#FilmTipp Unrueh

 

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Zeitgefühle

 

Jede Sekunde zählt, egal, ob auf dem Weg zur Fabrik, bei der Belichtung der Photos oder beim Einsetzen der winzigen mechanischen Teile der Uhren.
Zeit ist Geld und Fortschritt.
Und dennoch gelten in einem Tal im Schweizer Jura um das Jahr 1877 mehrere verschiedene Uhrzeiten: die Fabrikzeit, die Gemeindezeit, die Zeit des Telegraphenamts oder die Zeit am Bahnhof.
Umbruch und Modernisierung liegen in der Luft in Cyril Schäublins zweitem Langfilm Unrueh. Ein Film nicht nur über die Zeit(messung), sondern auch über eine Zeit, in der Anarchie ein Konzept war, das zu mehr Gerechtigkeit für alle führen sollte.

 

Die Schweiz tickt anders

Während im Rest Europas die Anarchisten bereits verfolgt und eingesperrt werden, finden sie in der Schweiz noch Zuflucht und Anerkennung und selbst Fabrikbesitzer wissen, deren weltweite Vernetzung für sich zu nutzen.
Der Film ist bildlich und formal unkonventionell, mit sehr vielen Nahaufnahmen, nicht nur beim Uhrenmachen, dazu Totalen, in deren Vordergrund verschwommene Gestalten durchs Blickfeld huschen, ein Gefühl von Voyeurismus erzeugend. Unkonventionell häufig auch der Schnitt, wenn in Dialogszenen oft der Zuhörer, statt des Sprechers, die Leinwand bekommt.
Manche Szenen habe etwas theaterhaftes an sich, besonders wenn der Kontext erklärt wird, oder auch wenn die beiden Dorfgendarmen auftreten. Eigenwillig, oft witzig, manchmal etwas unbeholfen, aber man bleibt immer bei der Geschichte.

 

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Frauenfiguren

Besonders schön sind die Frauenfiguren der Geschichte gelungen. Zu einer Zeit, in der Frauen, nicht nur in der Schweiz, kein Wahlrecht hatten, sieht man sie hier gleichberechtigt für ihre Arbeitsbedingungen kämpfen. Man sieht, dass sie keineswegs nur ausführende Hände sind, sondern ganz genau wissen, was sie da warum machen. Eine der schönsten Szenen dazu gibt es gegen Ende des Films: Eine Arbeiterin, mitten im Wald stehend, erklärt dem jungen russischen Geographen, wie eine Uhr funktioniert. Man begreift, dass ihre Arbeit die einer hoch qualifizierten Fachkraft ist, auch wenn weder ihr Lohn noch das soziale Ansehen das widerspiegeln.

Parallelen

Das Moderne der Welt Ende des 19. Jahrhunderts weist erstaunliche, oder auch erschreckende, Parallelen zu unserer Zeit auf. Auch heute gilt das Verwalten der Zeit im Hinblick auf Produktivität als seligmachend, heisst heute eben Zeitmanagement. Das Verehren von Personen, die man nur aus verteilten oder geteilten Bildern kennt, sind heute keine wilden Anarchisten mehr, sondern gut verdienende Influencer. Und auch was die Umsetzung von Frauenrechten angeht, sind wir heute nicht so wahnsinnig weit gekommen.
Ein schöner Film, der nur scheinbar von der Vergangenheit handelt.
Unrueh läuft weiterhin im Metro Kino.

Mehr zum Schweizer Filmschaffen gibt es ab 18. Januar bei den Solothurner Filmtagen zu sehen, und hier zu lesen.

 

56. Solothurner Filmtage

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 Programmpräsentation

Letztes Jahr Ende Januar waren die Solothurner Filmtage eines der letzten Festivals, das noch „wie gewohnt“ stattfinden konnte.
Dieses Jahr hat aber das Festival des Schweizer Films nicht so viel Glück. Nach diversen Plänen, von komplett physischer Ausgabe mit reduzierten Plätzen, über eine gemischte Variante, ist seit Dezember klar, Solothurn wird vom 20.1. bis 27.1. komplett im Netz stattfinden.

Ein bisschen Rock’n’Roll

 

Die heutige Programmpräsentation also selbstverständlich online per zoom.

Wie so viele online Konferenzen und Präsentationen lief es auch hier ein wenig chaotisch ab. Liebenswert chaotisch sollte man sagen, oder wie die Direktorin Anita Hugo es nannte: „ein bisschen Rock’n’Roll“.
Aber wie auch immer man es nenne mag, die Essenz, also die Präsentation des sehr spannenden Programms kam durch.

 

Anita Hugi
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Zusätzlich zu den beiden Preisen, also dem Publikumspreis, 11 nominierte Spiel- und Dokumentarfilme, und dem Prix de Soleure, 12 Spiel- und Dokumentarfilme, wird es dieses Jahr erstmals einen Preis (20.000SFr) für einen Erstlingsfilm geben, hier sind 14 Filme nominiert. Auch Filmdiskussionen, Masterclass und Gespräche zum Kino werden online stattfinden.

 

Solothurn online

Trotz online Ausgabe, der Festivalcharakter bleibt bestehen. So gibt es pro Film limitiert 1000 Zuschauerplätze und die Filme sind auch nicht kostenlos anzusehen, sondern kosten 10SFr pro virtueller Kinovorstellung. Online anschauen kann man die Filme auch nur innerhalb der Schweiz, ganz so also, als wäre man vor Ort.
Die 1000 Zuschauer pro Film dürfen dann auch über den Publikumspreis abstimmen.
Der Eröffnungsfilm Atlas von Niccolò Castelli wird auf allen drei Kanälen des Schweizer Fernsehens zu sehen sein. Es ist übrigens das erste Mal, dass ein Tessiner Film Solothurn eröffnet.

 

Romantisches Solothurn
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Es ist gut, dass die Filmtage stattfinden, wenn auch nur online, gut für die Schweizer Filmemacher, die Filmindustrie. Was trotzdem schmerzlich fehlen wird, ist der direkte Austausch, das Miteinander im Kino, die Begegnung und das romantische Solothurn, Schnee und Nebel inklusive.

 

Das ganze Programm ist ab sofort auf der neuen Webseite des Festivals zu finden.