#Visions du Réel – Vom Sofa

 

 

(c) Nicolas-Brodard

 

Vom Sofa aus in die Welt schauen

 

Seit dem 7. April und noch bis Ostern läuft im schweizerischen Nyon das internationale Dokumentarfilmfestival Visions du réel.
Seit mittlerweile 51 Jahren werden hier Dokumentarfilme gezeigt, die in diversen Kategorien um Preise antreten.
In diesem Jahr findet das Festival wieder in real existierenden Kinos, mit echten Zuschauern statt, für Fachbesucher ist aber auch eine Online-Akkreditierung möglich. Höchste Zeit also, einen Blick ins Programm und auf die Filme zu werfen.

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

Die Eigenwilligen

 

Foragers von Jumana Manna. Eine schräge Geschichte von Palästinensern im Golan, die Wildpflanzen sammeln gehen. Die meisten Pflanzen, vor allem essbare Wilddisteln, sind für den Eigenverbrauch, manche werden auf improvisierten Märkten verkauft. Auf der anderen Seite, die israelische Forst- und Parkbehörde, die versucht, die überwiegend alten Männer und Frauen daran zu hindern, und hohe Geldbußen verhängt. Ein absurdes Theater in Art eines Katz- und Mausspiels.

Gejagt wird auch im argentinischen Film Luminum von Maximiliano Schonfeld.
Jagdobjekt sind hier allerdings Ufo-Sichtungen. Bereits in den 90er Jahren haben Mutter und Tochter sich mit Phänomenen beschäftigt, die sie eindeutig ausserirdischen Aktivitäten zuordnen. Und so wechselt der Film vom Heute, in einer nächtlichen argentinischen Landschaft, der ideale Projektionsfläche für alle möglichen Ideen, zu rauschigen 90er Jahre VHS Aufnahmen mit toten Rindern und TV-Auftritten der beiden Damen.
Gegen Ende des Films kippt die Geschichte vom Beobachtenden, Dokumentierenden ins Experimentelle, als hätten die beiden Frauen den Regisseur überzeugt. Lichtpunkte, die über den Himmel schwirren, immer weiter pixelig vergrössert, unterlegt mit Saint-Saëns „Schwan“, interpretiert auf einer singenden Säge. Die filmischen Genre-Grenzen fliessen ineinander, wie bei den Ufos, man weiss es halt nicht so genau.

Einen 10-minütigen Spass gibt es mit Eine Sekunde in Fränkli von Douwe Dijkstra. Mit viel Witz und technischen Spielereien geht der Regisseur der Frage nach, wer auf den 1 und 5 Franken Münzen zu sehen ist. Und könnte man da nicht auch etwas anderes zeigen? Vorschläge kommen aus dem Off, von befragten Passanten: ein nackter Po, Roger Federer, alles scheint denkbar.
Und warum gibt es keine 1 Franken Münzen von 2021 und 2022? Frech und witzig.

 

Wachsen und Werden

 

 

In Éclaireuses (Leading lights) von Lydie Wisshaupt-Claudel wird eine kleine, spendenfinanzierte Schule portraitiert. Wobei Schule den Kern nicht trifft. Hier werden 6-15-jährige Flüchtlingskinder unterrichtet, aber nicht in einer strengen schul- und lernkonformen Art. Keines der Kinder war jemals in einer Schule, sie sind oft schnell aggressiv und haben keine Vorstellung von Zeitstruktur. Das alles wird mit enormer Geduld von den Lehrerinnen vermittelt, ein Prozess, der dauert, und der Zuschauer ist ganz unmittelbar dabei. Die Kamera ist mitten im Geschehen und wartet ab, bleibt drauf, das fordert auch vom Zuschauer Geduld, erzählt dafür aber um so genauer, was für eine unglaubliche Leistung da erbracht wird.

Getting Old Stinks von Peter Entell ist ein Langzeitprojekt in XL-Version.
Über 15 Jahre hat der Regisseur seine Familie, mit besonderem Fokus auf den Vater, gefilmt. Immer wiederkehrende Situationen wie Geburtstage, das Vortragen eines Gedichts, aber auch Gespräche über das Altern. Angelegt als Brief an die früh verstorbene Mutter, ist der Film dennoch hauptsächlich eine Reflexion über das Altern, das Verschwinden und die Familie. Das Material lag dann nach Ende des Drehens noch einmal 15 Jahre in einer Schublade, bevor es jetzt zusammengestellt und präsentiert werden konnte.
Dokumentarfilm ist eine Form der Geduldsübung, immer.

 

 

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