#Diagonale 2024 Der schöne Schein

 

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Der schöne Schein

 

Der Samstag in Graz zeigt sich sommerlich und selbst Strassenmusiker sind hier filmaffin. Oder zumindest der eine, der mit Akkordeon Filmmusiken spielt, von Dschungelbuch bis Star Wars, sehr hübsch macht er das.

 

Übernahmen

 

Der Tag startet mit einem Kurzspielfilmprogramm, Filme, in denen vieles anders ist, als es scheint, und die alle auf die eine oder andere Art subtile Grausamkeit verbreiten.
Ausgenommen davon vielleicht Gana – Neon Gold von Ganaël Dumreicher. Der Musikclip mit Dumreicher als Sänger, Performer, Regisseur und Produzent ist ziemlich schräg. Die etwas rohe Machart und der Stil haben einen 90-er Jahre Charme. Es blitzt Gold im Mund, und das Essen auf überbordend vollen Tischen ist zum Spielen da. Vielleicht hat das auch etwas subtil Grausames.

Söder von Raoul Bruck fängt als Webseiten-Kollage an, entwickelt sich aber rasch zu einer bösen Geschichte. Eine Frau engagiert einen Mann, der ihren Ehemann töten soll. Der Profikiller in Spe scheint aber eher in seinen Träumen und im Internet ein harter Kerl zu sein. Der Auftrag wandelt sich im Verlauf des Films dramatisch. Gewitzt gemacht, mit kleinen, scharfen Wendungen.

Besser so von Lotta Schweikert erzählt von Nora, einer jungen Frau, die ihr Leben und dessen Aussicht auf Erfolg mithilfe von Listen und Tabellen bewertet. Egal, ob ihre Versuche Gurken einzulegen, oder ihre Aktionen als Klimaaktivistin, alles wird in Zahlen gefasst und durchgerechnet. Dumm nur, dass das Ergebnis für sie ergibt „das geht sich nicht aus“, heisst: Sie wird es zu nichts bringen im Leben. Konsequenterweise fährt sie los, um sich das Leben zu nehmen. Absurderweise hat sie auf dieser Fahrt lauter schöne, fröhliche Erlebnisse, aber Nora hat es ausgerechnet: Es geht sich nicht aus.

Transfrauen, die sich als Männer ausgeben, um einen Überfall zu begehen, das ist die Kurzfassung von Isa Schieches  Die Räuberinnen. Aber es geht nicht um den Überfall, sondern um das, was die Figuren durchleben, auf sich nehmen, um diese zeitweilige Rückverwandlung zu schaffen. Auch, oder gerade, weil man nie erfährt, worum es in dem Überfall geht, ist das eine bewegende Metamorphose.

Fast noch radikaler ist die Verwandlung in Strangers Like Us von Felix Krisai und Pipi Fröstl. Ein Paar lädt ein Paar ein, man kennt sich nicht gut, aber der Abend verläuft erstmal freundlich. Szene für Szene verschieben sich die Rollen, die Perspektiven, wer wohnt in dem Haus, wer ist zu Besuch? Mit jedem Schnitt verschiebt sich die Sicherheit, zu wissen, wer was ist. Und gerade wenn man glaubt zu verstehen, dass der Film sich einmal im Kreis gedreht hat, erkennt man, dass es sich um eine Spirale handelt.

 

 

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Nach Hause

 

Der Photograph und Filmemacher dreht seinen Freund und Photograph, der mit 53 Jahren zurück zu seiner Mutter und in sein Kinderzimmer zieht. Die guten Jahre von Reiner Riedler hat vorab sehr viel Lorbeeren bekommen, entsprechend voll auch der Kinosaal. Langsam erfährt man in den Gesprächen, die mit der Kamera beobachtet werden, sowohl von der beginnenden Demenz der Mutter als auch von den Depressionen des Sohnes. Ein Bilderbogen der Familie öffnet sich, Erinnerungen an die Kindheit, Familienreisen, aber auch die photographische Arbeit des Sohnes. Manche Sequenzen sind wirklich sehr schön und auch aussergewöhnlich gestaltet, oft sind sie aber eher zweckmässig, wenn auch durchaus gut.
Viel mehr als die Protagonisten berührt das Haus, in dem die Zeit nicht nur konserviert ist, sondern es so etwas wie Zeitschichten gibt. Das Kinderzimmer ist beim Einzug leer, aber es hängen noch alle Poster an den Wänden, die Kellerräume sehen aus wie der Wunschtraum eines Archäologen und selbst im Garten gibt es heimliche Zeitberge in Form alter Waschmaschinen oder unbenutzter Möbel. Dennoch ist es mutig von Mutter und Sohn, sich so vor der Kamera und dem unbekannten Publikum zu entblössen.

 

Verspielt

 

Noch ein Kurzspielfilmprogramm, diesmal mit sehr verspielt-versponnenen Filmen. In Im Traum sind alle Quallen feucht von Marie Luise Lehner treffen unterschiedlichste Menschen in einer Sauna aufeinander. Aber nicht alle kennen sich aus mit den Saunaregeln. Auch das Exponieren des eigenen Körpers scheint nicht allen angenehm. Ein fast tänzerischer Traum von Wollen und Wünschen im exotischen Ambiente einer wunderschönen Badeanstalt.

Worum es in Ich hab dich tanzen sehn von Sarah Pech geht, erschliesst sich nicht wirklich. Ein Mädchen läuft in der Dämmerung und in der Nacht durch einen Ort, scheint Menschen hinter ihren beleuchteten Fenstern zu beobachten, hackt Holz, läuft weiter. Warum? Auch der Katalogtext hilft nicht wirklich weiter.

Ein Teil von mir von Vivian Bausch fängt ganz friedlich und sanft an. Eine Geburtstagsfeier, die 16-Jährige bekommt einen Kuchen, aber immer dabei, der Freund der Mutter mit seiner Videokamera. Jahre später, zum 50. Geburtstag der Mutter, bricht das Trauma der Tochter endgültig hervor. Missbrauch wird angedeutet, Verdrängung und Empathiemangel. Trotzdem gibt es am Ende eine Versöhnung zwischen Mutter und Tochter. Der Film ist gerade in seinen Auslassungen sehr stark und bedrückend.

Kinderfilm von Total Refusal ist auch beim zweiten Mal sehen einfach toll. In und aus der Computerspielwelt des GTA V zaubert das Künstlerkollektiv eine eigene Geschichte. Etwas fehlt in der Welt, aber Edgar in seinem Auto kommt nicht drauf, was das sein mag, selbst als er in den leeren Schulbus zusteigt nicht. Versponnen, kreativ und sehr lustig.

ZINN – Das Kapital von Leonie Bramberger ist ein animiertes Musikvideo. Sehr schön, aber eigentlich möchte man es nochmal sehen, um wirklich sehen zu können.

 

 

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Familienbande

 

Wer sich für Film interessiert, für den sind G.W. Pabst und seine ikonischen Filme alles andere als unbekannt. Viel weniger bekannt ist Pabst Frau, Trude. Dabei spielte sie in einem seiner Filme eine kleine Nebenrolle und schrieb zu einem anderen das Drehbuch. Pandoras Vermächtnis von Angela Christlieb schliesst diese Wissenslücke und öffnet den Blick nicht nur auf die Ehefrau des Regisseurs, sondern auch auf seine Familie. In assoziativen Erzählbögen, untermalt von Trude Pabst Briefen und Traumtagebüchern, verwebt der Film Geschichte und Privates mit Filmausschnitten und zeichnet so ein Familienbild, das aus den 20-er Jahren bis ins Heute reicht. Trude, die Frau an G.Ws Seite, die Grossmutter, der Krieg, aber auch das Leben der Enkel, alles verbindet sich und findet Reflexe in Pabst Filmen.

 

#FestivalTipp Viennale

 

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Eine kleine Auswahl grosser Filme

 

 

Vom 19.10. bis 31.10. findet die Viennale statt, das Programm ist wie immer üppig und vielfältig. Hier ein paar – wenige – Festival-Tipps.

Lang

Ganz dringend sollte man versuchen, den rumänischen Film Nu astepta prea mult de la sfârșitul lumii (Do Not Expect Too Much from the End of the World) von Radu Jude anzuschauen.
Jude gehört zu den originellsten, kompromisslosesten europäischen Regisseuren. Und auch wenn sein aktueller Film mit fast drei Stunden lang erscheint, wenn man erstmal schaut, vergeht die Zeit wie im Flug. Sein Sinn für subtilen und subversiven Humor und sein Gefühl für Rhythmus und Schnitt sind jedes Mal eine grosse Freude. Er mischt einen Film über die Filmbranche mit einem Film aus den 80er Jahren und kurzen TikTok-Clips. Die Basisgeschichte bleibt dabei in körnigem Schwarzweiss, während der 80er-Jahre-Film (Angela goes on) in all seiner verwaschenen Farbkraft dagegenhält. Fast atemlos folgt der Film einer jungen Frau, die für eine Produktion als Mädchen für alles herhalten muss, Casting, Fahrtdienst, was gerade anfällt, und das unterbezahlt und in sehr langen Arbeitstagen. Autofahrten durch den Verkehr in Bukarest geraten so zu ihrer persönlichen Kampfzone. Zum Ausgleich politisiert sie, versteckt hinter einem schlechten TikTok-Filter, als Bobby sexistisch und ordinär zu Themen des Alltags, der Politik, der Sexualität. Der Film schafft eine umfassende Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Komödie, der Übertreibung, aber immer auch der Montage. Allein die gegeneinander geschnittenen, sich ergänzenden oder kommentierenden Fahrszenen von heute und aus den 80er Jahren wären eine umfassende Analyse wert. In Locarno entschuldigte er sich vor der Premiere für die Länge, mit dem Hinweis, der Film musste so lang werden.
Er läuft an diesen Terminen.


Kürzer

Ein viel kürzerer Film, mit nur 65 Minuten, ist Yannick von Quentin Dupieux.
Aber auch das macht ihn für normale Kinoprogrammierung schwer vermittelbar. Und deshalb sei auch dieser fabelhaft groteske und intelligente Film dringend empfohlen.
Er ist ein Meisterwerk der Ideen und vor allem der Schauspielkunst. Der Film spielt fast ausschliesslich in einem kleinen Theater, wo gerade ein mässiges Boulevardstück läuft. Ein Zuschauer steht nach einem Moment auf, stellt sich höflich vor, und beklagt sich über die Qualität des Stücks. Extra freigenommen hat er sich, um ins Theater zu gehen, um auf andere Ideen zu kommen, und jetzt das, er wird nur noch mehr runtergezogen, er möchte sich beim Verantwortlichen beschweren. Von dieser Ausgangslage entwickeln sich in dem begrenzten Raum Situationen, die von schräg zu gefährlich, von verständnisvoll zu dramatisch und wieder zurückkippen. Ganz wunderbar ist das ausdrucksstarke und nuancenreiche Spiel des Hauptdarstellers Raphaël Quenard.
Im Programm an diesen Terminen.


Noch kürzer

Bei den Kurzfilmen sei Kinderfilm des Kollektivs Total Refusal sehr empfohlen. Was dieses Regie-Kollektiv macht, ist eigentlich jedes Mal witzig, erstaunlich und wirklich innovativ. Die Geschichte findet komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) statt. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.

 

Einer geht noch

Selbst wenn er demnächst sowieso in die Kinos kommt, Anatomie d’une chute von Justine Triet ist ein mit Recht hochgelobter und mit Preisen belohnter Film.
Er ist spannend, extrem gut erzählt und irre gut gespielt. Was bei diesem Gerichtsdrama, wenn man es so nennen mag, besonders gelungen ist, ist die Ungewissheit, in der der Zuschauer bis zum Schluss bleibt. Alle Möglichkeiten sind offen, alles kann passiert sein. Die einzigen Momente, in denen man wirklich Partei beziehen möchte, sind bei den immer kruder werdenden Aussagen des Staatsanwalts, aber dann wieder: wer weiss?
Hier die Spieltermine

Eine kleine Auswahl grosser europäischer Filme, die jenseits bekannter Pfade Geschichten erzählen.

Das gesamte Programm, inklusive Rahmenprogramm, findet sich auf der Festivalseite.

 

Locarno#76 Neue Bilder?

 

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Neue Bilder

 

Das Festival läuft seit einer Woche, langsam machen sich Ermüdungserscheinung breit. Die Augen hätten gerne eine Pause vom harten Wechsel zwischen dunklem Kino und gleissendem Draussen, auch Sitzen macht gerade nur bedingt Spass.
Aber weiterhin gibt es Filme zu entdecken, viele von ihnen sind Weltpremieren.

 

 

Machtmissbrauch

 

Mehr als zwei Stunden nimmt sich Touched von Claudia Rorarius Zeit.
Trotzdem weiss man nie so genau, geht es ihr darum Körper, die nicht der „Norm“ entsprechen, zu zelebrieren, oder möchte sie eine zeitlupenlangsame Studie zu Machtmissbrauch mittels Sexualität erzählen. In einer nirgends verorteten Pflegeeinrichtung, in Pastellfarben mit Science-Fiction-Ambiente gestaltet, liegt der querschnittsgelähmte Alex. Die neue Pflegerin, Maria, eine mehr als sehr runde junge Frau, kümmert sich um ihn. Fast gleich von Anfang an, mit noch etwas schüchternem Blick, so als wüsste sie nicht genau, was zu tun ist, fängt sie an, sexuelle Grenzen zu testen und schnell zu überschreiten. Es entsteht eine sehr ungleichgewichtige Beziehung, in der sich Alex zwar immer wieder als extrem ekelhaft und sexistisch zeigt, aber im Wesentlich ist er der Missbrauchte. Maria hat zu jedem Zeitpunkt die Oberhand, was sein Wachen, sein Schlafen, sein Lieben angeht.
Der Film verstört weniger wegen seiner Sexualität, oder der „unperfekten“ Körper, als durch seine grosse Sprachlosigkeit, sein Schweben in einem nicht benannten Ort und Kontext. Und er suggeriert, dass marginalisierte Personen in automatischer Solidarität verbunden sind und es hier um ein gegenseitiges Ausleben von Bedürfnissen geht. Über die Länge und Langsamkeit ist das etwas langweilig, ein Zuschauer hat tatsächlich den ganzen Film über auf seinem Handy ein Spiel gespielt.

 

Übungen

 

Das Kurzfilmprogramm heute ist etwas sperrig, und vor allem wirken viele der Filme, als wären sie in erster Linie als Kameraübung gedacht, das Erzählerische bleibt dabei zum Teil auf der Strecke.

Das scheint besonders bei The Island von Julien Pujol der Fall zu sein. In kontrastreichen Schwarzweiss-Bildern, auf Film gedreht, zeigt er eine Gruppe von jungen Menschen irgendwo in einem Wald in Estland. Es ist Mittsommer, und so unterstützt das eigentümliche Sommerlicht die sehr schönen Bilder. Aber was genau die Gruppe dort tut, und wie genau die Beziehungen unter ihnen sind, erschliesst sich nicht wirklich. Sie scheinen sich durch ein akademisches Jahr treiben zu lassen, von Ort zu Ort, von Kontinent zu Kontinent, wie die Schwalben und Störche, die man wiederholt sieht. Und mit denen der Zuschauer am Ende des Films im hell strahlenden Marokko landet. Eine schöne, lange (39 Minuten) Kameraübung zum Thema Darstellung von Licht in Schwarzweiss-Bildern.

Mátalos a todos von Sebastian Molina Ruiz hingegen ist ziemlich bunt. Aber auch hier scheinen Figuren durch die Zeit, durch den Film zu treiben. Vage ahnt man, dass zwei Mädchen einander Videobotschaften schicken, ein Treffen vereinbaren, das aber nicht stattfindet. Das Warum erschliesst sich eher nicht. Bildlich wechselt der Film von den Aufnahmen der Mädchen in „Amateur-Qualität“ zu den Aufnahmen von den Mädchen in Film-Qualität.

In I Used to Live There von Ryan McKenna visualisieren die verschiedenen Ästhetiken den Zustand, das Innenleben der Figuren. Das ergibt einen interessanten, originellen Effekt. Eine Schauspielerin sucht nach einem Photographen, um ihr neue Portraits für ihre Bewerbungsmappe zu machen, und findet ausgerechnet einen, der immer mehr erblindet. Komplett in Schwarzweiss gedreht, sind die Sequenzen des Erblindenden zusätzlich durchgängig als verkratzte, ausbleichende, rauschende Aufnahmen gestaltet. Das Konzept ist gut.

Kinderfilm von Total Refusal ist die spannendste Arbeit dieses Programms. Im letzten Jahr gewann das Kollektiv bereits den Pardino d’oro. Diesmal kommen sie zurück, mit einer Geschichte, die wieder komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) stattfindet. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.

 

 

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Tragisch-Komisch

 

Lousy Carter von Bob Byington ist ein altmodischer Film. Ein etwas schlampiger, etwas kindischer Literaturprofessor, der seit Jahren nur über Fitzgeralds „Grossen Gatsby“ unterrichtet, erfährt, dass er nur noch 6 Monate zu leben hat. Was folgt, ist eine tragische Komödie, weniger hektisch, aber einem Woody Allen Film nicht unähnlich. Wendungen folgen wie kleine Hiebe, unerwartet, manche lustig, manche hart, und am Schluss doch ganz schön drastisch.

 

Unfreiwillig Komisch

 

In letzter Zeit werden immer häufiger Filme vollmundig angekündigt mit „hier wird ein neues Frauenbild gezeigt“, dabei ist es egal, ob Regisseure oder Regisseurinnen das vorgeben. Leider ist fast nie ein neues Frauenbild im Film zu finden.

Auch Première affaire von Victoria Musiedlak wird auf der Piazza so angekündigt, aber auch hier gibt es wieder dasselbe, alte Frauenbild zu finden. Eine sehr junge Anwältin wird Abends auf dem Weg von einem Barbesuch von ihrem Chef zu einer Vernehmung geschickt. Im Pailletten-Minirock macht sie sich auf den Weg. Dass sie eigentlich eher mit Wirtschaftsrecht Erfahrung hat, und es hier um Strafrecht geht, wischt der Chef beiseite. Die Vernehmung des 18-Jährigen verwandelt sich recht schnell in eine Verhaftung wegen Mordverdachts, und ab da läuft der Film aus dem Ruder.
Einerseits will die Anwältin den Fall unbedingt behalten, andererseits lässt sie sich völlig sinnentleert auf ein Verhältnis mit dem ermittelnden Polizisten ein. Sie wurschtelt ein bisschen an ihrem Fall, lernt von ihrem Chef, dass es für Anwälte egal ist, ob der Klient schuldig ist oder nicht, solange er sagt, er sein unschuldig, habe man ihn auch so zu verteidigen. Auch die Affäre mit dem polizisten wird mit allen alten, dümmlichen Klischees abgehandelt, alles wie gehabt. Und spannend ist die Geschichte eigentlich auch nicht. Aber immerhin haben einige der Klischees auf der Piazza zu, vermutlich ungeplanten, Heiterkeitsanfällen gesorgt.

Wenn es also neue Bilder gibt, dann nur im rein visuellen Sinn, inhaltlich bewegen sich die Filme so weit alle auf bekanntem Territorium.

 

 

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Im Kino

 

Manchmal fragt man sich, was in anderen Menschen vorgeht. Warum glaubt man, keine zwei Stunden ohne E-Mails, Benachrichtigungen und Soziale-Medien auskommen zu können? Muss man wirklich im Kino, mitten während eines Films, aufs Handy schauen, mit grell erleuchtetem Display obendrein? Muss man, wenn am Ende einer Sitzreihe ein Platz frei ist, wirklich mit starrem Blick auf diesen Platz alle anderen Leute treten? Der Platz verschwindet ganz selten plötzlich in einer Dimensionsfalte.

 

Schwelende Feuer

 

Whispers of Fire & Water von Lubdhak Chatterjee ist ein bildlich und akustisch sehr intensiver Film. Die erste Hälfte des Films stromert ein Klangkünstler aus Kalkutta auf und um einen Braunkohle-Tagebau herum. Es qualmt, schwelt, ist dreckig, und doch arbeiten und leben Menschen in dieser Hölle, während man vom Zusehen schon Atemnot bekommt. Beindruckende Bilder und angsteinflössende Töne, und eine unterschwellige Bedrohung, durch die Polizei, lokale Behörden. Genau wie der Protagonist der Geschichte, weiss man nie genau, was los ist, von wo Gefahr droht; aber man ist mitten drin.
Ein Arbeiter des Tagebaus erzählt ihm von seinem Dorf, mitten im Wald, und der Künstler aus der Stadt folgt ihm in die Natur, die so dicht ist, wie vorher die Feuer der Braunkohle. Aber auch hier scheinen Bedrohungen in der Luft zu liegen, unbekannt ihr Ursprung, trotzdem vorhanden, und der Mann scheint sich in der Natur immer mehr zu verlieren.
Ausser, dass in den Dialogsequenzen die Sprache und die Geräusche alle leicht asynchron sind, ein erstaunlicher Film.

 

Veränderungen

 

Ein Kurzfilmprogramm zum Thema Veränderung in verschiednen Formen.
Solo la luna comprenderá von Kim Torres ist vielleicht der unverständlichste Film des Programms. Eine Off-Stimme erzählt von einem schrecklichen Tag, Jahre zurück, einem Tag, an dem der Ich-Erzähler fürchtete zu sterben. Die Filmbilder zeigen Jugendliche, die an einem Strand in Costa Rica spielen, lernen, Spass haben. Im Wasser liegt ein Schiffswrack, das möglicherweise den Erzähler 60 Jahre vorher an diese Küste gebracht hat.

Wenn man auf der „falschen Seite“ der Stadt geboren wurde, ist das Leben vom Anfang weg schwierig. Die falsche Seite von Salerno, und wie sich Jugendliche doch von ihrem Schicksal lösen, erzählt Z.O. von Loris G. Nese. In animierten Realbildern erfährt man von einer Jugend, wo man nur dazugehört, wenn man Schlimmes tut, wenn die Taten der Väter die Leben der Kinder bestimmen.
Und doch, manchmal schafft man es, den Weg zu verlassen, eine Änderung herbeizuführen.

Touristen verändern Orte durch ihre Anwesenheit. In Been There zeigt Corina Schwingruber Ilić Touristenziele haarscharf neben den Stellen, an denen sich alle tummeln, um die immer gleichen Photos zu machen. Venedig, Paris, Rom, Wien, Alpen. Immer die Touristen, oder wenigstens einige im Bild, aber nie den Hintergrund ihres Begehrens. Das ist irre komisch und auch sehr entlarvend.

Wieder eine im Off erzählte Geschichte. Remember, Broken Crayons Colour Too von Urša Kastelic und Shannet Clemmings schildert den brutalen Angriff auf eine jamaikanische Transfrau, und ihr anschliessendes Ankommen in der Schweiz. In den Bildern ist die Protagonistin bereits in Sicherheit, aber die zugefügten Schmerzen bleiben ihr.

The Lovers von Carolina Sandvik ist ein brillanter Stopp-Motion-Film. Ein Pärchen im Restaurant, plötzlich fängt der Mann an sich immer mehr aufzulösen. Seine Haut reisst, sein Fleisch blättert ab, bis beide zuhause sind, ist von ihm nur noch ein Skelett übrig. Sie scheinen sich mit dieser Veränderung dennoch zu arrangieren. Bis auch bei der Frau erste Risse in der Haut auftauchen, und die Auflösung beginnt. Veränderung auf die groteske Spitze getrieben.

 

Ungezogen

 

Am Ende von Rossosperanza von Annarita Zambrano gibt es frenetischen Applaus und wildes Johlen. Der Film erzählt, in verschiedenen, nonlinearen Zeitebenen, von einer Gruppe Jungendlicher, alles Kinder schwerreicher Familien, die alle irgendetwas „angestellt“ haben. Sie treffen in einer teuren, noblen psychiatrischen Einrichtung zusammen. Tatsächlich reichen ihre Untaten von Promiskuität über Brandstiftung zu Mord, zum Teil von allem ein bisschen. Durch die Zeitsprünge bleibt der Film in ständiger Spannung, während die Figuren immer mehr miteinander verwoben werden. Und auch der umherstreifende Tiger ist Teil der ineinandergreifenden Geschichten. Ein sommerlicher Horror nicht nur durch die Jugendlichen, sondern auch an den Jugendlichen. Der Schlussapplaus ist mehr als wohlverdient.

 

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Während Locarno mittags noch friedlich vor sich hin köchelt, ist es gegen Abend plötzlich drückend und bewölkt, Zeit das Regencape zu holen.

 

 

 

 

 

 

Tauchen und Kämpfen

 

Koreanisches Action-Kino am Abend. Milsu (Smugglers) von RYOO Seung-wan fängt etwas langsam an, wird dann aber in der zweiten Hälfte wirklich rasant.

Korea in den 1970er Jahren, das Tauchen nach Muscheln und Fischen deckt den Lebensunterhalt nicht mehr, da kommt das Angebot, das Können der Taucherinnen zu nutzen, um Schmugglerware aus dem Meer zu holen, gerade recht. Als eine Ausfahrt an die Polizei verraten wird, kommt es zu einem Unfall, und die Taucherinnen werden, bis auf eine, eingesperrt.
Zwei Jahre später sind die Frauen wieder draussen, Gerüchte machen sich breit. Hat Choon-ja, die davon gekommen war, den Verrat begangen, wie ihre Freundin Jin-sook vermutet? Als Choon-ja wieder auftaucht, und neue Pläne für ertragreicheren Schmuggel mitbringt, sind alle skeptisch. Und langsam beginnt ein wildes Intrigenspiel, in dem man manchmal den Überblick verliert. Wer betrügt wen, und wer betreibt doppeltes Spiel? Es wird mit allen Mitteln gekämpft, gemetzelt, verraten, und zum letzten Showdown treten die Taucherinnen unter Wasser an. Trotz des langsamen Starts, viel Tempo und Action, und Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen. Ach ja, und einige grosse Haie dürfen in dem Spektakel natürlich auch nicht fehlen. Der Piazza hat das gefallen.

Geregnet hat es dann doch nicht.

 

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#Locarno75_Familienstress

 

neue Stühle
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Die Stühle

 

Es sieht so aus, als habe sich das Festival zum 75. Geburtstag einen Satz neuer Stühle für die Piazza geschenkt. Bisher ist zumindest keiner während der Vorführung zerbrochen. Die ikonischen gelben und schwarzen Plastikstühle sehen auch irgendwie frischer aus, bequemer sind sie allerdings nicht gewordenen.

 

Sternenstaub

 

Bei einigen Filmen fragt man sich schon, was die Auswahlkommission sich beim Programmieren gedacht hat. Bei Fragments from heaven von Adnane Baraka zum Beispiel. Ausgehend von einem Meteoriten, der irgendwo in der marokkanischen Wüste aufgeschlagen ist, ist der Film eine lange, elegische Meditation über die Zeit, das Dasein und dessen Sinnlosigkeit. Eine Zeitlang sind die zerklüfteten, verwitterten Gesichter der lokalen Hirten, vor ebenso verwitterter und zerklüfteter Landschaft, reizvoll anzusehen. Ihre Suche nach Fragmenten des Meteoriten, ihre Gedanken, die fast gehaucht, als Off-Texte, über den Bildern liegen, das alles trägt einen Moment, nutzt sich aber rasch ab. Anfangs gibt es noch einen Parallelstrang, in dem an der Uni über die Beschaffenheit von Meteoriten geforscht, aber auch philosophiert, wird. Aber dieser Strang endet recht abrupt, dient nur als eine Art metaphysischem Stichwortgeber: Wir sind alle Sternenstaub und Leben ist ein Kreislauf.
So weit ist der Film nur etwas langweilig. Kurz vor Ende wird er dann tatsächlich ärgerlich, als eine minutenlange Sequenz mit eruptierender Sonnenoberfläche, kollidierenden Steinen im All und nerviger Musik eingeschoben wird, nur um dann doch wieder bei den Hirten in der Wüste zu landen. Der Kreis der sinnfreien Bewegungen geschlossen.

 

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Das Ich

 

Zur Belohnung dann ein ganz starkes, tolles Kurzfilmprogramm.
Rien ne sera plus comme avant von Elina Löwensohn sind drei Kurzfilme in einem, ein filmisches Triptychon, gedreht in 8- und 16 mm. Sie treibt dabei eine Art Schabernack auf visueller und akustischer Ebene. Texte, die wie surrealistische Gedichte klingen, begleiten suggestive Bilder, die das Ich infrage stellen, und die über den Schnitt einen dramatischen Bogen bekommen. Das ist schön und lustig und ein wenig befremdlich.
Dancing colors von M.Reza Fahriyansyah erzählt auf einfühlsame und heitere Art von der mangelnden Akzeptanz von Homosexualität in Indonesien. Ein islamischer Geistlicher verspricht den Eltern eines schwulen Teenagers, mittels Hokuspokus den bösen Djin zu exorzieren und den Jungen so zu heilen. Wäre die Geschichte nicht so federleicht und auch mit Witz inszeniert, wäre das gruselig.
Kinderzeichnungen, die auf halluzinogenen Drogen eine Party feiern. Anders kann man die Farb- und Fantasieexplosion in Mini-mini-pokke no okina niwa de von YUKI Yoko nicht beschreiben. Unfassbar gut!
Asterión von Francesco Montagner ist wieder ein 8 mm Film.
Ein Stier in der Arena: er schnauft, rennt gegen die Banden an, ein Abbild von Männlichkeit. Gedreht und geschnitten, dass der, nicht gezeigte, Kampf zu jeder Sekunde präsent ist. Der zweite Teil des Films zeigt das Abtasten und Zerlegen des toten Tierkörpers, um letztlich in eine Art Metamorphose mit dem ihn zerlegenden Menschen zu treten. Sehr spannungsgeladen und komplett ohne Ton, wodurch die Bilder noch näher gehen.
Douwe Dijkstras Spezialität sind filmische Satiren mit viel Greenscreen-Einsatz.
In
Buurman Abdi erzählt er die Geschichte seines Nachbarn, der als Kind aus Somalia nach Holland geflohen ist, dort dann im Gefängnis landet, um schliesslich als Kunstschmied wieder auf die Füsse zu kommen. Man sieht, wie Regisseur, Nachbar und Helfer Mogadischu nachbauen, in diesem Setting spielen, erzählen, erfinden. Ein Film, der Filmtricks verrät, eine ernste Geschichte erzählt und dabei extrem lustig ist.

 

Vater und Tochter

 

Tengo sueños eléctricos von Valentina Maurel ist ein Film voller unterdrückter Gefühle, mit einer Familie in Auflösung. Die komplett fehlende Impulskontrolle des Vaters hat vermutlich die Ehe zerstört, in der Folge sind alle Beteiligten, Katze inklusive, in emotionalem Chaos. Während die kleine Tochter bei jedem Gewaltausbruch des Vaters vor Angst in die Hose pinkelt, versucht ihre 16-jährige Schwester den Kontakt beizubehalten, sogar zu intensivieren. Ihre Gefühlswelt, altersbedingt, in komplettem Aufruhr kollidiert mit dem Freiheitswunsch des Vaters, der Sorge der Mutter und den Wünschen der kleinen Schwester. Hin- und hergerissen zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, alleingelassen und der Sicherheit durch die Eltern beraubt, lebt sie Schmerz, Auflösung und Ablösung und auch, ein bisschen, den Umgang mit Gewalt.

 

 

Komödien

 

Fürs Erste ist der Regen vorbei, einem entspannten Abend auf der Piazza steht also nichts im Weg.
Seit letztem Jahr wird der Locarno Kids Award vergeben. Dieses Jahr geht der Preis an die indische Regisseurin Gitanjali Rao. Eine Ehrung für ihr gesamtes Filmschaffen, vergeben von Kindern und Jugendlichen, die in speziellen Workshops und Schulung lernen, filmische Ausdrucksformen einzuordnen, zu begreifen und zu bewerten.
Gezeigt wird zu diesem Anlass ihr erster animierter Kurzfilm Printed Rainbow.  Rao hat für diesen Film jedes Einzelbild selber gemalt, weshalb die Herstellung dann drei Jahre gedauert hat – für 15 Minuten Film. Das Ergebnis ist optisch und inhaltlich ein schwebender Traum von grosser Schönheit und Tiefe.

 

 

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Danach die Komödie Last Dance von Delphine Lehericey. Ein freundlicher Film um einen Mann, der plötzlich seine Frau verliert. Während seine Kinder, Enkel und die Nachbarin einen Plan machen, damit sich immer jemand um ihn kümmert, löst er ein Versprechen ein, das er und seine Frau sich gegeben haben: Der, der zurückbleibt, macht das zu Ende, was der andere zum Zeitpunkt seines Todes angefangen hat.
In seinem Fall heisst das, sich einer Tanzgruppe aus Laien und Profis anzuschliessen, und an dem Stück weiter zu arbeiten, an dem seine Frau arbeitete. Das ist hübsch, und auch berührend. Allerdings sagt er nichts davon seiner Familie. Missverständnisse und die daraus entstehende Komik sind also vorprogrammiert. Wie bei vielen Komödien, ist die Diskrepanz zwischen Wissen und Nichtwissen der einzige Drehpunkt, um den herum sich die Komödie entwickelt, was doch irgendwie nicht genug ist, um wirklich komisch zu sein.
Dem Publikum hat es gefallen, es war der bisher lauteste und enthusiastischste Applaus.

 

 

Dekorative Wolken über dem See

 

 

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Die Hälfte des Festivals  ist bereits vorbei. Ob schon Leoparden dabei waren? Schwer zu sagen. Weiterhin ein Ärgernis:
Fehlende WLAN-Abdeckung auch in der, von einem Kapselhersteller betriebenen, Presse Lounge. Das ist wirklich ärgerlich, der Platz ist, besonders morgens, angenehm schattig, mit bequemen Sesseln, in denen man gut sitzen und schreiben kann. Nachdem Swisscom einer der Sponsoren ist, ist es wirklich mehr als unverständlich, warum es nicht machbar sein soll, ein flächendeckendes Netz anzubieten.

 

Haufenweise Lügen

 

Der Film Astrakan von David Depesseville schafft etwas unglaubliches: er zerstört sich mit den letzten Szenen selbst. Erzählt wird vom jungen Samuel, der bei einer Pflegefamilie, mit zwei eigenen Söhnen, im ländlichen Frankreich lebt. Auch wenn die Pflegeeltern mehrfach betonen, dass ihnen der Junge ans Herz gewachsen ist, machen sie ebenso deutlich, dass sie das staatliche Pflegegeld brauchen. Es herrscht ein verzweifelt-archaisches Klima, wo schnell zum Gürtel gegriffen wird, um zu strafen, wo der Onkel den Neffen, mutmasslich, missbraucht, die Mitschülerin ihre Promiskuität an Samuel auslebt, Kätzchen erschlagen werden, aber immer wieder eifrig zur Jungfrau Maria gebetet wird. Diese explosive Stimmung muss irgendwann zum Knall führen. Der Film erzählt all das in schönen, analog gedrehten, Bildern, manchmal meint man in einem alten holländischen Bild zu sein. Aber am Ende, nach dem Knall, wird noch einmal ein religiöser „Heiler“ gerufen, und in einer langen Folge von Bildern werden die unterdrückten, verheimlichten Geschehnisse – ein wenig – aufgedeckt, untermalt von Bachs Agnus Dei. Der Gipfel und die Zerstörung des Films ist erreicht, als in dieser (sinnlosen) Sequenz die Pflegemutter, namens Marie(!), ein schwarzes Lamm an ihre entblössten Brüste hält. Mehr Zerstörung eines bis dahin guten Films, der eben genau von all dem nicht Gesagten, nicht Gezeigten lebt, geht kaum noch.

 

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Krieg und Liebe

 

Das Kollektiv Total Refusal zeigt in Hardly Working 24 Stunden im „Dasein“ von nichtspielenden Figuren, oder Statisten, in einem Computerspiel. Diese Figuren, die eine Funktion, eine Aufgabe haben, sind trotzdem nur rudimentär programmiert, was zu teils absurden Momenten führt, aber vor allem als Metapher für die Ausbeutung der Arbeitskraft im Kapitalismus dient. Das ist gewitzt, intelligent und lustig.

Daron, Daron Colbert von Kevin Steen zeigt Darstellung und Selbstdarstellung des titelgebenden Daron. Der Film über den sehr übergewichtige Mann aus einem Industrieort nahe Detroit ist eine merkwürdige Mischung, nicht nur von Filmformaten, sondern auch von Sicht- und Erzählweisen. Nicht ganz überzeugend, aber einen Blick wert.

Heart Fruit von Kim Allemand erzählt von Liebe in all ihren Ausführungen. Oder eigentlich erzählt der Film eher von Versuchen, diese Liebe in einem heutigen, urbanen Kontext zu finden und zu halten. Schön sind die Bilder der sehr graphisch-architektonischen Umgebungen, in denen die Figuren agieren, auf der Suche nach etwas rundem, weichen, wenn man so will.

Paradiso,XXXI,108 von Kamal Aljafari ist ein schwieriger Film. Foundfootage von Soldaten, Kriegsgerät, Kriegseinsätzen, zum Teil montiert wie ein Industriefilm und unterlegt mit klassischer Musik. Das ist in weiten Teilen visuell und rhythmisch spannend, aber auch schwierig zu decodieren.

 

Apokalyptisch schön

 

Balıqlara xütbə (Sermon to the fish) von Hilal Baydarov wird es sicher nicht leicht haben in Kinos zu kommen, könnte sich aber zu einem gern gesehen Gast bei Festivals entwickeln. Eine Geschichte so künstlich wie künstlerisch, mit phantastischen Bildern einer desolaten Landschaft und einer wunderbaren, stimmigen Tongestaltung. Und dabei ist alles „unecht“, der Bildausschnitt macht aus aserbaidschanischen Ölfeldern eine tödliche Traumlandschaft, das gleiche gilt für die Bilder des Flusses mit Ölpfützen, die kargen Hügel und Steppen, aber eben auch für jeglichen Ton. Kein Geräusch, kein Dialogfetzen wurde während des Drehs aufgenommen. Und so wirken die beiden Figuren, ein aus irgendeinem Krieg heimkehrender Mann und seine, an einer seltsamen Krankheit leidende Schwester, wie die letzten Überlebenden nach der Apokalypse. Überstilisiert, verloren und trotzdem sehr schön. Hilal Baydarov bezeichnet sich als besessenen, schwierigen Menschen, wenn es um seine Filme geht, was wohl auch der Grund ist, dass er alles, Kamera, Regie und Sounddesign selber macht. Publikumsrenner werden solche Filme sicher trotzdem nicht.

 

 

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Eine Frau sieht Rot

 

Une femme de notre temps von Jean Paul Civeyrac ist ein klassisches Drama. Wenn man der ganz grossen Liebe nicht mehr vertrauen kann, dann nützt es auch nichts, dass man Polizeikommissarin ist und in einem tollen Haus lebt. Nachdem die Kommissarin (Sophie Marceau) befürchtet, dass ihr Mann eine Affäre hat, macht sie das, was man als Polizistin so tut: beschatten, hinterher schnüffeln, Beweise sammeln. Leider begegnet ihr dabei ein noch grösserer Verrat ihres Mannes, und ein Drama steuert unaufhaltsam seinem Höhepunkt und Ende entgegen. Der Film ist gut gespielt, gut gedreht, wartet mit einigen, nicht weiter geklärten, Schockeffekt(ch)en auf, ist aber sonst nichts besonderes. So gewinnt man eher keinen Publikumspreis.