# Solothurn_2021 Zweiter Teil

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Weitere Filme aus Solothurn

Die neu geschaffenen Sektion Oper Prima hat alle Genres, alle Themen, alle Erzählweisen abgedeckt. Fast genau die Hälfte der Filme wurden von Regisseurinnen gemacht.
Hier also die in der zweiten Festivalwoche gelaufenen Filme der Sektion.

 

Fluchten

Das Thema Flucht ist in den Medien allgegenwärtig.
Fliehen kann sich vielfältig äussern, als Flucht vor Gewalt, als Flucht vor psychischen Belastungen, als Flucht vor der Realität. Flucht als Filmthema bietet sich also an.

Miraggio
von Nina Stefanka
Flüchtling, grösstenteils aus Mali, gestrandet in Italien. Sie leben auf der Strasse, in Asylunterkünften oder in windigen Zelten. Die Aussichten auf ein wirklich würdevolles Leben scheint für alle schlecht. Selbst diejenigen, die einen Aufenthaltstitel bekommen, finden kaum Arbeit und erst recht keine Arbeit, von der sie leben und Geld nach Hause schicken können. Dazu kommen die völlig undurchsichtigen juristischen Vorschriften, für die man entweder Beamter oder studierter Jurist sein muss, um sie zu durchblicken. Wie Schatten streifen diese Männer durchs Land, voller Hoffnungen, voller Heimweh und fast ohne Aussicht auf Erfolg.

Réveil sur Mars
von Dea Gjinovci
Eigentümlich, aber nicht uninteressant. Der Film geht einem nicht unbekannten, aber unerforschtem Phänomen nach: merkwürdigen Fällen von plötzlichem Koma bei jungen Flüchtlingen. Von den vier Kindern einer Kosovarische Roma Familie sind gleich zwei, nämlich die beiden älteren Schwestern, in diesen dornröschenhaften Zustand gefallen. Und während die Eltern bangen und alles versuchen, in Schweden ein Aufenthaltsrecht zu bekommen, und sich dabei um die beiden schlafenden Mädchen kümmern, driftet der jüngste Bruder in einer Art von Phantasiewelt ab, in der er seine Ängste, Traumata und Schuldgefühle verarbeitet, auslebt. Diese Phantasiewelt bildet den erzählerischen Rahmen, gibt dem Dokumentarischen eine interessante Variante und dem Film Leichtigkeit.

 

 

Kämpferische Frauen

 

 Salvataggio
von Floriane Closuit
Ein gefilmtes Tagebuch, ebenso ungeschliffen wie privat. Die Regisseurin dokumentiert über mehrere Jahre ihre MS Erkrankung, oder eher ihren Umgang damit. Die Kamera richtet sie oft auf sich selbst, spricht mit sich, über sich, aber sie findet auch Bilder, die ihre Situation, ihre Stimmungen auf einer abstrakteren Ebenen darstellen. Die zentrale Aussage ist nicht Mitleid oder gar Selbstmitleid, sondern eher unbändige Wut, zusammengefasst in einem wiederkehrenden Satz: MS ist eine Scheiss-Krankheit. Das Bildformat wechselt immer wieder von 4.3 auf 16:9 und zurück, und trotzdem schafft es der Film eine Einheit zu bilden, das Ergebnis ist stark und doch so roh, intim und schonungslos wie ein persönliches Tagebuch nun mal ist.

 

Amazonen einer Grossstadt
von Thaïs Odermatt
 Auf der Suche nach der, verlorengeglaubten, inneren Amazone findet die Regisseurin im Berliner Grossstadtdschungel starke, selbstbewusste, kämpferische Frauen. Keine Abziehbilder, keine Stereotypen. Eine DJane, eine MMA Kämpferin, eine kurdische Widerstandskämpferin, verschiedene Schicksale, Hintergründe und doch eint sie der Wille sich und ihre Ideen, Ideale, Lebensformen im Alltag durchzusetzen. Strukturiert mit Kindheitsfilmen der Regisseurin, Archivmaterial der Protagonistinnen und Foundfootage-Schnipseln entsteht eine mitreissende, mutmachende Dokumentation.

 

 

Zusammenleben

Das Ende der Unschuld
von Daniel Best Arias
Alkohol, Drogen und Sex mit der besten Freundin und deren Freund und dann eine Art Filmriss, ein schnelles Zurückspulen, viel Bewegung und Unruhe im Bild. Und dann, ein Zeitsprung, ab dem aber alles, was passiert und passiert ist, fast nur noch über Dialoge vermittelt wird. Dialoge, die manchmal so hektisch werden, dass ihr Inhalt zu atmosphärischem Hintergrundrauschen wird. Das hilft nicht beim Folgen der Geschichte, es erzeugt allerdings das Chaos, in dem sich die Protagonisten ganz eindeutig befinden. Ein unruhiger Film, der etwas ratlos macht.

Wild – Jäger und Sammler
von Mario Theus
Archaische Bergwelten, in Graubünden, im Wallis, in Nidwalden, in der Bauern, Jäger, eine Wildhüterin, aber auch Tierfilmer, alle in auf die eine oder andere Art, in Dialog mit der Tierwelt stehen. In beeindruckenden Bildern erzählt der Film dieses Zusammenspiel von Mensch und Tier, vom Jagen und vom (Bilder)Sammeln, vom Respekt vor der Natur und der Kreatur, aber er macht auch ganz klar:
Wer Tiere essen will, muss Tiere töten.
Ein wenig zu lang ist der Film insgesamt, irgendwann wiederholen sich die Szenen und – aber das ist wie immer Geschmackssache – weniger Musik hätte auch nicht geschadet.

 

Zum Schluss

Die 56. Schweizer Filmtage in Solothurn gehen zu Ende.

Eine komplette online Ausgabe, die es Zuschauern aus der Schweiz ermöglichte, das heimische Filmschaffen vom Sofa aus anzuschauen. Ob die Jurys vom Sofa, vom Schreibtisch oder in einem leeren Kino geschaut haben, wird wohl nicht endgültig enthüllt werden. Ihr Wahl aber natürlich schon:

Prix de Soleure:   Andrea Štaka für Mare
Prix du Public:   Gitta Gsell für Beyto
Opera Prima:     Stefanie Klemm für  Von Fischen und Menschen
und eine lobende Erwähnung geht an
Daniel Kemény für sòne

 

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Der Schweizer Film hat einmal mehr gezeigt wie viele Gesichter er hat, wieviele Sprachen – nicht nur die Landessprachen – wieviele Themen und Ausdrucksformen möglich sind.
So wichtig es ist, dass Festivals im Moment alternative Ausspielwege finden, so wenig zukunftsträchtig ist das Online-Kino, vor allem, wenn man die gesamte künstlerische Bandbreite der Kamera und des Tons geniessen will. Es geht nichts über einen dunklen Kinosaal, eine gute Projektion und anschliessend ein gutes Filmgespräch. Es heisst also warten auf das Öffnen der Kinos und dann auf die vielen tollen Schweizer Filme.

#FilmFestival Solothurn 55_1

                                   Die 55. Solothurner Filmtage

 

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Wechsel an der Spitze

Schweizer Filmfestivals haben immer etwas Politisches, das ist auch in Solothurn
nicht anders. Und obwohl es „nur“ um den Schweizer Film geht, sind die politischen Überlegungen, die bei der Eröffnung zu hören waren, alles andere als nur lokaler Natur.
Von Veränderung über die Ränder war zu hören, vom Lernen und Kennenlernen, besonders des und durch das Andersartige. Am launigsten und frechsten war dabei Bundesrat Alain Berset, der für Kultur zuständige Minister. Er hatte definitiv Lacher und Applaus auf seiner Seite.

 

Anita Hugi_Festivalleiterin 2.v.l.
Anita Hugi_Festivalleiterin 2.v.l. (c) ch.dériaz

Aber auch die neue künstlerische Leiterin, Anita Hugi, die nach Seraina Rohrer die Filmtage übernommen hat, wünscht sich für ihr Festival Dialog und Vielschichtigkeit, einen Austausch, der, ganz selbstverständlich in der Schweiz, mehrsprachig stattfinden soll und kann:  «Film verbindet und ermöglicht Tiefgang. Ich freue mich auf ein mehrsprachiges, engagiertes und offenes Festival».
Solothurn bleibt also aufmüpfig, bleibt in weiblicher Hand und bietet in dieser Ausgabe tatsächlich gleich viele Filme von Regisseurinnen und Regisseuren.

 

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Eröffnet wurde mit Moskau Einfach!
von Micha Lewinsky, einer bitteren Filmkomödie, angesiedelt im Herbst 1989, einer Zeit des Umbruchs, auch in der beschaulich-betulichen Schweiz. Während also in Berlin langsam aber unausweichlich die Mauer bröckelt, herrscht in den Schweizer Amtsstuben noch der Kalte Krieg und der Feind kommt eindeutig aus dem Osten. Ein übereifriger Staatsschutz Polizist schleust sich als Statist in eine Theatergruppe ein, überzeugt dort subversive und staatsfeindliche Aktionen aufzudecken. Stattdessen entdeckt er sich selber und die fundamentalen Fehler im Apparat derjenigen, die den Staat zu schützen vorgeben. Die Komödie zieht Parallelen zwischen der Bespitzelungswut der Beamten und einer überkandidelten Theaterarbeit; Wenig ist wie es scheint, der nonkonformistische Regisseur ist ein, auf den eigenen Vorteil bedachter, Blender, die Polizisten haben sich eine fiktive Agentenwelt mit Drohszenarien gebastelt, und mittendrin eine leise anklingende Liebesgeschichte. Lustig, leicht und problemlos auch auf heute zu übertragen. Der wahre Kern der Geschichte, das Sammeln tausender von Bürgerdaten, wurde damals aufgedeckt und sorgte für einen ordentlichen politischen Skandal.

 

 

Inselträume

 

Kinosaal um 9Uhr
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Der Festival(all)tag fängt schon früh an in Solothurn, aber selbst um kurz nach neun Uhr morgens ist das Kino gut besucht.

Inseln als ideale Projektionsflächen für Träume jeder Art. Der Esel hiess Geronimo von Arjun Talwar und Bigna Tomschin erzählt den Moment, wo die Träume verloren gegangen sind. Eine kleine Insel in der Ostsee war eine Zeitlang Ankerpunkt für viele verschiedene Menschen: Schiffer, Segler, Köche, aber auch Touristen. Als der Traum vom idyllischen Inselleben, in der strukturarmen Gegend, scheitert – das Warum bleibt etwas im Dunkeln – ziehen sich die „Vertriebenen“ auf ihre jeweiligen Boote zurück, dümpeln, wortwörtlich, auf ihren vor Anker liegenden Booten vor sich hin, was bleibt sind Bier, Zigaretten und Erinnerungen. Die Kamera beobachtet, ist Zuhörer und Chronist, zeigt eine andere Art von Inseln, zeigt eine eher raue Art von Idylle, und lässt Raum für zukünftige Träume.

Auch im italienischen Omegna sind die Träume einer florierenden Kleinindustrie geplatzt. In Moka noir – No more Coffee in Omegna erzählt Erik Bernasconi von seiner Suche nah dem Ursprung alltäglicher Küchenutensilien, wie der berühmten Bialetti Kaffeekanne, Eisbällchenformern, Spaghettizangen oder den Alessi Produkten. Alle hatten früher ihre Werke im 15.000 Einwohner Städtchen Omegna. Mittlerweile wird dort fast nichts mehr produziert, die Hallen von früher stehen leer, manche sehen aus, als wären sie eiligst verlasse worden, andere sind leergefegt, die Fenster zerbrochen, im Ort herrscht Arbeitslosigkeit. Die Geschichte ist angelegt wie ein altmodischer Krimi, mit dem Regisseur als „Kommissar“ auf der Suche nach dem Schuldigen für den Untergang. Er spricht mit Erben der Fabrikbesitzer, mit ehemaligen Arbeitern, Gewerkschaftern und Sozialökonomen, was er findet, sind aber nur Opfer, keine Täter. Alle haben verloren und schuld ist, wenn überhaupt, ein Wandel in den Strukturen der Industrie, wo immer mehr von Maschinen und günstig in Asien hergestellt wird, selbst wenn dann immer noch die klangvollen italienischen Markennamen draufstehen. Bis auf wenige alte Werbefilmchen ist alles in expressivem Schwarz-Weiss gehalten, was sowohl das Triste wie auch das Malerische hervorhebt.

Red Ants Bite von Elene Naveriani ist angekündigt als ein Film, der den alltäglichen Rassismus in Georgien zeigen soll; ein Spielfilm, der entstand, nachdem ein Nigerianer – Protagonist eines früheren Films der Regisseurin – in Tiflis an Lungenentzündung verstorben ist. Aber mehr als von Rassismus erzählt der Kurzfilm die Geschichte einer Freundschaft in der Fremde, die wohl doch mehr als Freundschaft ist. Ohne die vollmundige Ankündigung über den Rassismus würde der Film besser funktionieren, so sucht man als Zuschauer nach etwas, das die Geschichte nicht bietet.

Wenn Filme gut sind, können sie nicht nur zaubern, sondern auch bezaubern, Monsieur Pigeon von Antonio Prata schafft das problemlos. Die schönen Bilder von Giorgo Carella lassen den Zuschauer durch ein Pariser Innenstadtviertel streifen, im Off: Stadtgeräusche und immer wieder Stimmen, die konsequent auch im Off bleiben, die von einem geheimnisvollen Bewohner des Viertels erzählen: Monsieur Pigeon, der Obdachlose, der sich um die Tauben kümmert. Lange Zeit bleibt er unsichtbar, die Kamera geht vorsichtig suchend umher, tastet den Lebensraum ab, bis der Protagonist dann selbst auftaucht. Zunächst nur von hinten zu sehen, in Aktion, zwei Einkaufswägelchen hinter sich herschleppend verteilt er Körner, verjagt mit einem laut gezischten „Hey“ alle, die die Tauben ärgern. Der Film nimmt sich die Zeit, wissenschaftlich präzise, ein Lebewesen in seinem Lebensraum zu suchen, zu zeigen, zu respektieren. Das meiste erfährt man von den Stimmen aus dem Off, Gedankenschnipsel, Meinungen, Geräusche, erst gegen Ende spricht Giuseppe selbst in die Kamera, erzählt, was er für wichtig hält aus seinem Leben. Ein Film, der sowohl die Liebe zur Geschichte, als auch die Liebe des Protagonisten zu seinen Tauben ernst nimmt. Wenn das Zuhause die Strasse ist, werden die Strassentauben zu Haustieren.

Selten aber manchmal doch können filmisch eher mässige Filme auch gut sein.
Volonteer von Anna Thommen und Lorenz Nufer ist so eine Ausnahme. Am auffälligsten ist der Unterschied in der Aufnahmequalität der Bilder, Teile des Materials stammen von den Einsätzen der freiwilligen Helfer selbst, gemischt wird das Ganze mit den in der Schweiz gedrehten Interviews. Die wirkliche Stärke des Films entwickelt sich mit der Zeit, je tiefer man in die Motivation der Helfer Einblick bekommt. Menschen, die selbst böse Zungen nicht einfach als links-intellektuelle „Gutmenschen“ abtun können, vom Bauern bis zum Unterhaltungkünstler findet sich einiges. Allen gemeinsam ist die pragmatische Seite des Helfens, die sich unweigerlich einstellt, wenn man erkennen muss, dass man nie allen wird helfen können; dann wird nur noch angepackt, getan, was geht. Gemeinsam ist ihnen auch die Wut auf das Fehlen brauchbarer politischer Lösungen und die Forderung die Menschenrechtskonvention nicht weiterhin mit Füssen getreten zu sehen. Der Film bleibt trotz vieler sehr bewegender Bilder sachlich, auch das ist eine Stärke.

Ein guter Einstieg soweit.

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