#Locarno75_ Das Wochenende

 

(c) ch.dériaz

 

Wochenendwolken

 

Die Abkühlung hat nicht lange gehalten.
Zum Wochenende, mit noch mehr Leuten in Locarno, brütet wieder eine feuchte Hitze über der Stadt.

 

Väter und Söhne

 

Ein, trotz seiner Schwarzweissbilder, gleissender Film:
A Perfect Day for Caribou von Jeff Rutherford. Ein Film, in dem die Landschaft in all ihrer Weite, trotz engen 4:3 Formats, den Menschen dominiert, ameisenhaft wirken lässt. Zunächst ein Vater, der sich umbringen will, und eine Art Lebensbeichte für seinen, ihm entfremdeten, Sohn auf Band aufnimmt. Doch dann taucht der Sohn auf, begleitet wiederum von dessen kleinem Sohn.
Bei aller Schönheit der Bilder braucht man die monologartigen Dialoge zwischen den Männern, um zu verstehen. Dennoch erzählt, wenn man erstmal weiss, worum es geht, die Bildkomposition alles, was man über ihre Gefühle, ihre Gefühlswelt und ihre Beziehung wissen muss. Sie erzählen von Entfremdung, von Leben, die nicht ideal laufen, von grossen und kleinen Enttäuschungen.
Ein Film wie eine Hemingway Geschichte.

 

Despoten

 

Skaska (Märchen) von Alexander Sokurov fängt ziemlich cool an und enttäuscht dann recht schnell.
Ein schwarz-weiss gezeichneter Wartesaal zum Himmel (oder doch zur Hölle?), in dem multiple Versionen von Hitler, Stalin, Mussolini und Churchill Einlass zu Gott begehren. Sie schwafeln und schwadronieren, ganz in ihren jeweiligen Rollen. Mal reden sie miteinander, mal mit ihren Varianten.
Technisch und bildlich ist das spannend. Die Mischung aus statischer Hintergrundzeichnung und bearbeiteten Realbildern der Diktatoren, all das sieht nach viel Fleissarbeit am Computer aus. Aber es hilft nicht gegen die Langeweile, die sich bald einstellt, weil es einfach keine Entwicklung in der Geschichte gibt. Mehrmals vermeint man, das Ende des Films zu sehen, aber nein. Weder das Crescendo aus wabernder, gesichtsloser Masse, die wie eine Welle die Diktatoren fortzuschwemmen droht, noch der Einlass zu Gott, einer der Churchill-Figuren, unbeirrt geht es weiter.
Als das Ende dann – endlich – da ist, weiss man dafür nicht wieso.

 

(c) ch.dériaz

 

Wenn alle korrupt sind

 

Einer der stärksten Filme bisher ist: Yak Tam Katia? von Christina Tynkevych. Geschichte, Kamera, Spiel, alles greift ineinander und ist als Gesamtheit toll.
Und das, obwohl es weder eine einfache noch eine nette Geschichte ist, die da erzählt wird. Eine junge Unfallärztin, alleinerziehend, lebt auf engstem Raum mit ihrer Tochter, einer dementen Mutter und einer schlechtgelaunten Schwester zusammen. Ein schwieriges Leben, aber als ihre Tochter auf dem Schulweg angefahren wird, gerät das fragile Gleichgewicht komplett aus den Fugen. Ärzte müssen extra bezahlt werden, um das Kind zu behandeln, die Unfallfahrerin ist die Tochter der Bürgermeisterkandidatin, und ein finanzielles Angebot, den Fall nicht vor Gericht zu bringen, wird ihr nahegelegt.
Die Handkamera, ohne zusätzliches Licht, unterstreicht die Nervosität, die über allem liegt. Sie folgt, oder verfolgt die Figuren, bleibt oft hinter ihnen, um dann grazil um sie herumzutanzen. Extreme Unschärfen in der Tiefe unterstreichen zusätzlich die Konflikte, die sich zunehmend um die junge Ärztin bilden. Die Kamera bildet das hektische Tempo bei Einsätzen genauso ab, wie die zunehmende Verzweiflung. Einfach toll gemacht.

 

Gewitter

 

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Am Ausgang dann, Regen, Gewitter, schwarzer Himmel.
Die Sommerkleidung, die bis eben noch fast zu viel war, ist jetzt deutlich zu wenig. Gegen 21 Uhr ist der Himmel zwar immer noch schwarz, aber es tröpfelt nur noch. Die Piazza füllt sich, Mitarbeiter wischen die Stühle trocken. Der offizielle Teil findet allerdings im Fevi statt, mit Verspätung, was gar nicht gut ankommt. Ebensowenig, dass sich dort alle extra viel Zeit lassen, immerhin tröpfelt es draussen hin und wieder, Blitze zucken über den Himmel und einzelne Windböen drohen.

Truckerin

 

Endlich ist es doch so weit, Paradise Highway von Anna Gutto fängt an.
Der Film meint es gut, bleibt aber letztlich zu amerikanisch in seiner Dramaturgie und Figurenzeichnung, um wirklich zu begeistern. Juliette Binoche, ungeschminkt als Truckerin, mit Herz auf dem rechten Fleck und einer belastenden Vergangenheit, ein fieser Mädchenhändlerring, Morgan Freeman als eigentlich pensionierter FBI Mann, der dem Neuling zeigt, wie man Recht beugt, aber dabei moralisch siegt, und das kleine, starke Mädchen, das aus den Klauen der Menschenhändler gerettet wird. Dazu weite amerikanische Highways, coole Trucks, und neben Binoche weitere Truckerinnen, die natürlich zur Stelle sind, wenn es darauf ankommt.
Nicht schlecht, aber auch nicht so super. Egal, mit der Kulisse, den Regentropfen und den Blitzen macht es dann doch einen ganz schönen Samstagabend.

 

 

Leinwand von hinten (c) ch.dériaz

 

Kinohunger

 

Die Vorstellungen sind allesamt gut besucht, voll bis ausverkauft. Selbst gestern Abend, bei bedenklichem Wetter, waren 2.300 Menschen auf der Piazza und 3.000 zusätzlich im Fevi.
Es mag ein bisschen an der Festivalsituation liegen, dass wirklich alle Arten von Filmen zu allen Uhrzeiten so gut besucht sind. Aber Verantwortliche, also Kinobetreiber, Verleiher, sollten diesen Schwung mitnehmen. Zuschauer, die bei Festivals interessante Filme sehen, gehen nach Hause, erzählen davon, machen sozusagen gratis Werbung, nur um dann festzustellen, dass viele dieser tollen Filme  nirgendwo zu sehen sind.
Das ist sehr schade. Es besteht ein Markt dafür, man muss ihn nutzen.

 

Schülerproteste

 

Der thailändische Film Arnoln pen nakrian tuayang (Arnon, der Musterschüler) von Sorayos Prapapan ist ein höchst politischer Film. Korruption, Proteste, die hart niedergeschlagen werden, und traditionelle Regeln treffen im Mikrokosmos einer Schule aufeinander. Während der Schulleiter extra stolz ist, dass Arnold bei einer akademischen Olympiade eine Medaille gewonnen hat, führt die Lehrerin für Bürgerrechte ein restriktives Regime, in dem sie auch gerne zum Rohrstock greift. Persönliche Freiheit, Entscheidungen, die zu treffen sind, und immer wieder Korruption und übersteigerte Tradition führen auf der Strasse und in der Schule zu harschen Protesten. Inhaltlich eine spannende, politische Geschichte, filmisch etwas langatmig und hölzern.

 

Die Macht der Geschichten

 

Anlässlich der 20-jährigen Mitgliedschaft der Schweiz in den Vereinten Nationen, war UN Botschafter Maher Nasser bereits gestern auf der Piazza Grande. Dort betonte er schon, wie wichtig es ist, Themen wie Menschenhandel ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Bei einem Publikumsgespräch heute unterstreicht Nasser das Gewicht, das Filme, als heutige Geschichtenerzähler, haben, wenn es darum geht, komplexe Themen an die Öffentlichkeit zu bringen. Geschichten können da ins Bewusstsein gelangen, Aufmerksamkeit schaffen und Veränderungen anstossen, wo Daten, Zahlen und Fakten nur eine Art Hintergrundrauschen erzeugen.

 

UN Botschafter Nasser und Giona A. Nazzaro

 

 

Ausdrucksformenvielfalt

 

Das Kurzfilmprogramm der vielen Formen und Formate an diesem Sonntag.
Aus einer Übung mit 16 mm-Kamera entsteht Serafina von Noa Epars und Anna Simonetti. Dazu eine Westernbildästiethik und eine zügige Montage, ergibt einen interessanter Versuch, der aber nicht komplett gelungen ist.

Quadratisches 1:1 Format gibt es in At little wheelie three days ago von Andrew Stephen Lee. Interessanter als das Bildformat sind die menschlichen Interaktionen. Ein Vater, der einen Internetclip für bare Münze nimmt, und loszieht, seine, sich vermeintlich in Gefahr befindliche, Tochter zu retten. Am Ende drischt ein wütender Mob auf das Auto des vermuteten Aggressors ein. Das Format bringt der Geschichte allerdings keinen wirklichen Mehrwert, ist aber als Fingerübung ganz nett. Richtig toll ist: Fairplay von Zoel Aeschbacher. Auch hier geht es um menschliches (Fehl)Verhalten. Drei verschiedene Szenarien mit völlig schwachsinnigen Wettbewerben werden parallel montiert. Die Situationen beschleunigen, und laufen immer mehr aus dem Ruder, bis jede der drei in einem grausigen Höhepunkt enden. Idee, Kamera und Schnitt in perfekter Einheit.

Luna que se quiebra sobre la tiniebla de mi soledad von Lucia Mariani ist ein No-Budget Projekt, was an sich erstmal nichts Schlechtes ist. Leider fällt es schwer, der Geschichte zu folgen, die auch mit diversen visuellen Spielereien aufwartet, deren Zweck innerhalb des Films sich nicht erschliessen.

Big bang von Carlos Segundo ist eine böse Geschichte. Der Kleinwüchsige Chico, der in Öfen steigt, um sie zu reparieren (oder um sie zu zerstören?), entkommt, im Kofferraum eines Autos reisend, als einziger lebend einer Massenkarambolage. Im Krankenhaus trifft er auf eine schwarze Hausangestellte, die ihren Job verlieren wird, weil sie bei ihrem Kind in der Klinik bleiben will. Zwei Ausgegrenzte der Gesellschaft und ein Big Bang. Kurz und böse.

 

Vorführkabine
(c) ch.dériaz

 

Geschmackssachen

 

Zur Einführung von Bianca Lucas’ Love Dog erzählt der künstlerische Leiter Nazzaro, wie einhellig sie diesen Film in der Auswahl toll und bewegend fanden.
Das klingt vielversprechend.
Der Film allerdings erweist sich als sehr sperrig.
Ein junger Mann fährt scheinbar ziellos durch die Gegend, irgendetwas bedrückt ihn. Aber was? In sehr dunklen Bilder, bei denen auch nicht immer klar ist, wo die Schärfe liegen soll, erfährt man ganz langsam, dass sich seine Freundin umgebracht hat. Er trauert, er leidet, manchmal trifft er Freunde, oder redet mit Fremden in Internetforen. Kurze Einstellungen zeigen die Freundin. Aber so wirklich schafft man nicht einzusteigen in die Geschichte. Gar nicht so wenige Zuschauer verlassen vorzeitig den Saal. Beim Publikumsgespräch im Anschluss klärt sich wenigstens, warum der Film oft so rau und unfertig wirkt. Gedreht wurde während des Lockdowns, mit einem Minimalteam bestehend aus Regie, Kamera und dem (Laien)Darsteller. Auch ein Drehbuch im eigentlichen Sinn gab es nie, nur die Idee, dass die Figur mit ihrer Trauer umzugehen hat. Nun gut, dafür ist es nicht schlecht geworden, aber, dass das die Auswählenden des Festivals so umgehauen haben soll, ist schwer zu verstehen.

 

Mehr Gewitterwolken
(c) ch.dériaz

Und schon wieder ist der Himmel tief dunkel schwarz beim Rauskommen aus diesem dunklen Film.
Das sieht sehr schlecht aus für die Piazza heute Abend; bei allem Optimismus.