Die Kraft der Kultur
Als gestern Abend die 74. Filmfestspiele in Locarno eröffnet wurden, stand für Festivalpräsident Marco Solari einmal mehr die einende Kraft der (Film)Kultur im Vordergrund. Trotz aller Unkenrufe, Widrigkeiten und Pandemierückschläge glaubte das Team an das Wiedererwachen des Festivals in – fast – normaler Form und Grösse.
Das zweitälteste europäische Filmfestival versteht sich als gleichermassen lokal verwurzelt wie auch international vernetzt, es verbindet Intellektualität und Glamour zum anfassen, und es kämpft unermüdlich für die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks.
Das alles wurde und wird wertgeschätzt und, nicht zuletzt, auch finanziell belohnt.
Gerade wurde die Förderung des Festivals sowohl vom Kanton als auch vom Bund erhöht. Locarnos Filmwelt hat viele Fans und Freunde, nicht zuletzt den für Kultur (und Gesundheit) zuständigen Bundesrat Alain Berset.
Der – fast – Neue
Giona A. Nazzaro hat nach dem überraschenden Abgang von Lili Hinstin die künstlerische Leitung übernommen. Nazzaro ist in Locarno kein Unbekannter, der Filmjournalist und Festivalkurator kümmerte sich in den vergangenen Jahren immer wieder um deutschsprachige Gäste und moderierte Filmgespräche. Entsprechend unverkrampft und selbstverständlich trat er am Abend vor sein erstes Locarno Publikum, mit fröhlichem Charme und lässiger Ernsthaftigkeit.
Check und Re-check
Natürlich ist alles ein bisschen komplizierter dieses Jahr. Neben allen, hauptsächlich online zu tätigenden, Käufen und Reservierungen, wird auch an „jeder Ecke“ der Impfstatus kontrolliert. Und Kontrollen werden hier durchaus ernst genommen. Heisst: QR-Code herzeigen, scannen lassen, Ausweis hervorkramen, dann QR-Code vom Ticket beim nächsten Kontrollpunkt checken lassen, und da fehlt momentan noch die Taschenkontrolle, die ja schon seit Jahren lästiger Alltag geworden ist. Am Eröffnungsabend ging das, zumindest auf der Piazza Grande, gut und schnell, allerdings hat es auch geregnet und es waren entsprechen nur wenige Zuschauer vor Ort.
Wie das bei Vollbesetzung oder in den grossen Kinos wird, muss sich noch zeigen.
Das bisschen Regen
Das bisschen Regen und die eher unangenehm tiefen Temperaturen schrecken wahre Freunde der Piazza Grande natürlich nicht ab. Und so fanden sich am Abend dann doch gar nicht so wenige Zuschauer, eingepackt in Regencapes, auf den unbequemsten Kinostühlen im schönsten Freiluftkino, ein.
Weniger mutig war diesmal das Festivalteam, die Zeremonie fand im Fevikino statt und wurde auf die Piazza übertragen. Dennoch, schöne Worte, Vorfreude und ein erster Ehrenleopard an die Schauspielerin Laetitia Casta, die mutig auf Italienisch sprach.
Und dann endlich: Locarno ist wirklich eröffnet, der erste Abendfilm startet.
Beckett rennt
In Welturaufführung, Beckett von Ferdinando Cito Filomarino, ein Actionfilm mit einem unermüdlich rennenden John David Washington.
Beckett rennt und Leichen pflastern seinen Weg, wäre die Kurzfassung.
Man kann über den Film kaum sprechen, ohne mit jedem Satz zu viel zu verraten. Beckett, ein amerikanischer Tourist in Griechenland, findet sich nach einem Autounfall plötzlich verletzt und verfolgt und zwischen irgendwelchen Fronten wieder. Wer ihm warum nach dem Leben trachtet, ist unklar, aber ihm bleibt nichts anderes übrig als zu flüchten, mit Gipsarm, angeschossen, allein und schmutzig. An jeder Ecke Verrat, trauen kann er anscheinend niemandem und das Warum der ganzen Geschichte erschliesst sich auch nur teilweise. Washington trägt den Film mit seiner sehr greifbaren Körperlichkeit und Präsenz, spannend ist es auch – irgendwie. Aber man fragt sich schon die ganze Zeit, warum die „Bösen“ den ersten Schuss überhaupt abfeuern, denn ohne diese dumme und sinnlose Aktion, hätte keiner Probleme. Aber wahrscheinlich ist das auch eine müssige Betrachtung, die auf die meisten Dramen zutrifft, und ohne den ersten, mehr oder weniger dummen Schritt, kein Drama, heisst auch: keine Geschichte, keinen Film. Wie der Film im Fevi aufgenommen wurde, weiss ich nicht, auf der Piazza war der Applaus mehr als verhalten, aber es war auch schon spät und nass und kalt und es hätte ohnehin keiner der Beteiligten gehört.
Auch an diesem ersten Abend ist auf der Piazza einer der Plastikstühle mit lautem Krachen zerbrochen, manche Sachen ändern sich irgendwie nie.