Mit den Juryentscheidungen und den Preisvergaben ist die 51. Ausgabe von Visions du Réel zu Ende gegangen.
Zum Glück lassen sich die Filme online noch nachholen. Hier also drei Preisträgerfilme in der Einzelkritik.
Auf der Suche nach dem verlorenen Hund
Der Preis in der Kategorie Kurz- und Mittellange Filme geht an: Without (Bez) vonLuka Papić. Ausgehend vom Verschwinden eines kleinen Hundes, wird hier von Gott und der Welt fabuliert. Ein Maler sucht seinen anscheinend verlorenen Hund. Statische Bilder, die gleichzeitig ikonisch und schmutzig aussehen, bilden den Hintergrund für die oft im Off vorgebrachten Ideen zu Hunden, Religion, Vorurteilen und der Welt an sich. Eine schräge Geschichte, an deren Ende zwei Strassenhunde Cervantes „Gespräch zweier Hunde“ (auf)führen und damit den intelligentesten Dialog des Films führen.
Ach ja, der verschwundene Hund des Malers meldet sich telephonisch: alles in Ordnung, es gehe ihm gut.
Auf der Suche nach Eisbären
Der Preis der Jugendjury geht an: Churchill, Polar Bear Town von Annabelle Amoros. Im Norden Kanadas sind Eisbären, die in Städte kommen, ein Problem, aber auch eine Touristenattraktion. Der Film zeigt, wie Patrouillen in Autos und Hubschraubern nach Eisbären suchen, um sie anschliessend mit Lärm zu vertreiben und zu vergrämen. Weite Landschaften im Breitbildformat menschen- und bärenleer, aber mit viel Schnee und Eis, und dann tauchen tatsächlich auch vereinzelt Eisbären auf. Eine spielerisch-verspielte Reportage über das Zusammenleben von Mensch und Tier, die sich auch nicht ganz ernst nimmt.
Mysterien am Fluss
Der Hauptpreis des internationalen Wettbewerbs geht an ein Hybrid zwischen Spiel- und Dokumentarfilm: L’îlot von Tizian Büchi. Ein ruhiges Wohnviertel ausserhalb von Lausanne, kleine Mehrfamilienhäuser, Kinder spielen auf der Strasse, ein Flüsschen mit verwildertem Uferbereich, alles scheint ganz entspannt. Trotzdem gehen zwei Wachmänner Tag und Nacht durchs Viertel, sperren den Uferbereich mit Flatterband ab, schauen, dass alles ruhig bleibt. Aber zu keinem Zeitpunkt wird enthüllt, warum sie da sind. Immer wieder scheint eine Begründung gleicht kommen zu können, aber nein, der nächste Satz handelt von ganz etwas anderem, und das Mysterium bleibt erhalten. Langsam und in sehr schönen Bildern wird das Viertel erzählt, die Menschen, die dort leben, die Wachleute, man erfährt vieles, während die Spannung in der Luft hängt. Alles bleibt in einem ruhigen Fluss und führt letztlich nur im Kreis, wie die Runden der Wachen. Und am Ende ist man wieder an derselben Stelle wie zu Beginn: am Flussufer, wo vielleicht irgendwann etwas passiert ist, oder eben auch nicht.
Das war’s
Es ist interessant, dass doch einige der Preisträgerfilme sich nicht streng in die Kategorie Dokumentarfilm einordnen lassen. Mal ist die „Inszenierung“ klar, mal ist sie subtil, manchmal sieht man sie – vermutlich aus Unkenntnis – gar nicht.
Es gab auf jeden Fall viele künstlerisch spannende, inhaltlich sehr unterschiedliche Filme zu sehen. Der Dokumentarfilm gehört definitiv in die Kinos. Alle Preise gibt es hier.
Weiter geht’s im Programm von Nyon. Kategorie auswählen, Vorschaubildchen anschauen, anklicken, Kurzbeschreibung lesen, verwerfen oder auswählen.
Einfache Sache.
Soweit war die intuitive Auswahl erfolgreich und erfreulich.
Gefahren
Was macht ein Filmemacher während eines Lockdowns?
Er filmt natürlich. Daniel Kemény filmt während des langen ersten Lockdowns in Italien sich und seine Freundin. Entstanden ist daraus: Supertempo. Er verwandelt die Monotonie in etwas auch Lustiges, lässt aber Platz für Nachdenkliches. Wie eine Liebe das Eingesperrtsein überlebt, ist dabei ebenso Thema wie Langeweile und leere römische Strassen. Daraus entsteht das präzise Bild einer absurden Situation, die ihre tragischen wie auch komischen Momente hat.
Aus der Erde und zurück unter die Erde: Burial (Kapinynas) von Emilija Škarnulytė. Ein Film über die vielfältigen Nutzungen von, und Problemen mit, Uran. Verwaiste Uranminen, ein litauisches Atomkraftwerk im Rückbau, ein mögliches Endlager für Atommüll in Frankreich, alles in unglaublich schönen, künstlerischen Bildern. Ein fliessender Schnitt, eine Tonspur, in der Geräusche, Töne, Atmos und Musik ein Gewebe bilden, das die Kraft der Bilder noch mal anhebt. Und dann, immer wieder, eine grosse Schlange, die Über-Metapher der Verführung, des Bösen. Eine Stunde Film, die zum Denken und Träumen verführt.
Erwachsenwerden
Ramboy von Matthias Joulaud & Lucien Roux ist ein ganz klassischer, ruhiger Dokumentarfilm. Irland im Sommer, grün und grau und Schafe, mittendrin der junge Cian, der über den Sommer auf der Schaffarm seines Grossavater das Handwerk lernen soll. Anfangs folgt nicht mal der Hütehund seinen Kommandos. Bockig, versteht man schnell, sind nicht nur die Schafe, sondern auch der Enkel. In sehr schönen, ruhigen Bildern läuft der Sommer ab, und der Enkel lernt, sehr zur Freude des Grossvaters. Alles andere als klassisch ist How to Save a Dead Friend von Marusya Syroechkovskaya gestaltet. Mit 16 lernt die depressive Teenagerin Marusya den gleich alten Kimi kennen; zwei Seelenverwandte.
16 Jahre lang filmt sie, filmen sie sich. Es entsteht ein impressionistisches Tagebuch voller Liebe, Depression, Drogen und Selbstzerstörung. Die Beobachtung ist nicht gradlinig in der Zeit montiert, sondern geht vor und zurück, und zeigt damit auch das Auf und Ab der Gefühlswelt der beiden Jugendlichen. Dazwischen immer wieder Szenen von Strassenkonfrontationen russischer Jugendlicher mit der Polizei, und die jährliche Neujahrsansprache des Präsidenten, in immer pathetischeren Worten. Die persönlichen Probleme haben ihre Entsprechung, wenn nicht Teile ihrer Ursache, im System, das die beiden umgibt. Und obwohl ab einem Punkt die Regisseurin sich aus dem Kreislauf der Selbstzerstörung herausnimmt, bleibt sie mit Kimi verbunden, auch wenn sie ihn letztlich nicht retten kann.
Bizarre Welten
Um Mikronationen geht es in Liberland von Isabella Rinaldi. Liberland hat Botschaftsräume in Prag und einigen anderen europäischen Städten, gibt online Pässe aus, und hofft bald Fuss auf sein Territorium setzen zu können. Das allerdings ist nicht so einfach. Liberland liegt an der Donau, im Dreiländereck von Kroatien, Serbien und Ungarn. Das Grundstück wird von den kroatischen Behörden verwaltet, die auch den Zugang verbieten, es aber gleichzeitig für serbisches Land erachten.
Kompliziert? Ja.
Parallel versuchen die Liberland-Anhänger in der Gegend sichtbar zu bleiben, und machen per Videos im Netz auf sich aufmerksam. Eine weitere Gruppe ist an diplomatischen Beziehungen zur Mikronation höchst interessiert, nämlich die selbsternannten Mini-Jugoslawen. Sie sehen sich in direkter Nachfolge Jugoslawiens, verehren Tito und veranstalten zu dessen 42. Todestag eine Gedenkveranstaltung. Seltsame Menschen, bizarre Ideen, ein unterhaltsamer Film.
Seit dem 7. April und noch bis Ostern läuft im schweizerischen Nyon das internationale Dokumentarfilmfestival Visions du réel.
Seit mittlerweile 51 Jahren werden hier Dokumentarfilme gezeigt, die in diversen Kategorien um Preise antreten. In diesem Jahr findet das Festival wieder in real existierenden Kinos, mit echten Zuschauern statt, für Fachbesucher ist aber auch eine Online-Akkreditierung möglich. Höchste Zeit also, einen Blick ins Programm und auf die Filme zu werfen.
Die Eigenwilligen
Foragers von Jumana Manna. Eine schräge Geschichte von Palästinensern im Golan, die Wildpflanzen sammeln gehen. Die meisten Pflanzen, vor allem essbare Wilddisteln, sind für den Eigenverbrauch, manche werden auf improvisierten Märkten verkauft. Auf der anderen Seite, die israelische Forst- und Parkbehörde, die versucht, die überwiegend alten Männer und Frauen daran zu hindern, und hohe Geldbußen verhängt. Ein absurdes Theater in Art eines Katz- und Mausspiels.
Gejagt wird auch im argentinischen Film Luminum von Maximiliano Schonfeld. Jagdobjekt sind hier allerdings Ufo-Sichtungen. Bereits in den 90er Jahren haben Mutter und Tochter sich mit Phänomenen beschäftigt, die sie eindeutig ausserirdischen Aktivitäten zuordnen. Und so wechselt der Film vom Heute, in einer nächtlichen argentinischen Landschaft, der ideale Projektionsfläche für alle möglichen Ideen, zu rauschigen 90er Jahre VHS Aufnahmen mit toten Rindern und TV-Auftritten der beiden Damen. Gegen Ende des Films kippt die Geschichte vom Beobachtenden, Dokumentierenden ins Experimentelle, als hätten die beiden Frauen den Regisseur überzeugt. Lichtpunkte, die über den Himmel schwirren, immer weiter pixelig vergrössert, unterlegt mit Saint-Saëns “Schwan”, interpretiert auf einer singenden Säge. Die filmischen Genre-Grenzen fliessen ineinander, wie bei den Ufos, man weiss es halt nicht so genau.
Einen 10-minütigen Spass gibt es mit Eine Sekunde in Fränkli von Douwe Dijkstra. Mit viel Witz und technischen Spielereien geht der Regisseur der Frage nach, wer auf den 1 und 5 Franken Münzen zu sehen ist. Und könnte man da nicht auch etwas anderes zeigen? Vorschläge kommen aus dem Off, von befragten Passanten: ein nackter Po, Roger Federer, alles scheint denkbar. Und warum gibt es keine 1 Franken Münzen von 2021 und 2022? Frech und witzig.
Wachsen und Werden
In Éclaireuses (Leading lights) von Lydie Wisshaupt-Claudel wird eine kleine, spendenfinanzierte Schule portraitiert. Wobei Schule den Kern nicht trifft. Hier werden 6-15-jährige Flüchtlingskinder unterrichtet, aber nicht in einer strengen schul- und lernkonformen Art. Keines der Kinder war jemals in einer Schule, sie sind oft schnell aggressiv und haben keine Vorstellung von Zeitstruktur. Das alles wird mit enormer Geduld von den Lehrerinnen vermittelt, ein Prozess, der dauert, und der Zuschauer ist ganz unmittelbar dabei. Die Kamera ist mitten im Geschehen und wartet ab, bleibt drauf, das fordert auch vom Zuschauer Geduld, erzählt dafür aber um so genauer, was für eine unglaubliche Leistung da erbracht wird.
Getting Old Stinks von Peter Entell ist ein Langzeitprojekt in XL-Version. Über 15 Jahre hat der Regisseur seine Familie, mit besonderem Fokus auf den Vater, gefilmt. Immer wiederkehrende Situationen wie Geburtstage, das Vortragen eines Gedichts, aber auch Gespräche über das Altern. Angelegt als Brief an die früh verstorbene Mutter, ist der Film dennoch hauptsächlich eine Reflexion über das Altern, das Verschwinden und die Familie. Das Material lag dann nach Ende des Drehens noch einmal 15 Jahre in einer Schublade, bevor es jetzt zusammengestellt und präsentiert werden konnte.
Dokumentarfilm ist eine Form der Geduldsübung, immer.
Sich selbst zum Thema machen, die eigenen Befindlichkeiten offen legen, eigene Fragen öffentlich machen, nach Lösungen suchen vom Privaten ins Öffentliche, das kann reizvolle Dokumentarfilme ergeben, oder fatal daneben gehen. So weit ging das bei den bisherigen Filmen eher recht gut.
Um sich selbst kreisend
My Quarantine Bear von Weijia Ma Ein gefilmtes Quarantänetagebuch der chinesischen Animantionsfilmerin. Die ersten Pandemiemassnahmen überraschen die Regisseurin in Frankreich, der Weg zurück nach China erinnert an einen Science-Fiction-Film. Am Anfang etwas zäh, nimmt der Film dann aber Fahrt auf, wird komödiantisch und phantasievoll. Und so reihen sich schräge Selbstaufnahmen an eigentümliche Blickwinkel und werden mit Stopptrickanimationen kombiniert. Zwei Wochen im Hotelzimmer in Shanghai: Warten, essen, weiter warten, aber eben auch kreativ sein, das 35 minütige Ergebnis kann sich sehen lassen.
Stefan Pavlović geht in Looking for Horses noch mehr in die Tiefen der eigenen Person. Als Kind bosnischer Eltern, aufgewachsen in Holland und Montreal, findet sich der Regisseur in der Heimat seiner Familie seltsam sprachlos. Der Film ist das sehr intime Portrait einer ungewöhnlichen Annäherung. Er trifft auf einen alten Mann, der auf einem See in Bosnien fischt, auf einem Inselchen lebt und eigentlich keine sozialen Kontakte haben will. Die Kamera, als wesentlicher Akteur des Films, die über Sprachlosigkeit und Sprachdefizite hinweghilft. In weiten Teilen ein sehr schön und stimmungsvoll gedrehter Film, der eventuelle ein wenig gerafft hätte werden können.
Menschenskind! von Marina Belobrovaja stellt Fragen nach Familie und Verantwortung. Kinderwunsch und Wunschkind, aber hat man als Mutter das Recht, sich ein Kind zu wünschen, auch ohne Partner? Und was für Rechte hat dann das Kind? Allen diesen Fragen geht die Regisseurin nach, denn ihre Tochter ist ein Wunschkind von einem Vater, den sie, und der sich, nur als Spender sieht. Verschiedene Familienkonzepte und wechselnde Sichten auf ein komplexes Thema und, natürlich möchte man sagen, keine klare Antwort, aber viele Denkansätze.
Heilen und zerstören
Marie-Eve Hildbrand reiht in Les Guérisseurs Heilende aneinander.
Einen Arzt unmittelbar vor der Pensionierung, Medizinstudenten, Alternativmediziner und sogar Pflegeroboter kommen vor. Aber ein echtes Konzept sucht man in diesem Film vergeblich. Der alte Arzt ist souverän und liebevoll, egal ob er gerade einen Säugling impft oder einer 93-jährigen Frau den Blutdruck misst, einige der Studenten werden von Zweifeln geplagt, die aber nur teilweise mit ihrem künftigen Beruf zu tun haben. Und so reihen sich Szenen, Situationen im Berufsleben aneinander, ohne dass sie in irgendeiner Form in Beziehung zueinander treten. So bleibt der Film etwas blutleer und der Zuschauer etwas ratlos.
Klarer sind die Kontraste und die Positionen in Bellum – The Daemon of War von David Herdies & Georg Götmark. Krieg und was aus ihm werden kann. Der Film kontrastiert amerikanische Veteranen und eine „Kriegsphotographin“ mit schwedischen Entwicklern der neuesten Generation von Waffen. Während sich die einen, trotz verschwommenem Heroismus, eingestehen, dass die Kriege, in denen sie waren, sie zerstört haben, spielen die anderen sich als wissenschaftliche Götter auf. Dickliche Mittvierziger, die nichts dabei finden, mithilfe künstlicher Intelligenz immer ausgefeiltere Waffen zu entwickeln, immer nach dem Motto: was machbar ist, muss auch gemacht werden. Dazwischen, die Praktiker real ausgeführter Kriege. Man muss schon abgebrüht sein, um sich dem Zynismus zu entziehen.
Was Krieg und Waffen anrichten, kann man seit Jahre in Syrien sehen.
Einen Blick auf eine oft vergessene Gruppe des Konflikts zeigt Little Palestine (Diary of a Siege) von Abdallah Al-Khatib. Das Viertel Yarmouk in Damaskus ist seit 1948 Zufluchtsort für palästinensische Flüchtlinge, während des Bürgerkriegs in Syrien haben Assads Truppen das Viertel zwei Jahre lang abgeriegelt, belagert, die Bevölkerung ausgehungert und bombardiert. In diesen Jahren filmt Abdallah Al-Khatib den Alltag, ungeschönt und manchmal schmerzhaft rau. Während am Anfang noch eine fast trotzige und aufgewühlte Stimmung herrscht, weicht im Verlauf der Zeit und des Films jegliche Hoffnung, ein schneller Tod durch Waffen wird dem langsamen durchs Verhungern vorgezogen. Eine weiterer deprimierender Aspekt des entsetzlichen Konflikts in Syrien.
Wann ist ein Film ein Film
Reicht es, eine schwarze Leinwand zu zeigen und einen Off-Text daraufzulegen? Und wenn ja, wie viel schwarze Leinwand mit Off Text ist noch tolerierbar und ab wann wäre die Geschichte im Radio besser aufgehoben?
Und sollte ein Film nicht durch seine Bilder und deren rhythmische Abfolge seine Geschichte erzählen, statt durch Katalogerklärungen, Texteinblendungen oder epische Off Texte?
Nicolás Zukerfeld macht es einem mit There Are Not Thirty-six Ways of Showing a Man Getting on a Horse schwer diese Frage schlüssig zu beantworten. Die erste Hälfte des knapp einstündigen Films ist pures Filmvergnügen. Eine rasante, intelligente Montage von Szenen aus Raoul Walsh Filmen – dem das titelgebende Zitat zugeschrieben wird – wirft einen witzigen und erhellenden Blick auf die Filmkunst. Dass der Regisseur und Filmprofessor diese Montage eigentlich nur auf sich genommen hat, weil er herausfinden wollte, ob das Zitat erstens echt ist, und zweitens nicht ohnehin heissen müsste „… keine fünf Arten, ein Zimmer zu betreten“, erfährt man dann in der zweiten Hälfte des Films. Allerdings nicht in Bildern, sondern in einem, wenn auch witzig erzähltem, Monolog über die Recherche des Regisseurs: als Off Text auf Schwarz.
Agustina Wetzels Film, Outside the Coverage Area, will politisch sein, will womöglich auch originell sein, bleibt aber weitgehend unverständlich. In Splitscreen parallel laufende Bilder, einerseits gehende Beine, andererseits Googlemap Bilder, sollen die Abgrenzung von virtueller und realer Welt darstellen. Sofern man das aber nicht in der Katalogbeschreibung liest, erschliesst sich das Konzept nicht. Auch hier bleibt sehr viel Leinwand – oberhalb und unterhalb der (Lauf)Bilder– schwarz, dazu Off Texte – oder sind es nur zufällige Atmos? – die Untertitel so winzig, dass man kaum erfassen kann, ob der Inhalt überhaupt eine Bedeutung hat.
Träumen
Sortes von Mónica Martins Nunes Wilde schöne Landschaften im Süden Portugals, eine Gegend, in der immer weniger Menschen leben und leben können, und doch so schön, dass man gleich seine Koffer packen möchte, um hinzufahren. Die schönen, ruhigen Bilder, nur untermalt von Geräuschen oder Gedichtzeilen, laden zum Tagträumen ein.
Statt Licht und Weite, Dunkelheit und die Enge des 4:3 Bildformates in: Groupe merle noir von Anton Bialas. Mit einem perfekten Gefühl für Schnittrhythmus und Bildgestaltung, zeigt der Film eine Gruppe Menschen in einem leeren, anscheinend stromlosen, Haus. Ein reduzierter Alltag, der etwas schwermütiges hat, begleitet von Stille und stiller Wut. Selbst am offenen Feuer scheinen die Bilder kalt, bläulich zu sein und die Stimmung im Haus zu reflektieren. Keine Erklärung, aber genug Raum, um als Zuschauer die Leerstellen mit eigenen Ideen zu füllen, wäre der Film eine Geschichte dann von Gogol oder Dostojewski. Update: auf der Webseite der Filmproduktion, wird der Film als “Fiktion” ausgewiesen, Schauspielernamen inklusive! Wie er es trotzdem in ein Dokumentarfestival geschafft hat, bleibt rätselhaft.
Verwandlungen
In Radiograph of a Family von Firouzeh Khorovani wird Geschichte erfahrbar. Der sehr starker Film, in dem anhand der Familiengeschichte der Regisseurin die Geschichte Irans von Mitte der 60er Jahre bis heute erzählt wird, begeistert auch durch seine Form. Die Collage aus Familienphotos, altem Filmmaterial und immer wieder dem Wohnzimmer im Elternhaus, das durch unterschiedliche Möblierung den Wechsel unterstreicht, ergibt eine einzigartige Stimmung. Die beiden gegensätzlichen Pole des Irans, hier weltoffen und laizistisch, dort verschlossen und religiös, spiegeln sich im weltlich orientierten Vater und der immer mehr in die Religiosität eintauchenden Mutter wider. Es entsteht ein Riss, der durch die Familie und durch das Land geht. Eine Geschichtsstunde, die mitreisst.
Völlige Ruhe herrscht in Spare Parts von Helga Rakel Rafnsdóttir. Isländische Sommerlandschaft, tiefer, weiter Himmel, malerische Wölkchen, ein paar Schafe, wortkarge Menschen und ein Gespür für Schrott. Ein Autofriedhof voller Schätze, aus manchem Teil wird durch wissendes Basteln ein neuer Badeofen für einen ausrangierten Pool, eine andere Maschine spröttert beeindruckend vor sich hin. Sonst ist nichts passiert in diesem sommerlichen Fleckchen isländischer Natur, aber das ist sehr schön gefilmt und gestaltet.
Kino verführt zum Träumen, auch vom Sofa aus. Vielleicht also doch mal eine Reise nach Island ins Auge fassen.
Im vergangenen Jahr war das internationale Dokumentarfestival Visions du Réel in Nyon eines der ersten, das sehr kurzfristig auf eine reine Online-Ausgabe wechselte. Für dieses Jahr gab es Zeit satt, Zeit alles vorzubereiten: von einer rein physischen Ausgabe über eine hybride Version bis hin zur komplett virtuellen Ausgabe. Die Verordnungen wechselten und damit wechselten auch in fröhlichem Reigen die Ankündigungen.
Letzter Stand: eine reine Online Ausgabe, mit allerdings einigen Rahmenprogrammveranstaltungen vor Ort in Nyon.
Letzter Stand? Nein! Denn am Tag vor der Eröffnung änderte die Schweizer Regierung – Gesundheits- und Kulturminister Berset ist ein bekennender Filmfan – die Pandemiemassnahmen, damit sind ab kommender Woche nicht nur Sportstätten und Gastronomie wieder zugänglich, sondern auch Kinos.
Die allerletzte Änderung fand also fliegend und – fast – während der Eröffnung statt.
Und so konnte das Team um die künstlerische Direktorin Émilie Bujès ankündigen, dass die letzten vier Festivaltage kommende Woche auch Vorstellungen in real existierenden Kinos vorsieht.
Schwächelndes Internet
Feierlich sind Online-Eröffnungen selten, wenn dann aber mittendrin auch noch das heimische Netz anfängt zu schwächeln, hört der Spass wirklich auf.
Der Anfang lief noch freundlich vor sich hin, und liess Raum sich über das völlig überflüssiges Hin- und Herschneiden zwischen drei Kameras zu wundern.
Ausgerechnet zur Rede Émilie Bujès lief das Bild dann erst nur stockend und dann gar nicht mehr.
Während das Festival via Schweizer Fernsehen mit dem Film Les Guérisseurs von Marie-Eve Hildbrand eröffnet, wurde es also Zeit für einen Neustart und für die Auswahl des persönlichen Eröffnungsfilms.
Von Menschen und Tieren
Die Wahl fällt auf die österreichisch-schweizerische Koproduktion The Bubble
von Valerie Blankenbyl. Unterhaltsam, grotesk, erschreckend zeigt der Film, wie weisse, wohlhabende Senioren aus dem Norden der USA in den Süden, nach Florida, auswandern, und wie dort seit den 80er Jahren ein immer grösser werdendes Seniorendorf entsteht. Ca.150.000 alte Menschen zählt die Gemeinde mittlerweile. Was dabei entsteht, ist eine Real-Dystopie im Stil schlechter 50er Jahre Filme. Das Areal, früher Agrarland oder bewaldet, ist einem manikürten Grün gewichen, mit putzigen Häuschen, sauberen Wegen, mit 24 Stunden Radiobeschallung auf den öffentlichen Plätzen und eigener Zeitung. Die ursprünglichen Bewohner der Gegend werden zusehends an den Rand gedrängt, Druck entsteht, dass auch diese ihr Land verkaufen, für mehr Senioren, die in die Sonne wollen und hemmungslos geniessen wollen. Die Schäden am Land und für die Gemeinden sind erheblich. Ein Film, der einen das Grauen lehrt und doch, irgendwie sind die „Invasoren“ auch sympathisch, aber eben nur irgendwie.
Fast gänzlich sympathisch sind die Bewohner in Sheltered (Dierbaren) von Saskia Gubbels. Das Portrait der tierischen wie menschlichen Belegschaft eines Tierheims in Amsterdam ist berührend und traurig. Was Menschen Tieren und was Menschen Menschen antun, viel Kaputtes und dann doch auch wieder genug Hoffnungsvolles. Schön und unpathetisch.
Ums Kümmer geht es auch in Garderie nocturne von Moumouni Sanou. Bobo-Dioulasso in Burkina Faso, Mütter, die vor ihrem nächtlichen Job als Prostituierte ihre kleinen Kinder in die Obhut einer älteren Frau bringen. Ein Film ohne viele Worte, die meisten Gespräche sind hauptsächlich atmosphärisch. Der Film folgt den Protagonistinnen, jeder Ort mit einer ganz eigenen Dynamik, die leichte Unruhe beim Abliefern der Kinder, der Lärm des Vergnügungsviertels, und die fast andächtige Ruhe, tagsüber Zuhause. Viel Dunkelheit, viele Momente der Nähe, in denen man den Ort, die Menschen kennenlernen kann. Einfach ein wunderschöner Film und mit einem der stärksten Schlussbilder.
Männlichkeit und Mythen
Soldat Ahmet vonJannis Lenz Soldaten und Boxer, immer noch für viele der Inbegriff von Männlichkeit. Ahmet ist beides, Berufssoldat, Sanitäter in der österreichischen Armee, und Boxer, er zeigt sich hart aber auch sensibel. Und er will, einem Kindheitstraum folgend, Schauspieler werden. In diesem Kontext, auch um die Rolle des Stanley in Endstation Sehnsucht überzeugend spielen zu können, muss er sich mit seiner eigenen Verletzlichkeit auseinandersetzen. Konkret: er muss weinen lernen. Der Film spielt mit den verschiedenen Aspekten dieses Lebens, zeigt, und verfremdet mithilfe einer ganz wunderbaren Tonebene, die harten und die weichen Seiten Ahmets, und kommt dabei gänzlich – wie bisher alle Filme – ohne Kommentar aus. Sehr schön.
Mythen und Männlichkeit verhandelt Holgut von Liesbeth De Ceulaer. Die Sibirische Tundra, mythische Geschichten von verschollenen Mammuts, Träume von wilden Rentierherden. Zwei Brüder auf der Suche nach Jagdglück, ein Wissenschaftler auf der Suche nach Mammut DNA, die zum Klonen geeignet wäre. Aber alles, was da ist, sind tauende Permafrostlandschaften umgeben von verlassenen Industriebrachen. Der Wechsel von den Jagdversuchen und Träumen der Brüder zum Wissenschaftler erschliesst sich nicht wirklich, gerade noch bei den Brüdern und nach einer kurzen Schwarzblende beim Wissenschaftler. Einzig die Landschaft bleibt, schmutzig, tauend und traurig anzusehen. Alles etwas konfus, aber nicht uninteressant.
Flee von Jonas Poher Rasmussen erzählt nicht nur vom Selbstverständnis als schwuler Mann, sondern auch von dem was Flucht und Gewalterfahrungen mit dem Selbstbild anrichten können. Und da man manche Geschichten nicht einfach mal eben erzählen kann, weil Zuvieles nur in der Erinnerung der Protagonisten lebt, wählt dieser Film den Weg der Verfremdung durch Animation. Was entsteht, ist eine fast spielfilmspannende Lebensgeschichte, von der frühen Kindheit in Afghanistan, Krieg, Verfolgung, Flucht und Verlust. Erzählt von Schleppern, der Ankunft nach langer Odyssee in Dänemark und einer falschen Lebensgeschichte, die als Schutz dienen soll. Aber auch von Zusammenhalt und Versöhnung, nicht zuletzt mit sich selber. Sehr toll.
Kurz und gut
In der Sektion Kurz- und Mittellange Dokumentarfilme gibt es natürlich auch interessantes zu entdecken. How to order online von Julie Ramage. Neun Minuten kurz und schräg! Hände, die aus Plastiktüten, aus Laken, aus altem Stoff lange Lassos knoten. Stimmen, die erklären, dass damit ein Kommunikationssystem von einer Gefängniszelle zur anderen entsteht, mit der kleine Güter ausgetauscht werden; ein Ballett der Finger, visuell spannend.
Mit 30 Minuten eher mittellang ist: Belgrade Forest Incident…and What Happened to Mr. K? von Jan Ijäs. Sehr eigentümliche und eigenwillige Umsetzung zum Verschwinden, zur Ermordung des saudischen Journalisten Khahoggie in der Saudischen Botschaft in Istanbul. Eine Tonkollage der diversen Nachrichtenmeldungen, eine Bildkollage aus Orten, die in Zusammenhang mit dem Fall stehen. Die Bilder, in verschiedenen Formaten, zeigen Orte, an denen nichts zu sehen ist, weil eigentlich auch nichts ans Licht gekommen ist, während der Ton sich in ständig ändernden Variationen zum möglichen Verlauf der Ereignisse überlagert. Eigenwillig aber nicht uninteressant.
Die ersten Festivals, die aufgrund des Virus und der daraus folgenden Kontakt- und Versammlungssperren, abgesagt werden mussten, waren noch zaghaft mit dem Zeigen des Programms im Internet. Mittlerweile ändert sich das stark. Festivalleiter suchen nach Wegen und Möglichkeiten ihre sorgsam ausgewählten Programme doch auf die eine oder andere Art an den Zuschauer zu bringen.
Der schweizer Weg
Das Dokumentarfilmfestival Visions du Réel hätte am 17. April seine 51. Ausgabe starten sollen. Statt aber im schweizerischen Nyon Filme in Kinos zu schauen, stellt das Festival das gesamte Programm online auf seiner Webseite zur Verfügung.
Die 14 internationalen Dokumentarfilme sind vom 25. April bis 2. Mai online zu sehen, die 13 nationalen (also schweizerischen) Dokumentarfilme sind vom 17. bis 29. April online. Die Burning Lights Sektion, mit 15 Filmen, die sich einer neuen, experimentellen Filmsprache bedienen, ist vom 25. April bis 2. Mai online. Und auch die Filme der Regisseurin Claire Denis, der dieses Jahr ein Ehrenpreis zugedacht ist, werden online gezeigt. Wer also so beeindruckende Filme wie Beau travail oder White Material sehen oder wiedersehen möchte, kann das von 17. April bis 13. Juni machen.
Es werden aber nicht nur die Filme für ein hoffentlich grosses, interessiertes Publikum zur Verfügung gestellt, auch die Jury wird ihrer Arbeit nachgehen. Es wird also auch in diesem Jahr prämierte Filme geben. Beides, das Gesehenwerden wie auch der Gewinn von Preisen ist extrem wichtig für die Filmschaffenden und den Fortbestand der Filmindustrie. Das Programm, mit allen Informationen, Trailern und Filmbeschreibungen ist auf der Festivalseite zu finden.
Der österreichische Weg
In Linz hätte vom 21. bis 26. April die 17. Ausgabe des Festivals Crossing Europestattfindensollen. Unter dem Titel: Das wär’s gewesen präsentiert das Festival sein Programm und unter Crossing Europe 2020 Extracts werden ausgewählte Filme auch hier online zur Verfügung gestellt.
Eröffnung anders
Am 21. April wird es ab 20 Uhr live eine virtuelles Opening geben. Festivalleiterin Christine Dollhofer wird Livegäste begrüssen und Michael Pfeifenbergers Dokumentarfilm The Linzer Candyboy, über den israelischen Regisseur Linzer Herkunft, Micha Shagrir, wird in Österreichpremiere gezeigt, gefolgt von Musikvideos diverser Linzer Künstler.
Darüber hinaus wird es auf der Plattform KINO VOD CLUBausgewählte Filme des 2020 Programms ab 21. April für einen Monat zu sehen geben. Nur einer von vielen, aber eindeutig eine Empfehlung:Ivana Cea Groaznica (Ivana die Schreckliche) von Ivana Mladenović, der in Locarno letztes Jahr mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde.
In Linz wird es vorerst keine Preisträger geben, eventuell werden im Herbst, so es dann wieder “echtes” Kino gibt, in den Sektionen Local Artists und Kurzfilm, Preise vergeben.
All diese neuen, alternativen Wege können natürlich ein Filmfestival nicht ersetzen, sie sind ein brauchbares Mittel, um die Filmindustrie am Leben zu halten, um Zuschauer zu halten, oder eventuell sogar neue Zuschauer zu erreichen. Aber ein echter Ersatz für den Austausch zwischen Filmschaffenden untereinander und mit ihrem Publikum könne solche Wege nicht sein.
Trotzdem, wer sich schon immer gefragt hat, wie das wohl ist, 4 bis 5 Kinovorstellungen pro Tag, mehrere Tage hintereinander zu besuchen, kann das ja auf diesem Weg mal testen.