Locarno 2020 Es geht weiter

Neue Maske kein Abstand
(c) ch.dériaz

 

 

Die Zukunft der Vergangenheit des Kinos

 

 

17 Uhr Roundtable Diskussion, zum Thema: Wie umgehen mit dem filmischen Erbe, nur restaurieren und aufbewahren oder auch streamen?
Angekündigt sind: Frédéric Maire (Cinémathèque Suisse), Emilie Cauquy (Cinémathèque Française/HENRI), Penelope Bartlett (The Criterion Channel), Geremia Biagiotti (Intramovies)  ·  Moderated by Nick Vivarelli (Variety)

 

Streaming geht noch nicht
(c) ch.dériaz

Theoretisch sollten die Diskussionen direkt auf der Webseite des Festivals laufen. Praktisch gibt es um 17 Uhr nur den Hinweis, dass es derzeit kein Streaming gibt. Falsch, denn auf dem Locarno Festival Youtube Kanal läuft die Diskussion, allerdings mit soviel Bild-Ton Versatz, dass das wirklich keinen Spass macht.

Nach etwa 10 Minuten läuft dann auch auf der Festivalwebseite die Diskussion, ohne Versatz!
Alle Cinemathek Verantwortlichen oder Plattformbetreiber sind sich einig, historische/klassische Filme nur im Vertrauen auf cinephile Kinobesucher aufzubewahren, ist weder zeitgemäss, noch angebracht. Und alle haben in letzter Zeit gute Erfahrungen gemacht mit ihren diversen Modellen dieses filmische Erbe online an Zuschauer zu bringen. Einig sind sich aber auch alle, dass das langfristig nur mit dem einen oder anderen Bezahlmodell gehen wird. Es ist schon jetzt nicht in allen Ländern und in allen Cinematheken gewährleistet, dass Filme adäquat aufbewahrt und restauriert werden. Dieses Filmerbe ist aber überall kulturell enorm wichtig und darf nicht einfach irgendwo vergessen werden.

 

Roundtable FilmErbe
Roundtable FilmErbe
(c) ch.dériaz

 

 

Sommerkino

 

Zurzeit ist es in Wien auch nicht weniger heiss als in Locarno und so stellt sich die hier wie da die Frage: Eis essen oder Film schauen? Schwimmen oder schreiben?
Während also draussen die Strasse vor sich hin köchelt und die Wiener Tauben gurren – statt pfeifender Locarneser Mauersegler – drinnen die letzten Kurzfilme anschauen; Eis geht schliesslich immer.
Seit heute sind alle Kurzfilme der Pardi di Domani online abrufbar.

 

Nochmal einige FilmTipps

 

Mit 40 Minuten der längste und thematisch, wenn man so zum Mont Blanc schaut, der aktuellste Film ist Icemeltland Park von Liliana Colombo (GB/I).
Eine fiktive Vergnügungsparkattraktion: schmelzenden, bröckelnde Gletscher schauen und mit dem Handy filmen gehen. Auf der Tonspur, fröhliche Kommentare bei jedem Abbruch. Im Bild Gletscher, die Teile ihres Eis ins Meer werfen. Im Verlauf des Films kommen die Auswirkungen, wie Überflutungen, riesige Flutwellen etc dazu, in Bildteilung in direkten Bezug zum Gletscher gebracht. Eine Science-Fiction-Experimental Dokumentation, die Spass macht und trotzdem mehr als nachdenklich stimmt. Der Film nutzt die volle Kraft der Montage und Kollage!

Off Texte: für und wider

 

Auffallend viele Filme dieses Jahr arbeiten mit Off Texten, das geht manchmal gut, meistens aber entlarvt der Film damit seine Mangel an visueller und narrativer Kraft.

Sehr gut funktioniert das Konzept bei Burnt. Land of Fire (Grigio. Terra bruciata) von Ben Donateo (CH). Unter der sehr schönen und poetische Dokumentation über den Verfall eines Orts, liegt ein geflüsterter, fast gehauchter Text, der die schönen und quadratischen Bilder sanft unterstützt. Die Erklärung, das Verständnis geht aber immer von den Bildern aus, wäre auch ohne den Text klar verständlich. Wunderbar ins Bild gesetzt der malerische Verfall der Häuser, die flirrende Luft und der Dorfhund, der auch alt und verfallen zu sein scheint. Ein visueller Höhepunkt: die Gesichter der alten Dorfbewohner, die still in die Kamera schauen und dabei immer aussehen, als würden sie gleich zu reden anfangen, aber, dann, nein, doch nicht.


Der serbische Film How I Beat Glue and Bronze (Kako sam pobedio lepak i bronzu) von Vladimir Vulević, wählt auch Off Texte, während in der Handlung des Films eigentlich nicht gesprochen wird. Ein seltsamer Mann, lange Passagen, in denen er, in stets düsteren Bildern, seinem Alltag nachgeht, aufstehen, dem Nachbarn die Zeitung bringen, zum Friedhof und zur Arbeit gehen. Die Texte dazu sind etwas zeitverschobene Zeugnisse seines Daseins, seines Lebens, dessen was man von ihm weiss oder zu wissen glaubt. Das funktioniert einigermassen.

glue_and_bronze
glue_and_bronze
(c) Vladimir Vulević

 

In The End of Suffering (A Proposal) von Jacqueline Lentzou (Griechenland) funktioniert das ganz und gar nicht.
Eine verzweifelte junge Frau, in der U-Bahn, weinend, rennend, durch das analoge Filmmaterial entstehen sehr schöne und organische Bilder, man weiss zwar nicht was passiert, aber man erkennt die Verzweiflung und schaut gespannt zu. Aber dann mischt sich das Universum ein, in Form eines Off (Telefon) Dialogs, allerdings zieht es das Universum vor nur in Untertiteln zu reden. Ab da reihen sich zwar weiterhin interessante Filmbilder unter den Off Dialog, aber die illustrieren eher symbolhaft den Text, dadurch geht die Einheit des Films komplett verloren.
Jung und verzweifelt

 

Spotted Yellow (Zarde khaldar) von Baran Sarmad (Iran).
Auch hier eine verzweifelte junge Frau, diesmal ohne off Texte, eigentlich überhaupt ohne jeglichen Dialog.
Die Frau mit Hang zu gelben Accessoires und einem gelblichen Mal im Gesicht, driftet langsam in eine schräge, eigene Welt ab. Wunderbar versponnen, ganz reduziert aber toll gespielt, eine schöne Kamera und die Sprache, wenn überhaupt, nur als Atmo vorhanden.

spotted_yellow
spotted_yellow
(c) Baran Sarmad


Black Hole (Trou Noir) von Tristan Aymon (CH)
Ein Sommertag, eine Sommernacht, eine Bande von Jungs ausgelassen skatend, rauchend, feiernd. Eine hermetische Gruppe, doch für einen soll es schon am folgenden Tag in ein Internat gehen. Ein dunkles Loch, aus dem er ein Tier gehört haben will, lenkt ihn von seiner Grübelei ab und zeigt einen metaphorischen Neuanfang, der in den meisten Enden steckt. Die Bildersprache übersetzt sehr gut den jeweiligen Gemütszustand der Gruppe und des Einzelnen.
Einfach nur schön

 

A Boring Film (Ekti ekgheye film) von Mahde Hasan (Bangladesch)
Ein Kameraspiel in schwarz-weiss, eine Übung in Bildkomposition, Tiefe, Schärfe, Unschärfe, Vorder- und Hintergrund. Ein Mann, Räume innen und aussen, Geräusche, Lärm, jedes Bild einfach nur schön, das Auge folgt, braucht weder Geschichte noch Erklärung; alles andere als langweilig, und auf einer grossen Leinwand sicher noch spannender anzuschauen. Die Beschreibung des Films, nach der es um Selbstquarantäne und Schlaflosigkeit geht, erschliesst sich nicht zwingend, ist aber auch nicht notwendig.



The Unseen River (Giòng sông không nhìn thấy) von Pham Ngoc Lan (Vietnam/Laos)
Von Anfang an betört der Film mit Verwirrung: bewegt sich das Boot, oder der Motorroller, was ist Innen, was Aussen, Natur, oder menschgebaut? Im Verlauf scheint sich auch die Zeit der Einordnung zu entziehen. Aber alles bleibt in einem harmonischen Fluss, dem man gerne folgt, ohne ihn wirklich zu verstehen.
Surreale Animation

 

O Black Hole! von Renee Zhan (GB)
Grossartiges animiertes Musical, über Liebe, Vergänglichkeit, Loslassen und die Freiheit der Einzigartigkeit. Sensationelle Mischung diverser Animationsarten, Zeichnung und Stopmotion mit Plastilinfiguren. Super.

 

Push This Button If You Begin to Panic von Gabriel Böhmer (GB/CH)
Wegen eines Lochs im Kopf geht ein Mann zum Arzt, um ein MRT machen zu lassen. Dort geschieht allerlei Obskures und Verträumtes, und so ein  MRT ist auch komplexer als gedacht. Verschiedene Animationstechniken und randvoll mit skurrilen Idee.

Locarno 2020 – eine Alternative

Leinwand, Laptop Pardokuh und Wien
Leinwand, Laptop, Pardokuh und Wien
(c) ch.dériaz

Hätte, würde, sollte, könnte….
2020 ist ein Jahr für Grammatikfans!

 

Am 5. August um 21:30 hätte auf der Piazza Grande in Locarno der Eröffnungsfilm beginnen sollen, es hätte vorher eine kleine, vermutlich launig-feurige Rede von Festivalpräsident Marco Solari gegeben und die künstlerische Leiterin Lili Hinstin wäre, mit neuer Frisur, in ihr zweites Jahr in Locarno gestartet. Mit Glück wäre es eine dieser schönen lauen Tessiner Nächte gewesen und mit Pech wären einige der Plastikstühle unter lautem Krachen unter jemandes Hintern zusammengebrochen.
Dieses Jahr also nicht, weil dieses Jahr alles, was Festivals, was Kultur angeht, anders funktioniert.

Locarno_Secret_screenings Lili Hinstin
Lili Hinstin
©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Absage, Online, Online-Live Kombination

Das Festival von Locarno war zunächst komplett abgesagt worden, dann hiess es, die gesamten Kurzfilme würden online gezeigt und auch die Pardinos würden von der Jury vergeben. Ein bisschen später kamen Filme der Open Doors Sektion – dieses Jahr weiter mit Filmen aus Süd-Ost Asien – dazu. Es folgte die Entscheidung, die Hauptpreise an Filme für Übermorgen, Filme also, die wegen des dämlichen Virus nicht fertiggestellt werden konnten, aber schon so weit fortgeschritten sind, dass sie sich einer Jury präsentieren können.
Und dann, vor gar nicht so langer Zeit, fiel die Entscheidung, das abgespeckte, alternative Programm in drei Kinos in Locarno vor Publikum zu zeigen, zusätzlich zum Onlineangebot.
Das Einzige das es dieses Jahr gar nicht geben wird, sind Vorstellungen auf der Piazza Grande.

Locarno für alle

Wer sich also die Mühe macht, auf die Festivalseite zu gehen, findet dort alle Angaben wie und wo, kostenfrei, die Kurzfilme der Pardi di Domani zu sehen sind, oder kann sich Lang- und Kurzfilme aus Süd-Ostasien anschauen oder in der Sonderausgabe A Journey in the Festival’s History ausgewählte Filme der letzten Jahre entdecken oder wiedersehen. Einzig die von Lili Hinstin persönlich ausgesuchten Secret Screenings werden tatsächlich nur in Locarno zu sehen sein, dort heisst es dann, Karte besorgen, ins Kino setzen und sich überraschen lassen.
Aber auch Interviewrunden und Gespräche zu filmrelevanten Themen werden in der Zeit vom 5. bis 15. August online zur Verfügung stehen.
So kann dieses Jahr tatsächlich jeder sich ein bisschen Locarno nach Hause holen, und Filme sehen, die es sonst nicht so leicht zu sehen gibt.

Festival_Leitung_©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Festival_Leitung_
©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Filme für die Zukunft

Von den zwanzig Filmen –10 nationale und 10 internationale –, die für die Hauptpreise zur Verfügung stehen, wird man als Zuschauer nichts zu sehen bekommen, schliesslich sind die meisten gerade mal angefangen, angedacht, ein bisschen gedreht oder wurden kurz vor dem geplanten Drehbeginn ausgebremst.
Spannend ist diese Variante auf jeden Fall.
Und auf einige der Filme kann man ganz gespannt sein, wie zum Beispiel Cidade;Campo von Juliana Rojas, die mit dem fabelhaften Werwolf Film
As Boas Maniera (Good Manners) begeistert hat. Oder auch der neue Film der Anthropologen Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor De Humani Corporis Fabrica, die mit Leviathan den FIPRESCI Preis der internationalen Filmkritik gewonnen hatten. In der nationalen Auswahl ist von Unrueh, dem nächste Projekt von Cyril Schäublin, nach seinem schräg-spannenden Erstling Dene wos guet geit einiges zu erwarten.

Die Juryentscheidungen werden dann am 15. August, am letzten Festivalabend bekannt gegeben.

Pardo im Regen
Pardo im Regen
(c) ch.dériaz

Die Eröffnungszeremonie ist übrigens auch Live online zu sehen:
Am besten also den Computer ins Freie tragen, bequem hinsetzen und Getränke zur Hand haben. Für das ultimative Locarnogefühl: bei jedem Wetter raussetzen, und dann viel Spass bei Locarno 2020.