#Visions du Réel Preisträgerfilme

 

 

©Nikita Thévoz

 

 

Virtuelle Welten

 

Der Gewinner des Grossen Preis des Festivals, While the Green Grass Grows von Peter Mettler, ist tatsächlich nirgends auf der Plattform zu finden. Andererseits ist der Film 166 Minuten lang, was am Computer kein wirklicher Spass wäre.
Also, trotz Online-Zugriff, mal wieder einen Gewinnerfilm nicht gesehen!

 

 

Knit’s Island
©Kenza Wadimoff

 

Dafür aber hier einige andere Gewinner.


Den Preis in der Kategorie Burning lights und dazu noch den FIPRESCI- Preis, also den Preis der internationalen Filmpresse, bekam:
Knit’s Island von Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’helgoualc’h.
Der Film taucht ein in die virtuelle Welt eines Computerspiels.
Innerhalb des Spiels sind die drei Filmemacher als Dokumentarfilmteam unterwegs, laufen durch die künstliche Welt, verabreden sich mit Figuren/Spielern. Anfangs sind die Protagonisten sehr in ihren Rollen verankert, Rollen, die extrem reaktionär und schiesswütig daher kommen. Im Lauf der Zeit kommen aber die Personen hinter den Rollen und vor ihren Computern immer mehr zum Vorschein. Eine sehr starke Szene ist, wenn eine Spielerin, deren Avatar eine schwerbewaffnete Soldatin darstellt, erzählt, dass sie Mutter ist, und fast gleichzeitig ihr Kind im Hintergrund anfängt zu heulen. Ihre Stimme wird leiser, sie ist raus aus dem Spiel, während ihre Figur zart animiert im Standby-Modus weiter mit dem Kopf nickt.
Das ist stark und gruselig. Nach eigenen Angaben haben die Filmemacher 963 Stunden im Spiel verbracht. In diese Zeit fiel auch die Pandemie und die Spieler ändern plötzlich ihr Spiel, sie sind weniger kriegerisch, die Personen hinter den Avataren werden privater, ihre Interaktionen im Spiel werden friedlich, spielerisch. Eine absolut ungewöhnliche, originelle Arbeit, in die man sich am Anfang allerdings erst einsehen muss.

 

Im Computer-vor dem Computer
(c) ch.dériaz

 

Kunstwelt

 

Den Preis für den besten Langfilm national gewinnt:
Nathalie Berger für Chagrin Valley

Sie beobachtet das eigentümliche „Biotop“ der Bewohner und Pfleger eines betreuten Wohnheims in den USA.
Das Heim berührt schon durch seine Anlage, in der die Zimmerflure aussehen wie eine amerikanische Kleinstadt, mit Veranden, Schaukelstühlen und einem gemalten Himmel mit Schönwetterwolken. Der Film fokussiert auf zwei alte Damen und zwei Pflegerinnen, die Welten und Träume liegen weit auseinander, und doch spürt man bei aller Geschäftigkeit eine freundliche Nähe zwischen Bewohnern und Pflegerinnen.
Ein sehr liebevoll gemachter Film, warmherzig, ein wenig traurig und ein verdienter Preisträgerfilm.

 

 Selbstfindung

Als bester mittellanger Film wurde  Self-Portrait Along the Borderline von Anna Dziapshipa gekürt.
Ein Selbstportrait in Art eines avantgardistischen Mosaiks.
Die Regisseurin, Tochter eines Abchasen und einer Georgierin, sucht nach ihrer, durch Krieg und Unabhängigkeitskämpfe, gesplitterten Identität. Sie mischt dafür diverse Archivaufnahmen, Familienfilme und neu Gedrehtes, unterlegt alles mit Gedanken und Erinnerungsfragmenten, Geräuschen und schräger Musik. Sie erschafft so ein aussergewöhliches Bild von sich selbst.

 

 

 

(c) ch.dériaz

 

Das war’s aus Nyon vom Sofa aus. Was man auf jeden Fall sagen kann: der Dokumentarfilm lebt und zeigte in Nyon seine viele Facetten. Wie für Kurzfilme gilt auch hier: Man kann dem Publikum komplexe Themen in ungewöhnlichen Filmen zumuten. Diese Filme gehören ins Kino. Aber das Angebot muss von den Verleihern, von den Kinos kommen.
Alle weiteren Informationen und Preise hier.

 

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Noch ein paar Filme bis zum Ende

 

Die letzten Filme vor der abendlichen Preisverleihung, oder eher Preisbekanntgabe, denn auch hier sind, trotz moderater Öffnung, die Filmemacher ausschliesslich per Video-Stream zugeschaltet.

 

Das Problem der Untertitel bei Experimentalfilmen

 

 

Non Stop (c) Aitziber Olaskoaga

 

In Non-Stop von Aitziber Olaskoaga soll das Nichtsichtbare gezeigt werden, ohne es zeigen zu dürfen, ohne Bilder, ohne Interviews, nichts findet statt.
Der Film versucht das auf experimentale Weise zu thematisieren. Ein Hochsicherheitsgefängnis der spanischen Nach-Franco-Zeit zu zeigen, zu hinterfragen, endet darin zu zeigen, dass man nichts zeigen darf. Das Problem, vieles, das ungezeigt bleibt, wird beschrieben, auf Baskisch, im Off. Während meistens weite Landschaft oder ein ratloses Team zu sehen ist.
Das mag, wenn man Baskisch versteht, funktionieren, weil zwei Sinne angesprochen werden, Hören und Sehen, und im Zuschauer ein Bild mit Mehrwert entstehen kann. In einer untertitelten Version scheitert das Konzept; Untertitel und Filmbilder beschäftigen gleichzeitig den Sehsinn, das Suggestive verschwindet. Schade.

Schwer zu sagen, wie dieses Problem, also die Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit, Untertitel zu lesen, und der Idee der Filmemacher, zu lösen ist. Untertitel sind im Allgemeinen ja eine gute Sache, Filme sollen auf jeden Fall  in ihren Originalversionen angeschaut werden. Aber in einigen Grenzbereichen funktioniert das Konzept der Filme plötzlich nicht mehr und lässt ratlose Zuschauer zurück.

 

Klassisches Dokumentarkino

 

 

 

Dann noch zwei ganz klassisch gestaltete Dokumentarfilme, die Empathie und Interesse des Zuschauers zu wecken verstehen:

My Place Is Here (Io resto) von Michele Aiello zeigt in ruhigen, klaren Bildern den Alltag in einem Krankenhaus in Brescia im März 2020. Die Kamera beobachtet, und zeigt die Ruhe und Präzision, mit der auf der Covid Station gearbeitet wird, mit wieviel Zuwendung, trotz der vielen Arbeit, die Patienten behandelt werden. Und trotzdem erkennt man den Alptraum, in dem alle, Kranke wie Ärzte und Pflegende, sich bewegen: Bilder wie aus einem alten Science-Fiction-Film.

Die Schönheit des Verwelkenden zeigen Svetlana Rodina & Laurent Stoop
in
Ostrov – Lost Island.
Die Insel Ostrov im Kaspischen Meer ist ein versunkenes, verwildertes Paradies. Die paar Hundert Bewohner, Verlierer nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, leben von illegalem Fischfang und am Rand des Existenzminimums. Während die Älteren Putin verehren, in dem sie die Verkörperung einstiger Grösse der Sowjetunion sehen, schauen die Jungen verloren in eine komplett ungewisse Zukunft. In wunderbaren Bildern erzählt der Film von dieser fremden Welt.

 

Zu guter Letzt

 

 

Faya Dayi (c) Jessica Beshir

 

Den Hauptpreis der 52. Ausgabe von Visions du Réel bekam Jessica Beshir für ihren Film Faya Dayi.
Ein episches, assoziatives Gedicht in wunderbaren Schwarz-Weiss Bildern. Bei aller Schönheit
zeigt der Film den Verlust, den eine Gegend erfährt, wenn Gewalt, nachlässige Politik und schwindende Ressourcen vorherrschen, und dann Drogen, Mythen und (Aber)Glauben um sich greifen. Der Kath-Anbau und – Handel führt in Äthiopien zu einer um sich selbst kreisende Pseudowirtschaft, in der der einzelne entweder versinkt oder sich durch Flucht versucht zu entziehen; beides gefährlich.

So endet diese Hybrid-Ausgabe in Nyon auf einer düster verträumten Note, bleibt zu hoffen, dass im kommenden Jahr alle wieder in die Kinos kommen können.

Alle Preise: hier

 

Das war’s aus Nyon vom Sofa aus_ (c)ch.dériaz

52. Visions du Réel

Warten (c) ch.dériaz

 

Hybrid oder nicht Hybrid

Im vergangenen Jahr war das internationale Dokumentarfestival Visions du Réel in Nyon eines der ersten, das sehr kurzfristig auf eine reine Online-Ausgabe wechselte. Für dieses Jahr gab es Zeit satt, Zeit alles vorzubereiten: von einer rein physischen Ausgabe über eine hybride Version bis hin zur komplett virtuellen Ausgabe. Die Verordnungen wechselten und damit wechselten auch in fröhlichem Reigen die Ankündigungen.
Letzter Stand: eine reine Online Ausgabe, mit allerdings einigen Rahmenprogrammveranstaltungen vor Ort in Nyon.
Letzter Stand? Nein!
Denn am Tag vor der Eröffnung änderte die Schweizer Regierung – Gesundheits- und Kulturminister Berset ist ein bekennender Filmfan – die Pandemiemassnahmen, damit sind ab kommender Woche nicht nur Sportstätten und Gastronomie wieder zugänglich, sondern auch Kinos.

Emilie Bujès, artistic Director of festival Visions du Réel (in Nyon-VD)

Die allerletzte Änderung fand also fliegend und – fast – während der Eröffnung statt.
Und so konnte das Team um die künstlerische Direktorin Émilie Bujès ankündigen, dass die letzten vier Festivaltage kommende Woche auch Vorstellungen in real existierenden Kinos vorsieht.

Schwächelndes Internet

Feierlich sind Online-Eröffnungen selten, wenn dann aber mittendrin auch noch das heimische Netz anfängt zu schwächeln, hört der Spass wirklich auf.
Der Anfang lief noch freundlich vor sich hin, und liess Raum sich über das völlig überflüssiges Hin- und Herschneiden zwischen drei Kameras zu wundern.
Ausgerechnet zur Rede Émilie Bujès lief das Bild dann erst nur stockend und dann gar nicht mehr.

Schwächelndes Internet (c) ch.dériaz

 

Während das Festival via Schweizer Fernsehen mit dem Film Les Guérisseurs von Marie-Eve Hildbrand eröffnet, wurde es also Zeit für einen Neustart und für die Auswahl des persönlichen Eröffnungsfilms.

Von Menschen und Tieren

 

The Bubble (c) Valerie Blankenbyl

Die Wahl fällt auf die österreichisch-schweizerische Koproduktion  The Bubble
von Valerie Blankenbyl.
Unterhaltsam, grotesk, erschreckend zeigt der Film, wie weisse, wohlhabende Senioren aus dem Norden der USA in den Süden, nach Florida, auswandern, und wie dort seit den 80er Jahren ein immer grösser werdendes Seniorendorf entsteht. Ca.150.000 alte Menschen zählt die Gemeinde mittlerweile. Was dabei entsteht, ist eine Real-Dystopie im Stil schlechter 50er Jahre Filme. Das Areal, früher Agrarland oder bewaldet, ist einem manikürten Grün gewichen, mit putzigen Häuschen, sauberen Wegen, mit 24 Stunden Radiobeschallung auf den öffentlichen Plätzen und eigener Zeitung. Die ursprünglichen Bewohner der Gegend werden zusehends an den Rand gedrängt, Druck entsteht, dass auch diese ihr Land verkaufen, für mehr Senioren, die in die Sonne wollen und hemmungslos geniessen wollen. Die Schäden am Land und für die Gemeinden sind erheblich. Ein Film, der einen das Grauen lehrt und doch, irgendwie sind die „Invasoren“ auch sympathisch, aber eben nur irgendwie.

 

Sheltered (c) Saskia Gubbels

Fast gänzlich sympathisch sind die Bewohner in Sheltered (Dierbaren) von Saskia Gubbels. Das Portrait der tierischen wie menschlichen Belegschaft eines Tierheims in Amsterdam ist berührend und traurig. Was Menschen Tieren und was Menschen Menschen antun, viel Kaputtes und dann doch auch wieder genug Hoffnungsvolles. Schön und unpathetisch.

 

Garderie nocturne (c) Moumouni Sanou

Ums Kümmer geht es auch in Garderie nocturne von Moumouni Sanou.
Bobo-Dioulasso in Burkina Faso, Mütter, die vor ihrem nächtlichen Job als Prostituierte ihre kleinen Kinder in die Obhut einer älteren Frau bringen. Ein Film ohne viele Worte, die meisten Gespräche sind hauptsächlich atmosphärisch. Der Film folgt den Protagonistinnen, jeder Ort mit einer ganz eigenen Dynamik, die leichte Unruhe beim Abliefern der Kinder, der Lärm des Vergnügungsviertels, und die fast andächtige Ruhe, tagsüber Zuhause. Viel Dunkelheit, viele Momente der Nähe, in denen man den Ort, die Menschen kennenlernen kann. Einfach ein wunderschöner Film und mit einem der stärksten Schlussbilder.

Männlichkeit und Mythen

 

Soldat Ahmet (c) Jannis Lenz

Soldat Ahmet von Jannis Lenz
Soldaten und Boxer, immer noch für viele der Inbegriff von Männlichkeit.
Ahmet ist beides, Berufssoldat, Sanitäter in der österreichischen Armee, und Boxer, er zeigt sich hart aber auch sensibel. Und er will, einem Kindheitstraum folgend, Schauspieler werden. In diesem Kontext, auch um die Rolle des Stanley in Endstation Sehnsucht überzeugend spielen zu können, muss er sich mit seiner eigenen Verletzlichkeit auseinandersetzen. Konkret: er muss weinen lernen. Der Film spielt mit den verschiedenen Aspekten dieses Lebens, zeigt, und verfremdet mithilfe einer ganz wunderbaren Tonebene, die harten und die weichen Seiten Ahmets, und kommt dabei gänzlich – wie bisher alle Filme – ohne Kommentar aus. Sehr schön.

 

Holgut (c) Liesbeth De Ceulaer

Mythen und Männlichkeit verhandelt Holgut von Liesbeth De Ceulaer.
Die Sibirische Tundra, mythische Geschichten von verschollenen Mammuts, Träume von wilden Rentierherden. Zwei Brüder auf der Suche nach Jagdglück, ein Wissenschaftler auf der Suche nach Mammut DNA, die zum Klonen geeignet wäre. Aber alles, was da ist, sind tauende Permafrostlandschaften umgeben von verlassenen Industriebrachen. Der Wechsel von den Jagdversuchen und Träumen der Brüder zum Wissenschaftler erschliesst sich nicht wirklich, gerade noch bei den Brüdern und nach einer kurzen Schwarzblende beim Wissenschaftler. Einzig die Landschaft bleibt, schmutzig, tauend und traurig anzusehen. Alles etwas konfus, aber nicht uninteressant.

 

Flee (c) Jonas Poher Rasmussen

Flee von Jonas Poher Rasmussen erzählt nicht nur vom Selbstverständnis als schwuler Mann, sondern auch von dem was Flucht und Gewalterfahrungen mit dem Selbstbild anrichten können. Und da man manche Geschichten nicht einfach mal eben erzählen kann, weil Zuvieles nur in der Erinnerung der Protagonisten lebt, wählt dieser Film den Weg der Verfremdung durch Animation. Was entsteht, ist eine fast spielfilmspannende Lebensgeschichte, von der frühen Kindheit in Afghanistan, Krieg, Verfolgung, Flucht und Verlust. Erzählt von Schleppern, der Ankunft nach langer Odyssee in Dänemark und einer falschen Lebensgeschichte, die als Schutz dienen soll. Aber auch von Zusammenhalt und Versöhnung, nicht zuletzt mit sich selber. Sehr toll.

 

Kurz und gut

In der Sektion Kurz- und Mittellange Dokumentarfilme gibt es natürlich auch interessantes zu entdecken.
How to order online von Julie Ramage.
Neun Minuten kurz und schräg! Hände, die aus Plastiktüten, aus Laken, aus altem Stoff lange Lassos knoten. Stimmen, die erklären, dass damit ein Kommunikationssystem von einer Gefängniszelle zur anderen entsteht, mit der kleine Güter ausgetauscht werden; ein Ballett der Finger, visuell spannend.

Mit 30 Minuten eher mittellang ist:
Belgrade Forest Incident…and What Happened to Mr. K? von Jan Ijäs.
Sehr eigentümliche und eigenwillige Umsetzung zum Verschwinden, zur Ermordung des saudischen Journalisten Khahoggie in der Saudischen Botschaft in Istanbul. Eine Tonkollage der diversen Nachrichtenmeldungen, eine Bildkollage aus Orten, die in Zusammenhang mit dem Fall stehen. Die Bilder, in verschiedenen Formaten, zeigen Orte, an denen nichts zu sehen ist, weil eigentlich auch nichts ans Licht gekommen ist, während der Ton sich in ständig ändernden Variationen zum möglichen Verlauf der Ereignisse überlagert.
Eigenwillig aber nicht uninteressant.