Hybrid oder nicht Hybrid
Im vergangenen Jahr war das internationale Dokumentarfestival Visions du Réel in Nyon eines der ersten, das sehr kurzfristig auf eine reine Online-Ausgabe wechselte. Für dieses Jahr gab es Zeit satt, Zeit alles vorzubereiten: von einer rein physischen Ausgabe über eine hybride Version bis hin zur komplett virtuellen Ausgabe. Die Verordnungen wechselten und damit wechselten auch in fröhlichem Reigen die Ankündigungen.
Letzter Stand: eine reine Online Ausgabe, mit allerdings einigen Rahmenprogrammveranstaltungen vor Ort in Nyon.
Letzter Stand? Nein!
Denn am Tag vor der Eröffnung änderte die Schweizer Regierung – Gesundheits- und Kulturminister Berset ist ein bekennender Filmfan – die Pandemiemassnahmen, damit sind ab kommender Woche nicht nur Sportstätten und Gastronomie wieder zugänglich, sondern auch Kinos.
Die allerletzte Änderung fand also fliegend und – fast – während der Eröffnung statt.
Und so konnte das Team um die künstlerische Direktorin Émilie Bujès ankündigen, dass die letzten vier Festivaltage kommende Woche auch Vorstellungen in real existierenden Kinos vorsieht.
Schwächelndes Internet
Feierlich sind Online-Eröffnungen selten, wenn dann aber mittendrin auch noch das heimische Netz anfängt zu schwächeln, hört der Spass wirklich auf.
Der Anfang lief noch freundlich vor sich hin, und liess Raum sich über das völlig überflüssiges Hin- und Herschneiden zwischen drei Kameras zu wundern.
Ausgerechnet zur Rede Émilie Bujès lief das Bild dann erst nur stockend und dann gar nicht mehr.
Während das Festival via Schweizer Fernsehen mit dem Film Les Guérisseurs von Marie-Eve Hildbrand eröffnet, wurde es also Zeit für einen Neustart und für die Auswahl des persönlichen Eröffnungsfilms.
Von Menschen und Tieren
Die Wahl fällt auf die österreichisch-schweizerische Koproduktion The Bubble
von Valerie Blankenbyl. Unterhaltsam, grotesk, erschreckend zeigt der Film, wie weisse, wohlhabende Senioren aus dem Norden der USA in den Süden, nach Florida, auswandern, und wie dort seit den 80er Jahren ein immer grösser werdendes Seniorendorf entsteht. Ca.150.000 alte Menschen zählt die Gemeinde mittlerweile. Was dabei entsteht, ist eine Real-Dystopie im Stil schlechter 50er Jahre Filme. Das Areal, früher Agrarland oder bewaldet, ist einem manikürten Grün gewichen, mit putzigen Häuschen, sauberen Wegen, mit 24 Stunden Radiobeschallung auf den öffentlichen Plätzen und eigener Zeitung. Die ursprünglichen Bewohner der Gegend werden zusehends an den Rand gedrängt, Druck entsteht, dass auch diese ihr Land verkaufen, für mehr Senioren, die in die Sonne wollen und hemmungslos geniessen wollen. Die Schäden am Land und für die Gemeinden sind erheblich. Ein Film, der einen das Grauen lehrt und doch, irgendwie sind die „Invasoren“ auch sympathisch, aber eben nur irgendwie.
Fast gänzlich sympathisch sind die Bewohner in Sheltered (Dierbaren) von Saskia Gubbels. Das Portrait der tierischen wie menschlichen Belegschaft eines Tierheims in Amsterdam ist berührend und traurig. Was Menschen Tieren und was Menschen Menschen antun, viel Kaputtes und dann doch auch wieder genug Hoffnungsvolles. Schön und unpathetisch.
Ums Kümmer geht es auch in Garderie nocturne von Moumouni Sanou.
Bobo-Dioulasso in Burkina Faso, Mütter, die vor ihrem nächtlichen Job als Prostituierte ihre kleinen Kinder in die Obhut einer älteren Frau bringen. Ein Film ohne viele Worte, die meisten Gespräche sind hauptsächlich atmosphärisch. Der Film folgt den Protagonistinnen, jeder Ort mit einer ganz eigenen Dynamik, die leichte Unruhe beim Abliefern der Kinder, der Lärm des Vergnügungsviertels, und die fast andächtige Ruhe, tagsüber Zuhause. Viel Dunkelheit, viele Momente der Nähe, in denen man den Ort, die Menschen kennenlernen kann. Einfach ein wunderschöner Film und mit einem der stärksten Schlussbilder.
Männlichkeit und Mythen
Soldat Ahmet von Jannis Lenz
Soldaten und Boxer, immer noch für viele der Inbegriff von Männlichkeit.
Ahmet ist beides, Berufssoldat, Sanitäter in der österreichischen Armee, und Boxer, er zeigt sich hart aber auch sensibel. Und er will, einem Kindheitstraum folgend, Schauspieler werden. In diesem Kontext, auch um die Rolle des Stanley in Endstation Sehnsucht überzeugend spielen zu können, muss er sich mit seiner eigenen Verletzlichkeit auseinandersetzen. Konkret: er muss weinen lernen. Der Film spielt mit den verschiedenen Aspekten dieses Lebens, zeigt, und verfremdet mithilfe einer ganz wunderbaren Tonebene, die harten und die weichen Seiten Ahmets, und kommt dabei gänzlich – wie bisher alle Filme – ohne Kommentar aus. Sehr schön.
Mythen und Männlichkeit verhandelt Holgut von Liesbeth De Ceulaer.
Die Sibirische Tundra, mythische Geschichten von verschollenen Mammuts, Träume von wilden Rentierherden. Zwei Brüder auf der Suche nach Jagdglück, ein Wissenschaftler auf der Suche nach Mammut DNA, die zum Klonen geeignet wäre. Aber alles, was da ist, sind tauende Permafrostlandschaften umgeben von verlassenen Industriebrachen. Der Wechsel von den Jagdversuchen und Träumen der Brüder zum Wissenschaftler erschliesst sich nicht wirklich, gerade noch bei den Brüdern und nach einer kurzen Schwarzblende beim Wissenschaftler. Einzig die Landschaft bleibt, schmutzig, tauend und traurig anzusehen. Alles etwas konfus, aber nicht uninteressant.
Flee von Jonas Poher Rasmussen erzählt nicht nur vom Selbstverständnis als schwuler Mann, sondern auch von dem was Flucht und Gewalterfahrungen mit dem Selbstbild anrichten können. Und da man manche Geschichten nicht einfach mal eben erzählen kann, weil Zuvieles nur in der Erinnerung der Protagonisten lebt, wählt dieser Film den Weg der Verfremdung durch Animation. Was entsteht, ist eine fast spielfilmspannende Lebensgeschichte, von der frühen Kindheit in Afghanistan, Krieg, Verfolgung, Flucht und Verlust. Erzählt von Schleppern, der Ankunft nach langer Odyssee in Dänemark und einer falschen Lebensgeschichte, die als Schutz dienen soll. Aber auch von Zusammenhalt und Versöhnung, nicht zuletzt mit sich selber. Sehr toll.
Kurz und gut
In der Sektion Kurz- und Mittellange Dokumentarfilme gibt es natürlich auch interessantes zu entdecken.
How to order online von Julie Ramage.
Neun Minuten kurz und schräg! Hände, die aus Plastiktüten, aus Laken, aus altem Stoff lange Lassos knoten. Stimmen, die erklären, dass damit ein Kommunikationssystem von einer Gefängniszelle zur anderen entsteht, mit der kleine Güter ausgetauscht werden; ein Ballett der Finger, visuell spannend.
Mit 30 Minuten eher mittellang ist:
Belgrade Forest Incident…and What Happened to Mr. K? von Jan Ijäs.
Sehr eigentümliche und eigenwillige Umsetzung zum Verschwinden, zur Ermordung des saudischen Journalisten Khahoggie in der Saudischen Botschaft in Istanbul. Eine Tonkollage der diversen Nachrichtenmeldungen, eine Bildkollage aus Orten, die in Zusammenhang mit dem Fall stehen. Die Bilder, in verschiedenen Formaten, zeigen Orte, an denen nichts zu sehen ist, weil eigentlich auch nichts ans Licht gekommen ist, während der Ton sich in ständig ändernden Variationen zum möglichen Verlauf der Ereignisse überlagert.
Eigenwillig aber nicht uninteressant.