#Locarno75 Die Eröffnung

 

Locarno75_PardoKuh zur Stelle
(c) ch.dériaz

 

 

Wenn die Zukunft des Kinos 75 wird

 

Von Anfang an hat sich das Locarno Film Festival das Neue, das Andersartige, das Anspruchsvolle auf die Fahnen geschrieben. Von Anfang an war die Idee, grosses Kino zu zeigen, ohne die künstlerischen und intellektuellen Werte dabei zu verlieren.

Seit 75 Jahren gelingt das jeden Sommer aufs neue; ein A-Festival, das immer ein wenig anders ist als die anderen, und sich trotzdem nicht nur an Fachpublikum richtet. So treffen zukünftige Geheimtipps auf mögliche Blockbuster, Filme aller Genres, aus allen Ländern, messen sich in den diversen Kategorien und hoffen auf die begehrten Leoparden.
Auf der Piazza Grande müssen Filme vor einer der kritischsten Jurys überhaupt bestehen: dem Publikum; da sind schon grosse Namen preislos abgezogen, während scheinbar Unscheinbares Triumphe feierte.

 

Neustart mit 75

 

Giona A. Nazzaro (c) ch.dériaz

Für den künstlerischen Leiter Giona A. Nazzaro ist diese Jubiläumsausgabe so etwas wie die erste Ausgabe, ein Neustart, ein Wiederaufstehen nach den beiden letzten Jahren, die wegen der Pandemie irgendwie mit halber Kraft liefen.
Ein Neustart, der aber nicht versucht, andere Wege zu gehen, sondern der weiterhin das Kino in seiner Vielfalt zelebrieren will, und dabei darauf achtet, Neues zu integrieren. Neue Techniken, neue Sichtweisen, aber auch neues, und auch jüngeres Publikum, für Film und Film im Kino zu gewinnen.

Festivalpräsident Marco Solari unterstreicht diesen Geist des Aufbruchs, der immer auch ein Dialog mit dem Vergangen sein muss.
Wo kann das besser gelingen als im sommerlich-sonnigen Locarno, mit mehr Sponsoren im Rücken, mehr staatlicher (Film)Förderung und dem Zusammentreffen von Künstlern, Zuschauern und Urlaubern auf kleinstem Raum.

 

 

 

Warten (c) ch.dériaz

 

 

Action auf der Piazza

 

Vor dem Eröffnungsfilm ein erster Kurzfilm, aus einer Reihe mit dem hübschen Namen: „Postkarten aus der Zukunft“.
Der Kurzfilm von Natalka Vorozhbyt zeigt, wie das Trauma des Krieges, auch im Exil, weiter Macht über die Menschen hat. Wenn einfache, alltägliche Geräusche zu Angst und Panik führen, und der Abbruch eines Hauses Sirenengeheul und Bombenlärm zurückbringt. Der Film bewegt und macht nachdenklich.

Angesichts der aktuellen politischen Lage mag ein Film wie Bullet Train von David Leitch, der Gewalt geradezu zelebriert, zynisch wirken.
Davon abgesehen ist das blutrünstige Rachespektakel absolut unterhaltsam.
Sofern man sich an den Blutfontänen, der lauten Musik und der wilden Erzählstruktur nicht stört. Triaden, Auftragskiller, offene Rechnungen, Familienkonflikte und ein Auftragskiller mit Selbstzweifeln, dazu ein japanischer Hochgeschwindigkeitszug, eine Konstellation, die immer wieder schrägen Wendungen bringt. Laut, blutig, ein bisschen albern und sehr unterhaltsam.
Ob es wegen des Filmkrachs nur nicht zu hören war, aber es scheint, dass keine Stühle während dieser ersten Vorstellung zerbrochen sind.

 

 

Maskenfreiheit

 

(c) ch.dériaz

 

Die Pandemie ist für das Festival beendet, oder zumindest wirkt es so.
Keine Masken, keine festen Sitzplätze, Kinos voll. Immerhin ist die Reservierung von Plätzen geblieben, so könnte sich das Gedrängel an den Eingängen eventuell in Grenzen halten. Die nächsten 10 Tage werden es zeigen.

Locarno 2020 – eine Alternative

Leinwand, Laptop Pardokuh und Wien
Leinwand, Laptop, Pardokuh und Wien
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Hätte, würde, sollte, könnte….
2020 ist ein Jahr für Grammatikfans!

 

Am 5. August um 21:30 hätte auf der Piazza Grande in Locarno der Eröffnungsfilm beginnen sollen, es hätte vorher eine kleine, vermutlich launig-feurige Rede von Festivalpräsident Marco Solari gegeben und die künstlerische Leiterin Lili Hinstin wäre, mit neuer Frisur, in ihr zweites Jahr in Locarno gestartet. Mit Glück wäre es eine dieser schönen lauen Tessiner Nächte gewesen und mit Pech wären einige der Plastikstühle unter lautem Krachen unter jemandes Hintern zusammengebrochen.
Dieses Jahr also nicht, weil dieses Jahr alles, was Festivals, was Kultur angeht, anders funktioniert.

Locarno_Secret_screenings Lili Hinstin
Lili Hinstin
©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Absage, Online, Online-Live Kombination

Das Festival von Locarno war zunächst komplett abgesagt worden, dann hiess es, die gesamten Kurzfilme würden online gezeigt und auch die Pardinos würden von der Jury vergeben. Ein bisschen später kamen Filme der Open Doors Sektion – dieses Jahr weiter mit Filmen aus Süd-Ost Asien – dazu. Es folgte die Entscheidung, die Hauptpreise an Filme für Übermorgen, Filme also, die wegen des dämlichen Virus nicht fertiggestellt werden konnten, aber schon so weit fortgeschritten sind, dass sie sich einer Jury präsentieren können.
Und dann, vor gar nicht so langer Zeit, fiel die Entscheidung, das abgespeckte, alternative Programm in drei Kinos in Locarno vor Publikum zu zeigen, zusätzlich zum Onlineangebot.
Das Einzige das es dieses Jahr gar nicht geben wird, sind Vorstellungen auf der Piazza Grande.

Locarno für alle

Wer sich also die Mühe macht, auf die Festivalseite zu gehen, findet dort alle Angaben wie und wo, kostenfrei, die Kurzfilme der Pardi di Domani zu sehen sind, oder kann sich Lang- und Kurzfilme aus Süd-Ostasien anschauen oder in der Sonderausgabe A Journey in the Festival’s History ausgewählte Filme der letzten Jahre entdecken oder wiedersehen. Einzig die von Lili Hinstin persönlich ausgesuchten Secret Screenings werden tatsächlich nur in Locarno zu sehen sein, dort heisst es dann, Karte besorgen, ins Kino setzen und sich überraschen lassen.
Aber auch Interviewrunden und Gespräche zu filmrelevanten Themen werden in der Zeit vom 5. bis 15. August online zur Verfügung stehen.
So kann dieses Jahr tatsächlich jeder sich ein bisschen Locarno nach Hause holen, und Filme sehen, die es sonst nicht so leicht zu sehen gibt.

Festival_Leitung_©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Festival_Leitung_
©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Filme für die Zukunft

Von den zwanzig Filmen –10 nationale und 10 internationale –, die für die Hauptpreise zur Verfügung stehen, wird man als Zuschauer nichts zu sehen bekommen, schliesslich sind die meisten gerade mal angefangen, angedacht, ein bisschen gedreht oder wurden kurz vor dem geplanten Drehbeginn ausgebremst.
Spannend ist diese Variante auf jeden Fall.
Und auf einige der Filme kann man ganz gespannt sein, wie zum Beispiel Cidade;Campo von Juliana Rojas, die mit dem fabelhaften Werwolf Film
As Boas Maniera (Good Manners) begeistert hat. Oder auch der neue Film der Anthropologen Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor De Humani Corporis Fabrica, die mit Leviathan den FIPRESCI Preis der internationalen Filmkritik gewonnen hatten. In der nationalen Auswahl ist von Unrueh, dem nächste Projekt von Cyril Schäublin, nach seinem schräg-spannenden Erstling Dene wos guet geit einiges zu erwarten.

Die Juryentscheidungen werden dann am 15. August, am letzten Festivalabend bekannt gegeben.

Pardo im Regen
Pardo im Regen
(c) ch.dériaz

Die Eröffnungszeremonie ist übrigens auch Live online zu sehen:
Am besten also den Computer ins Freie tragen, bequem hinsetzen und Getränke zur Hand haben. Für das ultimative Locarnogefühl: bei jedem Wetter raussetzen, und dann viel Spass bei Locarno 2020.