#Locarno77 Neues zum Start

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Bekanntes und Neues

 

Der graue Regen: bekannt, unvermeidlich, aber dennoch etwas lästig.
Die Stühle: unverändert stehen sie auf der Piazza Grande, und sicher werden jeden Abend einige unter lautem Krachen zerbrechen.
Das Stadtbild: bekannt, in Gelb und Schwarz, aber etwas ist doch minimal anders.
Das Locarno Filmfestival hat nach 15 Jahren den letzten Leoparden in Rente geschickt und einen neuen vom Tierphotographen Tim Flach photographieren lassen. Willkommen Bagheera.

Neu ist auch die Festivalpräsidentin Maja Hoffmann, die Marco Solari ablöst.
Auch wenn der Festivalpräsident während des Festivals eher im Hintergrund zu finden ist, die Aufgabe ist riesig. Die Präsidentschaft ist das Herz des Festivals, sorgt für die wirtschaftlichen und repräsentativen Verbindungen nach Aussen, steht für die innere und auch für die politische Haltung des Festivals.
Unter Marco Solari war damit immer zuallererst die künstlerische Unabhängigkeit und Freiheit gemeint, die er sogar so weit verteidigte, dass er Sponsoren, die Einfluss auf das Programm nehmen wollten, schlicht ablehnte. Und das, obwohl Locarno, wie jedes Filmfestival, auf Sponsorengelder angewiesen ist. An solchen Massnahmen wird Maja Hoffmann sich messen lassen müssen. Hoffmann ist eine andere, jüngere Generation, anders vernetzt, mit möglicherweise anderen Prioritäten, wobei die Gefahr, diesen künstlerisch unabhängigen Charakter Locarnos zu schmälern, eher klein bleiben dürfte.
Denn genau diese Haltung war schon immer das Konzept des tessiner Festivals: unabhängig, mit dem Fokus auf die Filmkunst, auch Stars publikumsnah präsentierend, den Film feiernd, ohne sich dabei in elitärem Glamour zu verstecken.

 

Holpriger Start

 

Ihren Start bei der Eröffnung am frühen Abend verstolpert Maja Hoffmann. Es mag der Nervosität geschuldet sein, aber was sie mit ihrer holprigen Rede eigentlich sagen wollte, bleibt unbekannt.

Giona A. Nazzaro (links)
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Leidenschaftlich und politisch ist dagegen der Auftritt des künstlerischen Leiters Giona A. Nazzaro. Vielsprachig, eloquent und feurig verspricht er, dass Festival als „Haus mit vielen Türen“, als offenen Ort für Begegnungen aller Art, aller Menschen bereitzuhalten. Ähnliche Töne auch von der neuen Kulturministerin Elisabeth Baume-Schneider, die Filme als Möglichkeit bezeichnet, mit und durch die Augen anderer die Welt zu sehen. Beide, Politik und Kunst, betonen die Chance Vielfalt, Diversität und Miteinander hier zu leben.

 

 

 

 

Piazza Grande

 

Der Regen hat sich verzogen, rosa Wölkchen machen einem klaren Sternenhimmel platz.
Die Eröffnung vor dem grossen Publikum fällt recht kurz aus.
Noch ein schneller, verstolperter Auftritt von Maja Hoffmann, Vorstellung der Jurys und der engen Mitarbeiter, kurzer und sehr schöner Zusammenschnitt der Filme der nächsten Tage und dann schon die Präsentation des Eröffnungsfilms.

 

Maja Hoffmann
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Kostümfilm

Le Déluge von Gianluca Jodice erzählt die letzten Wochen Ludwig des 16. und seiner Frau Marie Antoinette im Herbst 1792. Ein Film, in dem Ausstattung und Kostüm sich ordentlich ausgetobt haben, wirklich gelungen ist das Ganze trotzdem nicht. Die königliche Familie, ihrer Privilegien beraubt, auf engem Raum zusammengepfercht, scheint mit sich zu hadern, auf den letzten Metern ihres Lebens scheint ihnen aufzufallen, dass sie nie wirklich gelebt zu haben. Während um sie herum Revolutionäre üben, ihre Defizite in Macht und Terror umzugestalten. Tatsächlich glaubt man beiden Parteien ihre Anliegen nicht wirklich. Am spannendsten ist noch der Moment, als der König am Abend vor seiner Hinrichtung bittet, den Scharfrichter sprechen zu dürfen, und ihn darüber ausfragt, wie denn der Ablauf der Hinrichtung sein wird.
Aber braucht man heute einen Film, der zeigt, dass auch Herrscher Menschen sind und Revolutionäre weder allwissend noch tugendhaft sind? Der Ansatz kommt dann doch recht altbacken rüber.
Der Applaus hielt sich in höflichen Grenzen.

 

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