#Visions du Réel 2024 Sehen lernen

 

(c) Visions du Réel

 

 

Aufmerksam Schauen

 

In Nyon fand gerade das internationale Dokumentarfilmfestival Visions du Réel statt.
Dank der Möglichkeit, online am Festival teilzunehmen, hier ein Blick auf die 55. Ausgabe. Was auffällt, wenn man das Programm durchgeht, sind die wirklich vielen Weltpremieren, was auch den Stellenwert des Festivals reflektiert.

Sehen können

Wer versteht zu sehen, erkennt neben dem Sichtbaren auch das Unsichtbare.
Das gilt für Nicole Vögeles
The Landscape and the Fury genauso wie für die Zuschauer ihres ungewöhnlichen und mit dem Hauptpreis ausgezeichneten Films.
In sehr langen, meist statischen Einstellungen bewegt sie sich durch die Jahreszeiten im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet. Man sieht der Landschaft und ihren Bewohner immer noch die Narben und Wunden des Krieges an. Minen liegen weiterhin in den Wäldern, Häuser zeigen Einschusslöcher, die Bewohner reden über ihre Erlebnisse im Krieg. Gleichzeitig versuchen Flüchtlinge aus neuen Kriegs- und Krisengebieten dort über die Grenze nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen. Das ruhige Tempo, die Totalen, die auch immer wieder im Dunkeln nur schemenhaft etwas preisgeben, die beiläufig aufgeschnappten Gespräche, all das schärft den Blick des Zuschauers. Zeigt Verbindungen, zeigt, wie an dieser Grenze unmenschliche Pushbacks und menschliche Wärme nebeneinander existieren, genauso wie die Minen und die Fluchtwege.

 

Ein weiterer Preisträgerfilm, diesmal in der Kategorie national:
Valentina and the MUOSters von Francesca Scalisi.
Auch hier überwiegt die Ruhe, das Anschauen und ein bisschen das Verrückte. Valentina ist 27, lebt bei ihren Eltern und tut nicht viel, ausser hübsche, kleine Blumen zu häklen. Ihr Leben, wie das ihre Familie, ist stark verwurzelt mit dem ländlichen Sizilien, auch wenn eine Anlage riesiger US-Militärsatelliten das Leben erschweren und die Landschaft verschandeln. Aus der anfangs etwas patzig wirkenden jungen Frau entwickelt sich im Lauf des Films aber eine Frau mit Widerspruchsgeist, die auch ihr Leben in die Hand nehmen wird. Die Satelliten, die Militärkontrollen, all das strukturiert visuell und gibt dem Film eine etwas mysteriöse, versponnene Note. Aber genau das ist sehr schön.

 

Perspektivwechsel

Manchmal versteht man Bekanntes (noch) besser, wenn es aus einer anderen Perspektive erzählt wird.
Preparations for a Miracle von Tobias Nölle macht genau das.
Die bekannten Bilder der Proteste um die Erweiterung des Kohletagebaus in Lützerath neu gesehen und eingeordnet von einem zeitreisenden Androiden. Eine tagebuchartige Erzählstimme, dazu immer wieder die Füsse, Hände oder Beine des Androiden, machen aus den Bildern eine filmische Subjektive. Baumaschinen, Traktoren, Roboter werden zu verehrten Vorfahren, zu Helden, die im 21. Jahrhundert noch versklavt waren. Ihre Bewegungen werden zu Tänzen, man vermeint plötzlich Augen und Gesichter zu sehen, Reaktionen, der Android interagiert mit seinen Vorfahren. Die Demos werden als Huldigungen eingeordnet, die Baggerarbeiten als Vorbereitung für ein grosses Ereignis. Naiv und spielerisch bewegt sich der Gast durch unsere Zeit, und verdeutlicht den Konflikt, ohne ihn ein einziges Mal als solchen darzustellen. Das ist sehr gewitzt und märchenhaft.

 

Seitenwechsel

Der Genfer Regisseur Yvan Yagchi macht sich auf den Weg nach Israel, er will verstehen, wieso sein ältester Freund in eine Siedlung ins Westjordanland gezogen ist.  Avant il n’y avait rien fängt an als Versuch, eine Erklärung zu finden.
Yagchis Familie ist 1948 aus Palästina zunächst in den Libanon geflüchtet, seine Mutter dann später in die Schweiz. Sein Kindheitsfreund wuchs als Adoptivkind in einer reformierten jüdischen Familie in Genf auf. Aber warum wird er zum Siedler? Der Versuch, die abgebrochenen Beziehung wieder zu kitten, misslingt. Anfangs scheint eine gemeinsame Ebene denkbar, aber plötzlich will der Freund mit dem Film nichts mehr zu tun haben, droht mit Anwälten und fordert den Abbruch. Aber das Projekt ist schon recht weit, es gibt Förderung, ein kompletter Abbruch wäre fatal. Und so wird die Geschichte eine Suche nach den eigenen Wurzeln, und ein langer filmischer Brief an den Freund.
Aus der Situation, den Freund nicht mehr zeigen zu können, entwickelt Yagchis ein künstlerisches System, er lässt den Freund mit weissem Gekrakel übermalen, und nimmt das comichafte dann auf, als er seinen eigenen Urgrossvater gezeichnet mit in die Geschichte bringt. Ein sehr starker Film, der viel persönlichen Schmerz öffentlich macht, ohne peinlich zu werden.

 

Schatten

 

My Memory Is Full of Ghosts von Anas Zawahri ist ein langer Spaziergang durch das sehr zerstörte syrische Homs. Im Off Erinnerungen an gute und an schreckliche Momente verschiedener Bewohner der Stadt. Man sieht sie nie reden, keine klassischen Interviews, statt dessen Gänge, Fahrten, Orte, Menschen, die inmitten von Zerstörung Alltag leben. Das ist zum Teil bedrückend, weil jedes Bild immer auch das Fehlen beinhaltet, und doch sind manche Geschichten fast hoffnungsvoll und fest verwurzelt in einem Ort, den die Leute ihr Zuhause nennen.

 

Empathie

Männer und Frauen in medizinischen Berufen lernen in Rollenspielen mit Schauspielern den Umgang mit Patienten, mit Kollegen, mit stressigen, schweren Situationen. Wie das funktioniert, zeigt Sauve qui peut von Alexe Poukine.
Bei allem Ernst, den die Übungen haben, ist der Film extrem unterhaltsam und zeitweise sehr lustig. Trotzdem wird recht schnell klar, dass diese Rollenspiele für das medizinische Personal wirklich wichtig und hilfreich sind. Die Studenten üben so den Umgang mit Patienten, bekommen aber auch von den Darstellern Rückmeldung, wie ihr Verhalten ankommt. Und für bereits im Beruf Stehende sind die Übungen eine Möglichkeit, auszuprobieren, was für Varianten im Verhalten möglich sind. Bleibt zu hoffen, dass solche Übungen nicht nur sporadisch, sondern vielleicht grundsätzlich zur Verfügung stehen.

 

Film-Bilder

 

The Return of the Projectionist von Orkhan Aghazadeh ist eine Liebeserklärung ans Kino.
Irgendwo in Aserbaidschan, an einem Ort, wo man am besten nachts mit dem Laptop auf einen Hügel steigt, wenn man eine stabile Internetverbindung braucht, treffen ein alter Filmvorführer und ein sehr junger Filmemacher aufeinander. In wunderschönen Bildern erzählt der Film von der Freundschaft der beiden, aber auch von ihrem Versuch, einen Kinoabend zurück ins Dorf zu bringen. Ein Versuch, der fast scheitert, weil die bestellten Lampen für den Projektor auch nach Monaten nicht angekommen sind. Mit Liebe zum Kino, zum Filmemachen und mit viel Phantasie schaffen beide, ihre jeweiligen Stärken so zu koppeln, dass am Ende das ganze Dorf eine Filmvorführung erleben kann. Einfach nur schön.

 

(c) Visions du Réel

 

Mehr Informationen zum Festival, zu den Preisträgern auf der Webseite des Festivals.

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