Locarno#76 Neue Bilder?

 

(c) ch.dériaz

 

 

Neue Bilder

 

Das Festival läuft seit einer Woche, langsam machen sich Ermüdungserscheinung breit. Die Augen hätten gerne eine Pause vom harten Wechsel zwischen dunklem Kino und gleissendem Draussen, auch Sitzen macht gerade nur bedingt Spass.
Aber weiterhin gibt es Filme zu entdecken, viele von ihnen sind Weltpremieren.

 

 

Machtmissbrauch

 

Mehr als zwei Stunden nimmt sich Touched von Claudia Rorarius Zeit.
Trotzdem weiss man nie so genau, geht es ihr darum Körper, die nicht der „Norm“ entsprechen, zu zelebrieren, oder möchte sie eine zeitlupenlangsame Studie zu Machtmissbrauch mittels Sexualität erzählen. In einer nirgends verorteten Pflegeeinrichtung, in Pastellfarben mit Science-Fiction-Ambiente gestaltet, liegt der querschnittsgelähmte Alex. Die neue Pflegerin, Maria, eine mehr als sehr runde junge Frau, kümmert sich um ihn. Fast gleich von Anfang an, mit noch etwas schüchternem Blick, so als wüsste sie nicht genau, was zu tun ist, fängt sie an, sexuelle Grenzen zu testen und schnell zu überschreiten. Es entsteht eine sehr ungleichgewichtige Beziehung, in der sich Alex zwar immer wieder als extrem ekelhaft und sexistisch zeigt, aber im Wesentlich ist er der Missbrauchte. Maria hat zu jedem Zeitpunkt die Oberhand, was sein Wachen, sein Schlafen, sein Lieben angeht.
Der Film verstört weniger wegen seiner Sexualität, oder der „unperfekten“ Körper, als durch seine grosse Sprachlosigkeit, sein Schweben in einem nicht benannten Ort und Kontext. Und er suggeriert, dass marginalisierte Personen in automatischer Solidarität verbunden sind und es hier um ein gegenseitiges Ausleben von Bedürfnissen geht. Über die Länge und Langsamkeit ist das etwas langweilig, ein Zuschauer hat tatsächlich den ganzen Film über auf seinem Handy ein Spiel gespielt.

 

Übungen

 

Das Kurzfilmprogramm heute ist etwas sperrig, und vor allem wirken viele der Filme, als wären sie in erster Linie als Kameraübung gedacht, das Erzählerische bleibt dabei zum Teil auf der Strecke.

Das scheint besonders bei The Island von Julien Pujol der Fall zu sein. In kontrastreichen Schwarzweiss-Bildern, auf Film gedreht, zeigt er eine Gruppe von jungen Menschen irgendwo in einem Wald in Estland. Es ist Mittsommer, und so unterstützt das eigentümliche Sommerlicht die sehr schönen Bilder. Aber was genau die Gruppe dort tut, und wie genau die Beziehungen unter ihnen sind, erschliesst sich nicht wirklich. Sie scheinen sich durch ein akademisches Jahr treiben zu lassen, von Ort zu Ort, von Kontinent zu Kontinent, wie die Schwalben und Störche, die man wiederholt sieht. Und mit denen der Zuschauer am Ende des Films im hell strahlenden Marokko landet. Eine schöne, lange (39 Minuten) Kameraübung zum Thema Darstellung von Licht in Schwarzweiss-Bildern.

Mátalos a todos von Sebastian Molina Ruiz hingegen ist ziemlich bunt. Aber auch hier scheinen Figuren durch die Zeit, durch den Film zu treiben. Vage ahnt man, dass zwei Mädchen einander Videobotschaften schicken, ein Treffen vereinbaren, das aber nicht stattfindet. Das Warum erschliesst sich eher nicht. Bildlich wechselt der Film von den Aufnahmen der Mädchen in „Amateur-Qualität“ zu den Aufnahmen von den Mädchen in Film-Qualität.

In I Used to Live There von Ryan McKenna visualisieren die verschiedenen Ästhetiken den Zustand, das Innenleben der Figuren. Das ergibt einen interessanten, originellen Effekt. Eine Schauspielerin sucht nach einem Photographen, um ihr neue Portraits für ihre Bewerbungsmappe zu machen, und findet ausgerechnet einen, der immer mehr erblindet. Komplett in Schwarzweiss gedreht, sind die Sequenzen des Erblindenden zusätzlich durchgängig als verkratzte, ausbleichende, rauschende Aufnahmen gestaltet. Das Konzept ist gut.

Kinderfilm von Total Refusal ist die spannendste Arbeit dieses Programms. Im letzten Jahr gewann das Kollektiv bereits den Pardino d’oro. Diesmal kommen sie zurück, mit einer Geschichte, die wieder komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) stattfindet. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

Tragisch-Komisch

 

Lousy Carter von Bob Byington ist ein altmodischer Film. Ein etwas schlampiger, etwas kindischer Literaturprofessor, der seit Jahren nur über Fitzgeralds „Grossen Gatsby“ unterrichtet, erfährt, dass er nur noch 6 Monate zu leben hat. Was folgt, ist eine tragische Komödie, weniger hektisch, aber einem Woody Allen Film nicht unähnlich. Wendungen folgen wie kleine Hiebe, unerwartet, manche lustig, manche hart, und am Schluss doch ganz schön drastisch.

 

Unfreiwillig Komisch

 

In letzter Zeit werden immer häufiger Filme vollmundig angekündigt mit „hier wird ein neues Frauenbild gezeigt“, dabei ist es egal, ob Regisseure oder Regisseurinnen das vorgeben. Leider ist fast nie ein neues Frauenbild im Film zu finden.

Auch Première affaire von Victoria Musiedlak wird auf der Piazza so angekündigt, aber auch hier gibt es wieder dasselbe, alte Frauenbild zu finden. Eine sehr junge Anwältin wird Abends auf dem Weg von einem Barbesuch von ihrem Chef zu einer Vernehmung geschickt. Im Pailletten-Minirock macht sie sich auf den Weg. Dass sie eigentlich eher mit Wirtschaftsrecht Erfahrung hat, und es hier um Strafrecht geht, wischt der Chef beiseite. Die Vernehmung des 18-Jährigen verwandelt sich recht schnell in eine Verhaftung wegen Mordverdachts, und ab da läuft der Film aus dem Ruder.
Einerseits will die Anwältin den Fall unbedingt behalten, andererseits lässt sie sich völlig sinnentleert auf ein Verhältnis mit dem ermittelnden Polizisten ein. Sie wurschtelt ein bisschen an ihrem Fall, lernt von ihrem Chef, dass es für Anwälte egal ist, ob der Klient schuldig ist oder nicht, solange er sagt, er sein unschuldig, habe man ihn auch so zu verteidigen. Auch die Affäre mit dem polizisten wird mit allen alten, dümmlichen Klischees abgehandelt, alles wie gehabt. Und spannend ist die Geschichte eigentlich auch nicht. Aber immerhin haben einige der Klischees auf der Piazza zu, vermutlich ungeplanten, Heiterkeitsanfällen gesorgt.

Wenn es also neue Bilder gibt, dann nur im rein visuellen Sinn, inhaltlich bewegen sich die Filme so weit alle auf bekanntem Territorium.

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

Im Kino

 

Manchmal fragt man sich, was in anderen Menschen vorgeht. Warum glaubt man, keine zwei Stunden ohne E-Mails, Benachrichtigungen und Soziale-Medien auskommen zu können? Muss man wirklich im Kino, mitten während eines Films, aufs Handy schauen, mit grell erleuchtetem Display obendrein? Muss man, wenn am Ende einer Sitzreihe ein Platz frei ist, wirklich mit starrem Blick auf diesen Platz alle anderen Leute treten? Der Platz verschwindet ganz selten plötzlich in einer Dimensionsfalte.

 

Schwelende Feuer

 

Whispers of Fire & Water von Lubdhak Chatterjee ist ein bildlich und akustisch sehr intensiver Film. Die erste Hälfte des Films stromert ein Klangkünstler aus Kalkutta auf und um einen Braunkohle-Tagebau herum. Es qualmt, schwelt, ist dreckig, und doch arbeiten und leben Menschen in dieser Hölle, während man vom Zusehen schon Atemnot bekommt. Beindruckende Bilder und angsteinflössende Töne, und eine unterschwellige Bedrohung, durch die Polizei, lokale Behörden. Genau wie der Protagonist der Geschichte, weiss man nie genau, was los ist, von wo Gefahr droht; aber man ist mitten drin.
Ein Arbeiter des Tagebaus erzählt ihm von seinem Dorf, mitten im Wald, und der Künstler aus der Stadt folgt ihm in die Natur, die so dicht ist, wie vorher die Feuer der Braunkohle. Aber auch hier scheinen Bedrohungen in der Luft zu liegen, unbekannt ihr Ursprung, trotzdem vorhanden, und der Mann scheint sich in der Natur immer mehr zu verlieren.
Ausser, dass in den Dialogsequenzen die Sprache und die Geräusche alle leicht asynchron sind, ein erstaunlicher Film.

 

Veränderungen

 

Ein Kurzfilmprogramm zum Thema Veränderung in verschiednen Formen.
Solo la luna comprenderá von Kim Torres ist vielleicht der unverständlichste Film des Programms. Eine Off-Stimme erzählt von einem schrecklichen Tag, Jahre zurück, einem Tag, an dem der Ich-Erzähler fürchtete zu sterben. Die Filmbilder zeigen Jugendliche, die an einem Strand in Costa Rica spielen, lernen, Spass haben. Im Wasser liegt ein Schiffswrack, das möglicherweise den Erzähler 60 Jahre vorher an diese Küste gebracht hat.

Wenn man auf der „falschen Seite“ der Stadt geboren wurde, ist das Leben vom Anfang weg schwierig. Die falsche Seite von Salerno, und wie sich Jugendliche doch von ihrem Schicksal lösen, erzählt Z.O. von Loris G. Nese. In animierten Realbildern erfährt man von einer Jugend, wo man nur dazugehört, wenn man Schlimmes tut, wenn die Taten der Väter die Leben der Kinder bestimmen.
Und doch, manchmal schafft man es, den Weg zu verlassen, eine Änderung herbeizuführen.

Touristen verändern Orte durch ihre Anwesenheit. In Been There zeigt Corina Schwingruber Ilić Touristenziele haarscharf neben den Stellen, an denen sich alle tummeln, um die immer gleichen Photos zu machen. Venedig, Paris, Rom, Wien, Alpen. Immer die Touristen, oder wenigstens einige im Bild, aber nie den Hintergrund ihres Begehrens. Das ist irre komisch und auch sehr entlarvend.

Wieder eine im Off erzählte Geschichte. Remember, Broken Crayons Colour Too von Urša Kastelic und Shannet Clemmings schildert den brutalen Angriff auf eine jamaikanische Transfrau, und ihr anschliessendes Ankommen in der Schweiz. In den Bildern ist die Protagonistin bereits in Sicherheit, aber die zugefügten Schmerzen bleiben ihr.

The Lovers von Carolina Sandvik ist ein brillanter Stopp-Motion-Film. Ein Pärchen im Restaurant, plötzlich fängt der Mann an sich immer mehr aufzulösen. Seine Haut reisst, sein Fleisch blättert ab, bis beide zuhause sind, ist von ihm nur noch ein Skelett übrig. Sie scheinen sich mit dieser Veränderung dennoch zu arrangieren. Bis auch bei der Frau erste Risse in der Haut auftauchen, und die Auflösung beginnt. Veränderung auf die groteske Spitze getrieben.

 

Ungezogen

 

Am Ende von Rossosperanza von Annarita Zambrano gibt es frenetischen Applaus und wildes Johlen. Der Film erzählt, in verschiedenen, nonlinearen Zeitebenen, von einer Gruppe Jungendlicher, alles Kinder schwerreicher Familien, die alle irgendetwas „angestellt“ haben. Sie treffen in einer teuren, noblen psychiatrischen Einrichtung zusammen. Tatsächlich reichen ihre Untaten von Promiskuität über Brandstiftung zu Mord, zum Teil von allem ein bisschen. Durch die Zeitsprünge bleibt der Film in ständiger Spannung, während die Figuren immer mehr miteinander verwoben werden. Und auch der umherstreifende Tiger ist Teil der ineinandergreifenden Geschichten. Ein sommerlicher Horror nicht nur durch die Jugendlichen, sondern auch an den Jugendlichen. Der Schlussapplaus ist mehr als wohlverdient.

 

(c) ch.dériaz

 

Während Locarno mittags noch friedlich vor sich hin köchelt, ist es gegen Abend plötzlich drückend und bewölkt, Zeit das Regencape zu holen.

 

 

 

 

 

 

Tauchen und Kämpfen

 

Koreanisches Action-Kino am Abend. Milsu (Smugglers) von RYOO Seung-wan fängt etwas langsam an, wird dann aber in der zweiten Hälfte wirklich rasant.

Korea in den 1970er Jahren, das Tauchen nach Muscheln und Fischen deckt den Lebensunterhalt nicht mehr, da kommt das Angebot, das Können der Taucherinnen zu nutzen, um Schmugglerware aus dem Meer zu holen, gerade recht. Als eine Ausfahrt an die Polizei verraten wird, kommt es zu einem Unfall, und die Taucherinnen werden, bis auf eine, eingesperrt.
Zwei Jahre später sind die Frauen wieder draussen, Gerüchte machen sich breit. Hat Choon-ja, die davon gekommen war, den Verrat begangen, wie ihre Freundin Jin-sook vermutet? Als Choon-ja wieder auftaucht, und neue Pläne für ertragreicheren Schmuggel mitbringt, sind alle skeptisch. Und langsam beginnt ein wildes Intrigenspiel, in dem man manchmal den Überblick verliert. Wer betrügt wen, und wer betreibt doppeltes Spiel? Es wird mit allen Mitteln gekämpft, gemetzelt, verraten, und zum letzten Showdown treten die Taucherinnen unter Wasser an. Trotz des langsamen Starts, viel Tempo und Action, und Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen. Ach ja, und einige grosse Haie dürfen in dem Spektakel natürlich auch nicht fehlen. Der Piazza hat das gefallen.

Geregnet hat es dann doch nicht.

 

(c) ch.dériaz

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

fünf × drei =