schatten, Wein, der in den Boden versickert, grosse Korkeichen und ein schwarzer Stier, der marodierend Angst verbreitet. Die Menschen deklamieren, wie der Chor im griechischen Drama, Phrasen, die von Ausbeutung und Unterdrückung reden, vage auch von der Geschichte Portugals. Und auch wenn jedes einzelne Bild wirklich extrem schön ist, 72 Minuten können verdammt lang sein, wenn man so einem Quatsch zu sieht.

 

 

Wasser

Fario von Lucie Prost ist ein bisschen ein Ökokrimi und ein bisschen eine Geschichte vom Heimkommen.
Eigentlich fährt Léo aus Berlin nur zurück nach Frankreich, um den Verkauf von Land an die Gemeinde zu besiegeln. Die Minengesellschaft, die Probebohrungen für seltene Erden macht, scheint alle relevanten Papiere zu haben und Umweltauflagen zu befolgen, aber sie braucht das Land der Bauern.
Im Ort sind die Leute gespalten in Verkäufer und Nicht-Verkäufer. Aber geht wirklich alles mit rechten Dingen zu? Léo, wie fast alle seine Freunde beruflich mit Wasseranalysen vertraut, findet, dass die Forellen im Fluss sich seltsam verhalten, und leuchten sollten sie eigentlich auch nicht. Oder sind es die Drogen in seinem Kopf, die ihm einen Streich spielen?  Der Film findet eine Balance zwischen Ökokrimi, Bauernsterben und den Problemen junger Erwachsenen, atmosphärisch schöne Landschaften, Halluzination in Bilder übersetzt und dynamische Partysequenzen, alles greift fliessend ineinander.

 

 

 

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Experimente

Heute wieder ein extrem starkes Kurzfilmprogramm. Alle Filme auf die eine oder andere Weise experimentell, experimentierend.

Der Film Razeh-del der Iranerin Maryam Tafakory ist ein unglaublich tolles Werk.
Er zeigt das Unzeigbare, Unmachbare: iranische Frauen in der Kunst, im Film, als Darstellerinnen, als Regisseurinnen. Mit Mitteln der Überlagerung, Bildverfremdung, dem Neuschnitt von Filmausschnitten, zeigt er, was nicht möglich ist. Kunstschulen, die Frauen nicht aufnehmen, Filme, die so lange zensiert werden, bis nichts mehr von ihnen übrigbleibt, und Frauen, die wenn, dann nur als angemalte Puppen auftreten, oder als Opfer, die am Schluss im Film meistens nicht überleben. Sehr eindrucksvoll.

looking she said I forget von Naomi Pacifique thematisiert die Suche nach einer neuen Form von Leben, von Liebe, von Miteinander jenseits der Konventionen. Viel Blau, viele Momente der Verirrung und Verwirrung, sehr schön.

Revier von Felix Scherrer. Eine fast poetische Annäherung an die Macht der Polizei auch in der Schweiz. Beeindruckend einfach in den Mitteln, dicht in der Ausführung.

Gwe-in esi jeongche (The masked Monster) von Syeyoung Park ist ein Horror-Märchen in Schwarzweiss-Bildern. Ohne Dialog, nur mit Zwischentiteln und rhythmischer Perkussion ist das Märchen packend und böse, grausam und klug und sehr schön gedreht.

 

 

Miese Typen

Wenn man einen Preis vergeben könnte für die Darstellung der ekelhaftesten Typen, dann gewinnt Crickets, It’s Your Turn von Olga Korotko haushoch.
Der kasachische Film zeigt eine Gruppe von Freunden, sexistisch, misogyn, widerlich, die sich gegenseitig in ihrem Tun befeuern und beklatschen. Dummerweise gerät eine junge Frau in diese Gruppe. Obwohl ihr bei jeder Begegnung klar sein müsste, dass sie dort in Gefahr ist, glaubt sie den Beteuerungen des einen Kerls, der sie in die Gruppe hereingebracht hat, dass alles nur Spass ist, die Typen in Wahrheit ganz liebe Männer sind. Wie die Regisseurin die Steigerung der Gewalt zeigt, ist beeindruckend und beunruhigend. Die Spirale schraubt sich immer weiter hoch, die Ausweglosigkeit wird immer deutlicher, und trotzdem hofft und bangt man mit der jungen Frau. Genau wie sie weigert sich der Zuschauer zu glauben, was offensichtlich ist. Bis zum bösen Ende. Ein Film, in dem sich der Horror und die Ausweglosigkeit langsam einschleichen, um dafür nicht mehr wegzugehen.

 

 

 

Claude Barras mit Keria und Orang-Utan
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Coole Kinder

 Kinder an die Macht wäre vielleicht Claude Barras’ neuem Animationsfilm Sauvages voranzustellen.
Der Kampf zweier Kinder und eines Orang-Utan-Babys um den Urwald in Borneo. Sie sind kulleräugig und niedlich, aber nicht zu unterschätzen: Keria und ihr Cousin Selaï legen sich mit einem Palmöl-Unternehmen an, das den Wald und Lebensraum der Nomaden abzuholzen droht. Dass die kleine Keria dabei auch gleich mehr von ihren nomadischen Wurzeln erfährt und ihr Selaï dabei gewissenhaft zur Seite steht, rundet die Abenteuergeschichte kulturell ab. Mut, Zivilcourage und Respekt vor Natur und Kreatur ergeben eine echte „Heldenreise“ in Stop-Motion, kindgerecht, aber auch für Erwachsene wunderschön anzusehen.

 

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Das waren viele Monster für einen Festivaltag, einige konnten aufgehalten werden, immerhin.

#Locarno77 Erinnern

 

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Beiläufig

 

In Mond von Kurdwin Ayub bekommt eine ehemalige MMA–Kämpferin ein Jobangebot in Jordanien, sie soll dort die Töchter einer reichen Familie trainieren. Der Job scheint eine gute Chance zu sein, ihr etwas ramponiertes Ego wieder aufzupolieren. Aber recht schnell zeigt sich, dass der Job nicht so einfach ist. Die Mädchen sind teilweise bockig-unwillig und hängen lieber den ganzen Tag vor dem Fernseher. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, irgendetwas scheint verkehrt zu laufen in dem palastartigen Haus.
Den Mädchen ist fast alles, was Teenager heute so machen, verboten: WLAN im Haus, Handy ausserhalb des Hauses, Kommunikation, alles Fehlanzeige.
Und wer ist die vierte Schwester?
Die Idee ist eigentlich sehr gut und spannend, scheitert aber daran, dass alle Figuren seltsam unbeteiligt und losgelöst sind. Die Trainerin will zwar wissen, was los ist, aber so recht glauben mag man ihr das nicht. Sie taumelt mit stets gleichem neutralen Gesichtsausdruck durch die Szenen, selbst als es zu einem kurzem, aber heftigem Schockmoment kommt. Die Schwestern wirken, selbst wenn sie sich aufregen, wie aufgezogen und die Security-Männer wirken wie hohle Hüllen.
Als eine der Schwestern die Trainerin bittet, ihnen zu helfen zu fliehen, erledigt sie alles mit unverändert stoischem Blick. Sämtliche Handlungen – der Schwestern, der Trainerin – bleiben völlig ohne Konsequenzen. Das nimmt dem Film sehr viel Empathiepotenzial und Glaubwürdigkeit.

 

 

Sex und Familie

 

Mother Is a Natural Sinner von Boris Hadžija und Hoda Taheri ist der dritte Kurzfilm des Regie-Paares, und wieder eine – scheinbar – sehr persönliche Geschichte, die drastisch-geradlinig erzählt wird.
Der Film fängt mit einer medizinischen Kamerafahrt aus der Scheide heraus an, um dann von der Vulva aussen in die Totale beim Gynäkologen zu fahren. Möglicherweise war das eine der angekündigten „Triggerwarnungen“ für sensible Gemüter. Danach hat das Paar eine ziemlich schräge Unterhaltung über Sex und sexuelle Vorlieben und Praktiken, während sie in aller Ruhe Gemüse putzen und ein Hühnchen zerlegen. Der Kontrast ist tatsächlich ziemlich lustig, mehr allerdings auch nicht.

Maman danse von Mégane Brügger ist inhaltlich härter. Die Erinnerungen von Mutter und Tochter an eine Zeit des Missbrauchs und der Gewalt. Familienphotos, das ehemalige Wohnhaus, Fragen, Antworten, der Versuch, die Erinnerung des Kindes ins Heute der Regisseurin zu bringen. Auch wohl um damit abzuschliessen.

Ein spielsüchtiger Vater und seiner kleiner Sohn sind die Protagonisten in Punter von Jason Adam Maselle. Eine kleine, tragisch-traurige Geschichte von Verrat. Der Junge kauft für den Vater von seinem Ersparten eine Geburtstagstorte, die aber möglichst schnell in den Kühlschrank sollte. Der Vater hat allerdings andere Pläne: nur eine einzige Pferdewette, versprochen. Versprechen gebrochen!

In The Cavalry von Alina Orlov ist eine politische Erinnerung an das Jahr, in dem die israelische Regierung den Zaun zum Westjordanland gebaut hat, Ausgangspunkt für eine experimentelle Auseinandersetzung mit Aspekten der israelischen Politik. Am Beispiel der Kavalerie-Truppe im Verlauf der Jahrzehnte bis heute mischt die Regisseurin reale Bilder mit computermodifizierten Aufnahmen. Sie verfremdet und bringt damit Details einander näher. Nicht uninteressant.

Chou He Zhuang von Hao Zhou spielt mit der Thematik der Selbstkritik in China. Homosexualität, Bespitzelung, nicht erfüllbare Erwartungen und dazwischen: Lautsprecherdurchsagen, die Selbstkritik als Massnahme zur inneren Harmonie predigen. Sehr schräg, relativ explizit.

 

 

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Kinderblick

 

Kada je zazvonio telefon (Als das Telephon klingelte) von Iva Radivojević ist ein Mosaik an Erinnerungen, geformt aus dem Blick eines 11-jährigen Mädchens, dessen Welt dabei ist, sich radikal zu verändern.
Als das Telephon klingelt, 1992, an einem Freitag um 10:36, besteht Jugoslawien (gerade) noch. In Schleifen, Loopings, Assoziationen und dem immer wiederkehrenden Motiv des klingelnden Telephons entsteht die Welt der kleinen Lana. Der Anruf fungiert als Drehpunkt, um den und von dem aus die Bilder rein und raus fliessen können. Das kindliche Erinnern an Freunde, Spiele, Situationen, kurz vor einer Flucht, kurz vor dem Ende des bekannten Lebens. Fragmentiert, nicht chronologisch, aber immer sehr intim. Der Film hat kaum Dialoge, dafür eine Off-Erzählstimme, die kurz die Situationen skizziert, sich aber auch den kindlichen Bögen unterwirft.

 

 

Pasta statt Piazza

Es mag ein Fehler sein, oder ein Zeichen von Kultur-Ignoranz, aber 150 Minuten Filme auf unbequemen Stühlen, nachdem vorher noch Ehrenpreise verteilt wurden, nein, das ist zu viel.
Also, statt auf der Piazza den nepalesischen Film anzuschauen, essen gehen und dann einen litauischen Film aus dem internationalen Wettbewerb sehen.

 

Schwestern

Laurynas Bareiša wählt für Seses einen Erzählstil mit Unterbrechungen und Wiederholungen. Eine Art Parallelmontage von einem Vorher und einem Nachher, Cliffhanger inklusive. Das ist ganz kurz etwas verwirrend, aber dann eigentlich ein sehr schöner Kunstgriff. Zwei Schwestern, ihre Männer und je ein Kind fahren gemeinsam in ein Ferienhaus an einem See, die Stimmung ist relativ gelöst, kleine Reibereien und Angebereien mal ausgenommen. Der erste Strang endet, als eines der Kinder nach einem Sprung in den See nicht mehr auftaucht. Im zweiten Strang versteht man recht bald, dass der Mann einer der Schwestern nicht mehr am Leben ist. Danach wechseln sich die Sequenzen ab, und Stück für Stück erlebt man, was vorher geschah und was heute daraus geworden ist. Ein Film bei dem man trotz Spannung ganz in Ruhe schauen, folgen und verstehen kann.

 

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Auf dem Rückweg, vorbei an der Piazza, wo der nepalesische Film in vollem Gange ist, schöne Bilder hat er auf jeden Fall.

#Locarno77 Beziehungen

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Die Luft köchelt

 

Bereits am Morgen steigen die Temperaturen auf hohe Werte jenseits der 25°, da ist es gut, wenn man schattige oder gekühlte Plätze findet, auch ausserhalb der Kinosäle. Glück haben alle, die einen Fächer besorgt haben.
Bewegte Luft kühlt, sofern man nicht zu schnell fächert.

 

 

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Schon im letzten Jahr stand nur noch sporadisch auf der Tafel, wie viele Besucher abends auf der Piazza waren. Dieses Jahr existiert die Tafel zwar noch, aber sie taugt nur mehr als schwarzer Spiegel, es gibt keinerlei Angaben mehr. Schade eigentlich. Samstag waren auf der Piazza Grande aber sicher die komplett möglichen 8.000 Besucher, die Abende davor waren vermutlich recht nah dran.

 

 

Freundschaften und Allianzen

 

Das heutige Kurzfilmprogramm ist deutlich weniger stark, was man allerdings immer spürt, ist das Herzblut, das in den Filmen steckt.
Das ist ein Anfang, der Rest kommt – hoffentlich – mit der Zeit.

Despre imposibilitatea unui omagiu (On the Impossibility of an Homage) von Xandra Popescu. Wie kann man einen ehemaligen Tänzer porträtieren, wenn dieser dauernd sagt, dass er so, aber so nicht, porträtiert werden kann. Wer bestimmt, wer ist der Künstler eines Werkes über einen Künstler? Am Ende entsteht dennoch ein Bild des ehemaligen Startänzers der Bukarester Oper.

Lux Carne von Gabriel Grosclaude ist ein schöner Animationsfilm über zwei Cousinen in einer heissen, trockenen, verlassenen Motela­nlage. Sehr reduzierte Zeichnungen, die die Stimmung in der Hitze, die Langeweile und die wachsende Gereiztheit trotzdem perfekt eingefangen.

Soleil gris von Camille Monnier zeigt eine etwas gruselige Vision in die Zukunft. Menschen, die Fleisch kaufen und essen wollen, müssen vorher einen Schlachthof– Schein machen. Je grösser das selbst geschlachtete Tier, desto umfangreicher die Menge Fleisch, die erworben werden kann. Eine junge Reporterin mit Dackel will mehr darüber wissen, und findet sich plötzlich allein mit einem Huhn in einem weiss gekachelten Raum.
Kühl und unheimlich.

400 Cassettes von Thelyia Petraki beleuchtet die Fragilität von Freundschaft und vermischt das mit philosophischen Betrachtungen. Nicht ganz klar, nicht wirklich interessant gestaltet.

1 hijo & 1 padre von Andrés Ramírez Pulido. Ein Junge, der in der Schule gehänselt wird, wehrt sich mit immer drastischeren Mitteln. Bevor er von der Schule fliegt, soll er an einem Vater-Sohn-Camp teilnehmen. Bloss, der Vater fühlt sich nicht zuständig. Stattdessen geht der Freund der Mutter mit, selber beständig Opfer blöder Kommentare. Eine sehr sensible erzählte Geschichte, die zeigt, dass auch unwahrscheinliche Verbindungen funktionieren können.

 

 

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Menschen und Orte

 

Ein Regisseur beobachtet seine Stadt, seine Mitmenschen und erzählt dabei – ein bisschen– eine Geschichte.

Holy Electricity von Tato Kotetishvili ist vordergründig die Geschichte von zwei Typen, Onkel und Neffe, die sich mehr schlecht als recht am Leben halten, in dem sie auf Schrottplätzen nach Verkaufbarem stöbern.
Der wirkliche Protagonist ist aber die Stadt Tiflis und ihre Bewohner: laut, seltsam, etwas verrückt. Erzählt wird alles in Totalen, mal etwas näher, mal weiter, aber immer total, dadurch entsteht ein dokumentarischer, beiläufiger Charakter.
Aber auch die fiktiven Figuren (alles Laiendarsteller) haben eigenwillige Hintergründe. Der Onkel entpuppt sich als Transmann, der obendrein Stress mit Geldeintreibern hat. Der Neffe verliebt sich zum ersten Mal, weiss aber nicht so recht, wie ihm geschieht. Und gemeinsam versuchen sie selbstgemachte leuchtende Kreuze zu verkaufen, um doch noch zu Geld zu kommen. Dazwischen skurrile, schrullige Figuren, die eher aus dem echten Leben stammen, als aus der Feder des Regisseurs. Eigenwillig.

 

Star

Nachtrag zum Bollywoodstar Shah Rukh Khan: das Publikumsgespräch musste, schon im Vorfeld, vom offen zugänglichen Spazio Cinema in eines der Kinos verlegt werden. Die kleine Strasse, in der das Rex liegt, war vor und während des Gesprächs an beiden Seiten durch mobile Gitter abgesperrt. Vermutlich, um einen Aufstand der übermütigen Fans zu verhindern. So viel Starkult ist wirklich selten in Locarno.

 

 

 

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Unterdrückung

 

Die Luft steht immer noch, es ist drückend heiß.
Dann heisst es, tief Luft holen für den fast dreistündigen Film auf der Piazza.

Mit grossem Beifall und grosser Begeisterung wird am Abend der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof empfangen. Die Vorstellung zu seinem Film nutzen Giona A. Nazzaro und er zu einem Aufruf zu Freiheit und Demokratie.Rasoulof ist vor kurzem aus dem Iran geflohen, um einer möglichen Verhaftung zu entgehen.

Sein Film The Seed of the Sacred Fig ist ganz klar politisch positioniert.
Die Geschichte eines Ermittlers der iranischen Justiz und seiner Familie ist spannend erzählt, zeigt im Mikrokosmos Familie, wie repressive Politik funktioniert. Zeigt Bespitzelung, Angst, Paranoia, aber auch Zivilcourage und Opposition.
Einziger Nachteil des Films: er ist mit 167 Minuten einfach zu lang. Die Positionen, selbst die Entwicklungen der Figuren sind relativ schnell und klar gezeichnet, und dann dauert es bis zum wirklich spannenden Showdown einfach furchtbar lang.

#Locarno77 Emotionen

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Die Tücken der Technik

Der neue Leopard funktioniert wunderbar auf allen Photos, auf der Leinwand nur dann, wenn die grosse Katze relativ statisch in die Kamera faucht, sobald mehr Bewegung ins Spiel kommt, ist der Spass vorbei.
Der alte, auf 35 mm gedrehte Leopard, schritt majestätisch und das Fell sah aus, als wollte man es berühren, der neue, digital gedreht, ist so überscharf, dass er in der Bewegung visuelle Artefakte generiert, die Augen und Hirn irritieren, das ist unschön.

Obwohl seit Jahren ein Telekommunikationsunternehmen Hauptsponsor des Festivals ist, gibt es weiterhin kein halbwegs flächendeckendes WLAN für Gäste und Besucher des Festivals, das ist, bedenkt man die teuren Roaminggebühren, wirklich blöd.

Weitere Neuerungen, die eigentlich keiner so braucht: die Bar beim Spazio Cinema, der einzige Ort, wo man in der Ecke Essen und Trinken bekommt, wünscht nur noch Kartenzahlung. Auf Nachfrage heisst es, dass das Festival das so will. So muss für jeden kleinen Espresso die Karte gezückt werden. Wozu?

 

 

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Alpakas und Fussball

 

Die Sektion Open Doors zeigt im dritten und letzten Jahr Filme aus Lateinamerika und der Karibik, Filmländer, die in Europa nahezu unbekannt sind, und eigentlich ein Gewinn sind.
Raíz von Franco García Becerra, der erste Film, der in der Reihe gezeigt wird, zieht um elf Uhr am Morgen eine riesige Schlange vors Kino – ausverkauft. Was auch heisst, das Gerangel um die letzten freien Plätze dauert und dauert und führt gleich am Morgen zu einer erheblichen Verspätung.
Aber der Film ist das Warten wert.
Der junge Feliciano hütet für seine Familie irgendwo in den Anden Alpakas, immer dabei: sein Hund Rambo und sein Alpaka-Junges Ronaldo. Und damit ist schon Felicianos Passion erzählt, er ist, wie der ganze Ort, Fan der peruanischen Fussballnationalmannschaft.
Die Idylle scheint perfekt, Peru ist kurz davor, nach Jahrzehnten wieder an einer WM teilzunehmen, die Alpakas haben Wolle von toller Qualität, aber eine Mine versucht sich immer mehr in die Landschaft zu graben. Die kleinbäuerliche Gemeinde wehrt sich, so gut es geht. Aber die Minenbetreiber wenden unlautere, brutale Mittel an, um sich Land zu beschaffen. In sehr schönen Bildern, stimmungsvoll und wild-romantisch, erzählt der Film den Konflikt, die Begeisterung für Fussball und mischt noch etwas andinischen Volksglauben von einem wilden Monster dazu. Einziger Minuspunkt: die etwas hölzern wirkenden Dialoge. Dennoch, der Film packt und am Ende fiebert man mit den Protagonisten dem Schluss des letzten Qualifikationsspieles entgegen. Peru ist nach mehr als 30 Jahren für eine WM qualifiziert.

Explosive Emotionen


Die erste Runde des Kurzfilmprogramms startet mit einigen sehr guten Einfällen, originell, bilderstark und emotional.
La Fille qui explose von Caroline Poggi und Jonathan Vinel ist eine Computeranimation, erstellt mithilfe von Videospiele-Software. Die Protagonistin und Off-Erzählerin der Geschichte explodiert, täglich, manchmal mehrmals täglich. Jedes Mal setzt sie sich wieder zusammen, allerdings sieht sie dabei immer mehr wie der elektronische Bruder eines Zombies aus. Eine poppig bunte Allegorie auf Schmerz, Liebe und das Verzweifeln an beidem. Sehr schön.

Biblisch, aber nicht weniger emotional geht Nakhane das Thema in B(l)ind the Sacrifice an. Eine Gruppe Nomaden lebt in Südafrika, mitten im sprichwörtlichen Nichts. Bibeltreu und patriarchalisch strukturiert, ist das Leben dort für einen jungen Homosexuellen nicht einfach. Suff und Stress sind da fast schon vorprogrammiert. Als sein Vater ihn, nach biblischem Vorbild, opfern will, und wie im Vorbild im letzten Moment den göttlichen Befehl bekommt, das Opfern abzubrechen, verschärft sich der Konflikt. Der Rat der Mutter, immer zu tun, was einem Gottes Stimme eingibt, endet dann unerwartet fatal.

Gimn chume von Ataka51 zeigt Spuk und Horror in einem alten sowjetischen Aufnahmestudio, wo ein Orchester ein Stück nach Puschkins „Das Festmahl zur Zeit der Pest“ vertont. Zunächst langsam, dann immer massiver, fliegen Dinge durch die Gegend, verschwindet erst ein Kind, dann die Musiker. Auch hier eine starke Allegorie auf Krieg und Zerstörung, sehr schön und gespenstisch in Szenen gesetzt.

In Tinderboys von Sarah Bucher und Carlos Tapia lädt eine junge Frau Männer zu sich ein, die sie auf Tinder gefunden hat. Aber es geht ihr nicht um Sex oder Beziehung, sondern darum, ihnen unvermittelt und überraschend eine Art Kunstperformance vorzuführen. Das ist sowohl witzig als auch verstörend. Die Verstörung wird durch die Kameraperspektiven genüsslich auf- und ausgebaut.

Freak von Claire Barnett ist dagegen sehr schwach. Schrappelige Camcorder-Bilder zeigen ein Paar, das sich mit eben diesem Camcorder filmt. Was anfängt wie ein lustiger Spass, wird unangenehm und peinlich, je weiter der Abend fortschreitet, und die Fragen intimer werden. Das ist weder bildlich noch inhaltlich interessant.

 

Jedes Jahr wieder
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Fundstücke nach nur einem Festivaltag: geborstenen Stühle!

 

Spannungslos


La Mort viendra
von Christoph Hochhäusler will ein Thriller sein, mit Gangsterpaten, die sich gegenseitig Böses wollen, mit einer androgynen Killerin, die den Mord an einem Kurier aufklären soll, und das alles im Raum zwischen Brüssel und Luxemburg. Klingt leider weitaus besser als ist. Ein Dialog kurz vor Schluss des Films zwischen der Killerin und einem der Unterlinge eines der Bosse fasst den Film perfekt zusammen: „Aber das ergibt alles doch überhaupt keinen Sinn.“, lapidare Antwort: „Am Ende vielleicht schon.“
Bloss, Spoiler-Alarm: nein, es ergibt auch am Schluss keinen Sinn. Dazwischen erzählt der Film ohne jegliche Spannung vor sich hin, sodass einem auch völlig egal ist, wer, wen und warum umbringen oder von der Spitze vertreiben will. Das freundlichste, das man sagen kann, der Film ist ordentlich gedreht, die Bilder genretypisch düster, aber insgesamt ist es bieder gemacht und selbst die kurze exzessive Gewaltszene kann da nichts mehr retten.

 

 

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Politik und Familie

 

Auf der Piazza Grande ein freundlicher Film, der die Zuschauer nach Peru und in die 90er Jahre bringt. Reinas von Klaudia Reynicke erzählt gleichzeitig eine Familiengeschichte und die Geschichte der politischen Verhältnisse in Peru. Inflation, Ausgangssperren, Polizeigewalt, vor diesem Hintergrund bereitet eine Mutter sich und ihre beiden Töchter auf die Ausreise in die USA vor. Was noch fehlt, ist die Unterschrift des geschiedenen Vaters der Mädchen, damit sie ausreisen dürfen. Der Vater ist allerdings ein zwar liebenswürdiger, aber chaotischer Träumer, den die Töchter erst gar nicht sehen wollen, und dessen Charme sie dann doch erliegen. Doch seine versponnen Geschichten kombiniert mit der Trotzigkeit der älteren Teenager-Tochter bringt nicht nur die Auswanderungspläne, sondern die ganze Familie in Gefahr. Schön erzählt, sehr gut gespielt, vor allem von den beiden Mädchen, insgesamt vielleicht etwas zu lang. Freundlicher Applaus, aber viel mehr war an diesem Abend nicht zu holen.

 

#Locarno77 Neues zum Start

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Bekanntes und Neues

 

Der graue Regen: bekannt, unvermeidlich, aber dennoch etwas lästig.
Die Stühle: unverändert stehen sie auf der Piazza Grande, und sicher werden jeden Abend einige unter lautem Krachen zerbrechen.
Das Stadtbild: bekannt, in Gelb und Schwarz, aber etwas ist doch minimal anders.
Das Locarno Filmfestival hat nach 15 Jahren den letzten Leoparden in Rente geschickt und einen neuen vom Tierphotographen Tim Flach photographieren lassen. Willkommen Bagheera.

Neu ist auch die Festivalpräsidentin Maja Hoffmann, die Marco Solari ablöst.
Auch wenn der Festivalpräsident während des Festivals eher im Hintergrund zu finden ist, die Aufgabe ist riesig. Die Präsidentschaft ist das Herz des Festivals, sorgt für die wirtschaftlichen und repräsentativen Verbindungen nach Aussen, steht für die innere und auch für die politische Haltung des Festivals.
Unter Marco Solari war damit immer zuallererst die künstlerische Unabhängigkeit und Freiheit gemeint, die er sogar so weit verteidigte, dass er Sponsoren, die Einfluss auf das Programm nehmen wollten, schlicht ablehnte. Und das, obwohl Locarno, wie jedes Filmfestival, auf Sponsorengelder angewiesen ist. An solchen Massnahmen wird Maja Hoffmann sich messen lassen müssen. Hoffmann ist eine andere, jüngere Generation, anders vernetzt, mit möglicherweise anderen Prioritäten, wobei die Gefahr, diesen künstlerisch unabhängigen Charakter Locarnos zu schmälern, eher klein bleiben dürfte.
Denn genau diese Haltung war schon immer das Konzept des tessiner Festivals: unabhängig, mit dem Fokus auf die Filmkunst, auch Stars publikumsnah präsentierend, den Film feiernd, ohne sich dabei in elitärem Glamour zu verstecken.

 

Holpriger Start

 

Ihren Start bei der Eröffnung am frühen Abend verstolpert Maja Hoffmann. Es mag der Nervosität geschuldet sein, aber was sie mit ihrer holprigen Rede eigentlich sagen wollte, bleibt unbekannt.

Giona A. Nazzaro (links)
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Leidenschaftlich und politisch ist dagegen der Auftritt des künstlerischen Leiters Giona A. Nazzaro. Vielsprachig, eloquent und feurig verspricht er, dass Festival als „Haus mit vielen Türen“, als offenen Ort für Begegnungen aller Art, aller Menschen bereitzuhalten. Ähnliche Töne auch von der neuen Kulturministerin Elisabeth Baume-Schneider, die Filme als Möglichkeit bezeichnet, mit und durch die Augen anderer die Welt zu sehen. Beide, Politik und Kunst, betonen die Chance Vielfalt, Diversität und Miteinander hier zu leben.

 

 

 

 

Piazza Grande

 

Der Regen hat sich verzogen, rosa Wölkchen machen einem klaren Sternenhimmel platz.
Die Eröffnung vor dem grossen Publikum fällt recht kurz aus.
Noch ein schneller, verstolperter Auftritt von Maja Hoffmann, Vorstellung der Jurys und der engen Mitarbeiter, kurzer und sehr schöner Zusammenschnitt der Filme der nächsten Tage und dann schon die Präsentation des Eröffnungsfilms.

 

Maja Hoffmann
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Kostümfilm

Le Déluge von Gianluca Jodice erzählt die letzten Wochen Ludwig des 16. und seiner Frau Marie Antoinette im Herbst 1792. Ein Film, in dem Ausstattung und Kostüm sich ordentlich ausgetobt haben, wirklich gelungen ist das Ganze trotzdem nicht. Die königliche Familie, ihrer Privilegien beraubt, auf engem Raum zusammengepfercht, scheint mit sich zu hadern, auf den letzten Metern ihres Lebens scheint ihnen aufzufallen, dass sie nie wirklich gelebt zu haben. Während um sie herum Revolutionäre üben, ihre Defizite in Macht und Terror umzugestalten. Tatsächlich glaubt man beiden Parteien ihre Anliegen nicht wirklich. Am spannendsten ist noch der Moment, als der König am Abend vor seiner Hinrichtung bittet, den Scharfrichter sprechen zu dürfen, und ihn darüber ausfragt, wie denn der Ablauf der Hinrichtung sein wird.
Aber braucht man heute einen Film, der zeigt, dass auch Herrscher Menschen sind und Revolutionäre weder allwissend noch tugendhaft sind? Der Ansatz kommt dann doch recht altbacken rüber.
Der Applaus hielt sich in höflichen Grenzen.

 

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