#Locarno77 Erinnern

 

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Beiläufig

 

In Mond von Kurdwin Ayub bekommt eine ehemalige MMA–Kämpferin ein Jobangebot in Jordanien, sie soll dort die Töchter einer reichen Familie trainieren. Der Job scheint eine gute Chance zu sein, ihr etwas ramponiertes Ego wieder aufzupolieren. Aber recht schnell zeigt sich, dass der Job nicht so einfach ist. Die Mädchen sind teilweise bockig-unwillig und hängen lieber den ganzen Tag vor dem Fernseher. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, irgendetwas scheint verkehrt zu laufen in dem palastartigen Haus.
Den Mädchen ist fast alles, was Teenager heute so machen, verboten: WLAN im Haus, Handy ausserhalb des Hauses, Kommunikation, alles Fehlanzeige.
Und wer ist die vierte Schwester?
Die Idee ist eigentlich sehr gut und spannend, scheitert aber daran, dass alle Figuren seltsam unbeteiligt und losgelöst sind. Die Trainerin will zwar wissen, was los ist, aber so recht glauben mag man ihr das nicht. Sie taumelt mit stets gleichem neutralen Gesichtsausdruck durch die Szenen, selbst als es zu einem kurzem, aber heftigem Schockmoment kommt. Die Schwestern wirken, selbst wenn sie sich aufregen, wie aufgezogen und die Security-Männer wirken wie hohle Hüllen.
Als eine der Schwestern die Trainerin bittet, ihnen zu helfen zu fliehen, erledigt sie alles mit unverändert stoischem Blick. Sämtliche Handlungen – der Schwestern, der Trainerin – bleiben völlig ohne Konsequenzen. Das nimmt dem Film sehr viel Empathiepotenzial und Glaubwürdigkeit.

 

 

Sex und Familie

 

Mother Is a Natural Sinner von Boris Hadžija und Hoda Taheri ist der dritte Kurzfilm des Regie-Paares, und wieder eine – scheinbar – sehr persönliche Geschichte, die drastisch-geradlinig erzählt wird.
Der Film fängt mit einer medizinischen Kamerafahrt aus der Scheide heraus an, um dann von der Vulva aussen in die Totale beim Gynäkologen zu fahren. Möglicherweise war das eine der angekündigten „Triggerwarnungen“ für sensible Gemüter. Danach hat das Paar eine ziemlich schräge Unterhaltung über Sex und sexuelle Vorlieben und Praktiken, während sie in aller Ruhe Gemüse putzen und ein Hühnchen zerlegen. Der Kontrast ist tatsächlich ziemlich lustig, mehr allerdings auch nicht.

Maman danse von Mégane Brügger ist inhaltlich härter. Die Erinnerungen von Mutter und Tochter an eine Zeit des Missbrauchs und der Gewalt. Familienphotos, das ehemalige Wohnhaus, Fragen, Antworten, der Versuch, die Erinnerung des Kindes ins Heute der Regisseurin zu bringen. Auch wohl um damit abzuschliessen.

Ein spielsüchtiger Vater und seiner kleiner Sohn sind die Protagonisten in Punter von Jason Adam Maselle. Eine kleine, tragisch-traurige Geschichte von Verrat. Der Junge kauft für den Vater von seinem Ersparten eine Geburtstagstorte, die aber möglichst schnell in den Kühlschrank sollte. Der Vater hat allerdings andere Pläne: nur eine einzige Pferdewette, versprochen. Versprechen gebrochen!

In The Cavalry von Alina Orlov ist eine politische Erinnerung an das Jahr, in dem die israelische Regierung den Zaun zum Westjordanland gebaut hat, Ausgangspunkt für eine experimentelle Auseinandersetzung mit Aspekten der israelischen Politik. Am Beispiel der Kavalerie-Truppe im Verlauf der Jahrzehnte bis heute mischt die Regisseurin reale Bilder mit computermodifizierten Aufnahmen. Sie verfremdet und bringt damit Details einander näher. Nicht uninteressant.

Chou He Zhuang von Hao Zhou spielt mit der Thematik der Selbstkritik in China. Homosexualität, Bespitzelung, nicht erfüllbare Erwartungen und dazwischen: Lautsprecherdurchsagen, die Selbstkritik als Massnahme zur inneren Harmonie predigen. Sehr schräg, relativ explizit.

 

 

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Kinderblick

 

Kada je zazvonio telefon (Als das Telephon klingelte) von Iva Radivojević ist ein Mosaik an Erinnerungen, geformt aus dem Blick eines 11-jährigen Mädchens, dessen Welt dabei ist, sich radikal zu verändern.
Als das Telephon klingelt, 1992, an einem Freitag um 10:36, besteht Jugoslawien (gerade) noch. In Schleifen, Loopings, Assoziationen und dem immer wiederkehrenden Motiv des klingelnden Telephons entsteht die Welt der kleinen Lana. Der Anruf fungiert als Drehpunkt, um den und von dem aus die Bilder rein und raus fliessen können. Das kindliche Erinnern an Freunde, Spiele, Situationen, kurz vor einer Flucht, kurz vor dem Ende des bekannten Lebens. Fragmentiert, nicht chronologisch, aber immer sehr intim. Der Film hat kaum Dialoge, dafür eine Off-Erzählstimme, die kurz die Situationen skizziert, sich aber auch den kindlichen Bögen unterwirft.

 

 

Pasta statt Piazza

Es mag ein Fehler sein, oder ein Zeichen von Kultur-Ignoranz, aber 150 Minuten Filme auf unbequemen Stühlen, nachdem vorher noch Ehrenpreise verteilt wurden, nein, das ist zu viel.
Also, statt auf der Piazza den nepalesischen Film anzuschauen, essen gehen und dann einen litauischen Film aus dem internationalen Wettbewerb sehen.

 

Schwestern

Laurynas Bareiša wählt für Seses einen Erzählstil mit Unterbrechungen und Wiederholungen. Eine Art Parallelmontage von einem Vorher und einem Nachher, Cliffhanger inklusive. Das ist ganz kurz etwas verwirrend, aber dann eigentlich ein sehr schöner Kunstgriff. Zwei Schwestern, ihre Männer und je ein Kind fahren gemeinsam in ein Ferienhaus an einem See, die Stimmung ist relativ gelöst, kleine Reibereien und Angebereien mal ausgenommen. Der erste Strang endet, als eines der Kinder nach einem Sprung in den See nicht mehr auftaucht. Im zweiten Strang versteht man recht bald, dass der Mann einer der Schwestern nicht mehr am Leben ist. Danach wechseln sich die Sequenzen ab, und Stück für Stück erlebt man, was vorher geschah und was heute daraus geworden ist. Ein Film bei dem man trotz Spannung ganz in Ruhe schauen, folgen und verstehen kann.

 

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Auf dem Rückweg, vorbei an der Piazza, wo der nepalesische Film in vollem Gange ist, schöne Bilder hat er auf jeden Fall.

#Locarno77 Beziehungen

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Die Luft köchelt

 

Bereits am Morgen steigen die Temperaturen auf hohe Werte jenseits der 25°, da ist es gut, wenn man schattige oder gekühlte Plätze findet, auch ausserhalb der Kinosäle. Glück haben alle, die einen Fächer besorgt haben.
Bewegte Luft kühlt, sofern man nicht zu schnell fächert.

 

 

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Schon im letzten Jahr stand nur noch sporadisch auf der Tafel, wie viele Besucher abends auf der Piazza waren. Dieses Jahr existiert die Tafel zwar noch, aber sie taugt nur mehr als schwarzer Spiegel, es gibt keinerlei Angaben mehr. Schade eigentlich. Samstag waren auf der Piazza Grande aber sicher die komplett möglichen 8.000 Besucher, die Abende davor waren vermutlich recht nah dran.

 

 

Freundschaften und Allianzen

 

Das heutige Kurzfilmprogramm ist deutlich weniger stark, was man allerdings immer spürt, ist das Herzblut, das in den Filmen steckt.
Das ist ein Anfang, der Rest kommt – hoffentlich – mit der Zeit.

Despre imposibilitatea unui omagiu (On the Impossibility of an Homage) von Xandra Popescu. Wie kann man einen ehemaligen Tänzer porträtieren, wenn dieser dauernd sagt, dass er so, aber so nicht, porträtiert werden kann. Wer bestimmt, wer ist der Künstler eines Werkes über einen Künstler? Am Ende entsteht dennoch ein Bild des ehemaligen Startänzers der Bukarester Oper.

Lux Carne von Gabriel Grosclaude ist ein schöner Animationsfilm über zwei Cousinen in einer heissen, trockenen, verlassenen Motela­nlage. Sehr reduzierte Zeichnungen, die die Stimmung in der Hitze, die Langeweile und die wachsende Gereiztheit trotzdem perfekt eingefangen.

Soleil gris von Camille Monnier zeigt eine etwas gruselige Vision in die Zukunft. Menschen, die Fleisch kaufen und essen wollen, müssen vorher einen Schlachthof– Schein machen. Je grösser das selbst geschlachtete Tier, desto umfangreicher die Menge Fleisch, die erworben werden kann. Eine junge Reporterin mit Dackel will mehr darüber wissen, und findet sich plötzlich allein mit einem Huhn in einem weiss gekachelten Raum.
Kühl und unheimlich.

400 Cassettes von Thelyia Petraki beleuchtet die Fragilität von Freundschaft und vermischt das mit philosophischen Betrachtungen. Nicht ganz klar, nicht wirklich interessant gestaltet.

1 hijo & 1 padre von Andrés Ramírez Pulido. Ein Junge, der in der Schule gehänselt wird, wehrt sich mit immer drastischeren Mitteln. Bevor er von der Schule fliegt, soll er an einem Vater-Sohn-Camp teilnehmen. Bloss, der Vater fühlt sich nicht zuständig. Stattdessen geht der Freund der Mutter mit, selber beständig Opfer blöder Kommentare. Eine sehr sensible erzählte Geschichte, die zeigt, dass auch unwahrscheinliche Verbindungen funktionieren können.

 

 

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Menschen und Orte

 

Ein Regisseur beobachtet seine Stadt, seine Mitmenschen und erzählt dabei – ein bisschen– eine Geschichte.

Holy Electricity von Tato Kotetishvili ist vordergründig die Geschichte von zwei Typen, Onkel und Neffe, die sich mehr schlecht als recht am Leben halten, in dem sie auf Schrottplätzen nach Verkaufbarem stöbern.
Der wirkliche Protagonist ist aber die Stadt Tiflis und ihre Bewohner: laut, seltsam, etwas verrückt. Erzählt wird alles in Totalen, mal etwas näher, mal weiter, aber immer total, dadurch entsteht ein dokumentarischer, beiläufiger Charakter.
Aber auch die fiktiven Figuren (alles Laiendarsteller) haben eigenwillige Hintergründe. Der Onkel entpuppt sich als Transmann, der obendrein Stress mit Geldeintreibern hat. Der Neffe verliebt sich zum ersten Mal, weiss aber nicht so recht, wie ihm geschieht. Und gemeinsam versuchen sie selbstgemachte leuchtende Kreuze zu verkaufen, um doch noch zu Geld zu kommen. Dazwischen skurrile, schrullige Figuren, die eher aus dem echten Leben stammen, als aus der Feder des Regisseurs. Eigenwillig.

 

Star

Nachtrag zum Bollywoodstar Shah Rukh Khan: das Publikumsgespräch musste, schon im Vorfeld, vom offen zugänglichen Spazio Cinema in eines der Kinos verlegt werden. Die kleine Strasse, in der das Rex liegt, war vor und während des Gesprächs an beiden Seiten durch mobile Gitter abgesperrt. Vermutlich, um einen Aufstand der übermütigen Fans zu verhindern. So viel Starkult ist wirklich selten in Locarno.

 

 

 

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Unterdrückung

 

Die Luft steht immer noch, es ist drückend heiß.
Dann heisst es, tief Luft holen für den fast dreistündigen Film auf der Piazza.

Mit grossem Beifall und grosser Begeisterung wird am Abend der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof empfangen. Die Vorstellung zu seinem Film nutzen Giona A. Nazzaro und er zu einem Aufruf zu Freiheit und Demokratie.Rasoulof ist vor kurzem aus dem Iran geflohen, um einer möglichen Verhaftung zu entgehen.

Sein Film The Seed of the Sacred Fig ist ganz klar politisch positioniert.
Die Geschichte eines Ermittlers der iranischen Justiz und seiner Familie ist spannend erzählt, zeigt im Mikrokosmos Familie, wie repressive Politik funktioniert. Zeigt Bespitzelung, Angst, Paranoia, aber auch Zivilcourage und Opposition.
Einziger Nachteil des Films: er ist mit 167 Minuten einfach zu lang. Die Positionen, selbst die Entwicklungen der Figuren sind relativ schnell und klar gezeichnet, und dann dauert es bis zum wirklich spannenden Showdown einfach furchtbar lang.

#Locarno77 Entscheidungen

 

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Filmglück – Filmpech?

 

Die Auswahl der Filme ist immer etwas beliebig und damit Glückssache.
Welche Filme kann man gemeinsam in einen Tag packen, gibt es Regisseure und Regisseurinnen, deren Filme man dringend sehen mag, klingt ein Titel vielversprechend? So weit war die Auswahl recht ok.
Auf der Piazza Grande war allerdings noch nichts wirklich Aufregendes, und so endete bisher jeder Abend mit freundlichem, aber kurzem Applaus. Da ist definitiv noch Luft nach oben.

 

Fremdbestimmt


Luce
von Silvia Luzi und Luca Bellino ist ein ungeheuer nervöser Film. Die Handkamera ist ständig in Bewegung, die Bildausschnitte fast immer extrem eng, dazu eine Geräuschkomposition, die einen zusätzlich nervös macht. All das reflektiert das Leben, das Innenleben der Protagonistin, einer jungen Frau, die in einer Lederfabrik am Fliessband arbeitet. Sie scheint eine innere Leere zu haben, etwas, das sie seit Kindheit sucht, was das genau ist, bleibt unbekannt. Aber als sie eine Drohne fliegen sieht, schickt sie ein Handy mit der Drohne über eine Mauer. Es folgen Anrufe, geflüstert, von einer Männerstimme. Ist das ihr Vater, den sie zu suchen scheint? Ist er im Gefängnis und wenn ja, warum? Nichts wird erklärt, sie lügt ebenso ins Telephon, wie vermutlich die flüsternde Stimme am anderen Ende. Eine dunkle Geschichte, nervös, dynamisch und auf merkwürdige Art angsteinflössend.
Luce fällt in die Kategorie Filmglück, dreimal verworfen, weil der Katalogtext eher nichtssagend ist, und dann passte er perfekt in eine Lücke im Tagesplan.

 

 

 

Locarno und die Stühle

Das wird keine grosse Liebe mehr!

 

 

Die einen, auf der Piazza, zerbrechen allabendlich, nicht viele, aber doch genug. Beim Spazio Cinema, wo alles auf Holzplanken steht, fallen seit letztem Jahr immer wieder Menschen mit ihren Stühlen um, weil die Stuhlbeine zwischen die Holzplanken rutschen, und schon liegt man unerwartet auf dem Rücken. Die Stühle in der grossen Multifunktionshalle La Sala quietschen bei jeder Bewegung.
Und alle Stühle sind irre unbequem, sodass man schon nach drei Tagen nicht mehr weiss, wie man sitzen soll.

 

 

Perspektiven


Wenn im Kurzfilmprogramm der schwächste Film immer noch gut ist.
Das heutige Programm umfasst vier Filme und alle sind von grossartig bis gut, was für eine Freude.

Der palästinensische Film UPSHOT von Maha Haj verschiebt die Perspektiven auf das, was die Geschichte zu erzählen scheint. Am Anfang eine Einblendung: Irgendwann in der Zukunft. In einem schönen Olivenhain sieht man älteres Ehepaar, er pflegt die Bäume, sie holt Eier bei den Hühnern. Sie essen gemeinsam, unterhalten sich über ihre erwachsenen Kinder. Streiten sogar ein wenig, der Vater bevorzugt dies, die Mutter jene, aber insgesamt scheinen ihre fünf Kinder wohlgeraten, mit Jobs und eigenen Familien. Man denkt sich: Kontext, Zukunft, ein palästinensisches Ehepaar redet wie andere Eltern auch. Eine Zukunft ohne Krieg und Konflikt. Doch dann erscheint ein Mann am Gartentor, ein Schulfreund des ältesten Sohns, und die Perspektive kippt nochmal, radikal und schmerzhaft. Tolle Kamera, die Frieden und Glück suggeriert, ruhiges Spiel und doch der Schockeffekt am Ende.

Sans Voix von Samuel Patthey ist ein fabelhafter Animationsfilm. Die Zeichnungen teilweise fast skizzenhaft, aber wenn man genau schaut, doch extrem komplex. Ein junger Mann, orientierungslos, zwischen fadem Alltag und nächtlichen Exzessen, bis ihm in der Umgebung Kinder zu denken geben.

WAShhh von Mickey Lai zeigt ein malaysisches Militärcamp, die Stube junger Frauen, multiethnisch. Und dann bricht die Kommandantin herein, zwingt die Frauen mitten in der Nacht, den Waschraum zu putzen und in allen Mülleimer zu checken, dass die Monatsbinden, die einzeln in Papier weggeworfen werden, vorher auch ausgewaschen wurden. Die eher ekelige Aufgabe scheint einen kulturell-religiösen Hintergrund zu haben, der nicht für alle Frauen von Belang ist. Alles sehr schön und in Schwarzweiss gedreht, auch wenn sich der tiefere Konflikt aus europäischer Sicht nicht ganz erzählt.

Gender Reveal von Mo Matton fängt friedlich, fröhlich an und endet als Splatter in poppigen Farben.
Drei genderfluide Personen auf einer sogenannten Gender Reveal Party. Sie fallen auf, sind bunt, grell und: definitiv non-binär. Die Stimmung bewegt sich zwischen amüsiert bis peinlich berührt, bis zum grossen Moment. Der Rauch, der das Geschlecht des Ungeborenen verraten soll, vergiftet die Gäste, der werdende Vater fällt mit einem Elektrogerät in ein Planschbecken, die Mutter stürzt auf eine Metallstange, spritzendes Blut inklusive. Am Ende verlassen drei verblüffte Menschen die Party. Rasant gespielt und gedreht, frech und sehr lustig.

 

Britischer Humor

 

Foul Evil Deeds von Richard Hunter ist etwas zäh, aber auch irgendwie komisch. In Episoden werden verschieden Typen, Familien, Freunde und ihre eher öden Leben vorgestellt. Immer in Häppchen, Schwarzblende, nächste Gruppe, Schwarzblende. So entschlüsselt sich die ganze Mittelmässigkeit, Boshaftigkeit und auch Achtlosigkeit der Figuren. So bringt der Pastor versehentlich die Katze des Nachbarn um, zwei Jugendliche verletzten ihren Kumpel mit einem Feuerwerkskörper und der biedere Finanzbeamte lässt sich bei einer Prostituierten auspeitschen. Was ins Auge fällt, ist die Auswahl der Bildästhetik, im 4:3 Format, mit einer Mini DV Kamera gedreht, erinnern die Bilder an Videos, die irgendwo in einer Schublade dem Vergessen entgegen dämmern. Diese raue Bildqualität gibt den Episoden etwas Verhuschtes, Privates und Voyeuristisches.

 

 

 

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Endlich

 

Samstagabend, bereits bevor man ab 20 Uhr auf die Piazza Grande kann, sind richtig lange Warteschlangen an den Einlasspunkten, die Lust auf Kino scheint ungebremst.

Wie jeden Abend gibt es einen Ehrenleoparden, diesmal hat der zu Ehrende eine Reihe quietschender, johlender Fans angezogen: der Bollywoodstar Shah Rukh Khan. Charismatisch und eine echte „Rampensau“ übernimmt er die Bühne der Piazza, das ist schon beeindruckend. Das Quietschen steigert sich. Selbst als der Star schon abgegangen ist, der erste Film des Abends startet, hört man Fans im Hintergrund seinen Namen skandieren.

Mexico 86 von César Díaz ist ein Film über schwere Entscheidungen.
Guatemala Mitte der 70er Jahre, eine junge Mutter und politische Aktivistin gegen die Militärdiktatur sieht sich gezwungen ihr Land zu verlassen und ihren Säugling bei ihrer Mutter lassen. Sie flieht nach Mexiko. 10 Jahre später, Mexiko bereitet sich auf die kommende Fussballweltmeisterschaft vor, muss sie wieder schwere Entscheidungen treffen. Ihr Sohn kann nicht länger bei ihrer Mutter bleiben. Aber ihr bewaffneter Kampf gegen die Diktatur ist noch lange nicht vorbei, und die Agenten des Diktators sind ihr scheinbar auf der Spur. Ein toller Film, atmosphärisch dicht, spannend, erschütternd und mit einer fabelhaften Bérénice Béjo in der Hauptrolle.

 

Nicht den Faden verlieren

In Sew Torn von Freddy Macdonald, dem Mitternachtsfilm auf der Piazza, geht es auch um Entscheidungen, auf Leben oder Tod. Weniger ernst zwar, dafür um so rasanter, witziger, schräger und verrückter und blutiger. Barbara, eine junge Schneiderin, ist pleite, der Laden, den ihre verstorbene Mutter aufgebaut hat, geht pleite, sie wird dieses Lebenswerk und Zuhause verlassen müssen, wenn nicht ein Wunder geschieht. Auf einer Passstrasse stösst sie auf einen Drogendeal, der ordentlich schiefgegangen ist. Zwei halb tote Männer, ein Koffer mit Geld, Päckchen mit Drogen, alles vor ihren Füssen.
Die Möglichkeiten: Das perfekte Verbrechen begehen, die Polizei rufen oder weiterfahren. Der Film spielt alle Varianten durch, die alle eher sehr schlecht ausgehen. Aber bis dahin ist es einfach faszinierend, was man alles mit Nadel und Faden machen kann, um sich aus unmöglichen Situationen zu retten. Sew Torn ist einfach nur grossartig! Eher unwahrscheinlich, dass er den Publikumspreis gewinnt, aber die Zuschauer, die zur späten Uhrzeit noch da waren, waren begeistert.

#Locarno77 Machos und Einsiedler

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Gleichstellung

 

Zu den Neuerungen oder Neubetzungen gehören auch noch Sandy Altermatt, die neue Komoderatorin auf der Piazza Grande. Und, fast schon revolutionär, sagt erstmalig in der Geschichte des Festivals eine Frau allabendlich den Film an. Das Festival ist ganz weit vorne, was die Umsetzung von Gleichheit in der Postenbesetzung zwischen Männern und Frauen angeht. Auch die Jurys sind 50:50 bestellt, oder genauer gezählt: 9 Frauen, 8 Männer.
Neben den aktuellen Wettbewerbsprogrammen gibt es jedes Jahr Retrospektiven, dieses Jahr unter dem Titel 100 Jahre Columbia Pictures. Und eigentlich könnte man die 11 Festivaltage damit verbringen, „alte“ tolle Filmklassiker anzuschauen.

 

Lateinamerika zwischen Folklore und Machismo

 

Keine Wolke am blauen Himmel, hohe Sommertemperaturen, Zeit sich im Kino abkühlen zu gehen. Nochmals Open Doors, diesmal Kurzfilme:

Das Spektakulärste an Luciana Decker Orozcos Film ist wohl der Titel:
Lo que los humanos ven como sangre los jaguares ven como chicha. Aber da weder Blut noch Jaguare darin vorkommen, bleibt er für Uneingeweihte eher schwer verständlich. Der Film bietet ein Kaleidoskop an visuellen Effekten, die mit Analogfilm realisiert wurden. Es scheinen sich folkloristische Mythen und Sagen mit Bildern aus dem Hier und Jetzt zu vermischen, Fressen und Gefressenwerden scheint Thema zu sein. Aber so wirklich ersichtlich ist das alles nicht.

Sirena von Olivia De Camps erzählt den von Patriarchat und Machogehabe geprägten Alltag der Dominikanischen Republik. Sirena entdeckt, kurz vor ihrer Abreise in die USA, wo sie heiraten wird, dass ihr Vater ein Doppelleben führt, und ihre Mutter, auf Gott und die Bibel vertrauend, das alles klaglos hinnimmt. Ob Sirenas zukünftiges Leben anders verlaufen wird, lässt der Film relativ offen.

Der stärkste Film des Programms kommt aus Haiti. Twa fèy von Eléonore Coyette und Sephora Monteau erzählt von sexuellem Missbrauch, sexualisierter Gewalt gegen Frauen und der Untätigkeit der Gerichte, daran etwas zu ändern. Protagonisten sind Marionetten, die in realer Umgebung einen grausamen Alltag spielen. Die Verfremdung, die durch die Puppen entsteht, macht das Anliegen des Films umso stärker und die Gewalt noch unerträglicher.

Dragqueens in Guatemala berichten in De reinas y otros colores von Juan Herrera Zuluaga von ihrem Alltag. Auch hier ist die patriarchal- christlich dominierte Umgebung ein Problem für Menschen, die eigentlich nur einfach leben wollen.

 

 

 

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Das Schweigen im Wald

Bogancloch von Ben Rivers ist der bislang ungewöhnlichste Film. Gedreht in körnigem Schwarzweiss, das teilweise fast überlagert wirkt, lässt sich der Film Zeit, den Protagonisten Jake, einen kauzigen Einsiedler, zu porträtieren. Er lebt im ländlichen Schottland, auf einem Hof voller Krempel, umgeben von Wald. Die Kamera beobachtet, nähert sich selten wirklich dem Gesicht, lässt Jake tun, was Jake so tut, egal wie lange es dauern mag. Unterlegt einzig von Originalgeräuschen, manchmal von Musik, die Jake auf einem alten Ghettoblaster abspielt, darüber hinaus: nichts, keine Erklärung, keine Filmmusik, kein Kommentar. Damit entsteht eine Art Meditation auf Film, die im Publikum nicht immer gut ankam. Lange, sehr ruhige Passagen führen zu Unruhe, zu kurz aufblitzenden Handys und auch zu Menschen, die den Saal verlassen. Die, die bleiben, haben am Ende ihrer Freude über diesen sehr ungewöhnlichen Film durch lautes Klatschen und Bravo-Rufen zum Ausdruck gebracht. Formal bleibt ein – oder sind es zwei? – Fragen: die teils verbrannten oder zerstörten (Farb)Photos zwischendrin scheinen von Jakes früherem Leben zu erzählen, aber warum gibt es eine Einstellung in Farbe von Jake und seinem Hof? Ansonsten: wirklich sehr schön, und in seiner Ästethik aussergewöhnlich.

 

Terror

Gleich noch ein extrem toller Film: Les Enfants rouges von Lotfi Achour.
Der Film nach wahren Begebenheiten erzählt von zwei jungen Ziegenhirten, Cousins, in den tunesischen Bergen. Als sie sich zu weit in den Bergen herumtreiben, an Orten, wo das Gelände vermint ist, wo Terroristen herrschen und die Armee auch nicht gerade zimperlich ist, werden sie angegriffen. Nur einer überlebt den Angriff, und wird auch noch gezwungen, den abgetrennten Kopf des anderen zurück ins Dorf zu bringen. Traumatische Ereignisse für einen 13-jährigen. Trauer, Wut und die Unsicherheit, was er eigentlich gesehen hat, und was nicht, verfolgen ihn. Im Dorf wird überlegt und beraten, wie und ob der Körper aus den Bergen zurückgeholt werden kann und soll. Die exzellenten Bilder von Kameramann Wojciech Staroń bieten Landschaft in all ihrer Schönheit und Ruhe, dazwischen kurze explosive Dynamik und ruhige Gesichter mit spannenden Tiefenschärfen. Das Zusammenspiel der Bilder, der Spannung und des Spiels der jungen Darsteller ergibt einen packenden, ergreifenden und auch politischen Film. Der Film ist eine Koproduktion mit mehr Ländern, als man mal eben aufzählen kann, aber Filmemachen ist teuer und Filme so zu machen, wie man möchte, ist gleich noch teurer. Schön, dass sich so viele Koproduzenten gefunden haben.

Zauberlehrling

 

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Nach einem so weit sehr erfreulichen Tag steigt die Hoffnung, auch auf der Piazza einen wirklich tollen Film zu sehen. Electric Child von Simon Jaquemet liest sich im Katalogtext gut. Science-Fiction mit KI-Problematik und persönlichem Drama, das kann doch gut werden.

Die Geschichte startet vielversprechend, das Programmiergenie arbeitet im geschützten Rahmen einer grossen Firma an einer neuen, sich selbst entwickelnden (Spiele) Entität.
Der Druck, unter dem er steht, ist allerdings gross, die Chefin will Resultate, sonst werden Mittel gekürzt. Die Öffentlichkeit ist skeptisch, weil KI Gefahren bergen kann, die nicht überschaubar sind und die Regierung will eine Hintertür im Programm, um sicherzustellen, dass da nichts passiert, was unerwünscht oder gefährlich ist. Als sich dann herausstellt, dass sein frisch geborener Sohn einen Gendefekt hat, und er wohl seinen ersten Geburtstag nicht erleben wird, versucht er sein Programm so zu manipulieren, dass die KI nach einer Lösung oder Heilung für sein Kind sucht.
Dass das der erste fatale Fehler ist, erklärt sich von selbst.
Dennoch ist der Film über weite Strecken innerhalb dieser falschen Entscheidung plausibel, spannend und gut gemacht. Die Manipulationen fallen aber natürlich auf, die Rechner werden abgeschaltet und ab da driftet der Film weg und verliert an Glaubwürdigkeit. Das Hochsicherheitsareal kann wundersamerweise ganz einfach durch ein Gitter betreten werden, das freundlicherweise gleich in die „Eingeweide“ der Serverräume führt. Der Notstromgenerator, der nicht anspringt, lässt sich mit drei festen Fusstritten doch überreden, und das Programm kann neu gestartet werden. Kurzum, der Showdown, das Ende vermasseln den Film.
Dabei hat er wirklich sehr gute Momente, ist visuell ansprechend und auch originell gestaltet. Sehr schön ist zum Beispiel die Welt der KI generierten Figur, die für sich alleine auf einer Insel lebt und dem programmierten Lernprozess mit kindlicher Neugier folgt.
Trotzdem fragt man sich die ganze Zeit, wie kommen die aus der Geschichte noch raus? Und da ist genau das Problem, sie kommen nicht raus, nicht ohne Erzählstränge zu verlieren, nicht ohne absurde Ereignisse zu kreieren. Die gerufenen Geister wollen einfach nicht zurück in ihre Flaschen, weder innerhalb der Geschichte, noch auf der Ebene des Erzählens.

#Locarno77 Emotionen

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Die Tücken der Technik

Der neue Leopard funktioniert wunderbar auf allen Photos, auf der Leinwand nur dann, wenn die grosse Katze relativ statisch in die Kamera faucht, sobald mehr Bewegung ins Spiel kommt, ist der Spass vorbei.
Der alte, auf 35 mm gedrehte Leopard, schritt majestätisch und das Fell sah aus, als wollte man es berühren, der neue, digital gedreht, ist so überscharf, dass er in der Bewegung visuelle Artefakte generiert, die Augen und Hirn irritieren, das ist unschön.

Obwohl seit Jahren ein Telekommunikationsunternehmen Hauptsponsor des Festivals ist, gibt es weiterhin kein halbwegs flächendeckendes WLAN für Gäste und Besucher des Festivals, das ist, bedenkt man die teuren Roaminggebühren, wirklich blöd.

Weitere Neuerungen, die eigentlich keiner so braucht: die Bar beim Spazio Cinema, der einzige Ort, wo man in der Ecke Essen und Trinken bekommt, wünscht nur noch Kartenzahlung. Auf Nachfrage heisst es, dass das Festival das so will. So muss für jeden kleinen Espresso die Karte gezückt werden. Wozu?

 

 

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Alpakas und Fussball

 

Die Sektion Open Doors zeigt im dritten und letzten Jahr Filme aus Lateinamerika und der Karibik, Filmländer, die in Europa nahezu unbekannt sind, und eigentlich ein Gewinn sind.
Raíz von Franco García Becerra, der erste Film, der in der Reihe gezeigt wird, zieht um elf Uhr am Morgen eine riesige Schlange vors Kino – ausverkauft. Was auch heisst, das Gerangel um die letzten freien Plätze dauert und dauert und führt gleich am Morgen zu einer erheblichen Verspätung.
Aber der Film ist das Warten wert.
Der junge Feliciano hütet für seine Familie irgendwo in den Anden Alpakas, immer dabei: sein Hund Rambo und sein Alpaka-Junges Ronaldo. Und damit ist schon Felicianos Passion erzählt, er ist, wie der ganze Ort, Fan der peruanischen Fussballnationalmannschaft.
Die Idylle scheint perfekt, Peru ist kurz davor, nach Jahrzehnten wieder an einer WM teilzunehmen, die Alpakas haben Wolle von toller Qualität, aber eine Mine versucht sich immer mehr in die Landschaft zu graben. Die kleinbäuerliche Gemeinde wehrt sich, so gut es geht. Aber die Minenbetreiber wenden unlautere, brutale Mittel an, um sich Land zu beschaffen. In sehr schönen Bildern, stimmungsvoll und wild-romantisch, erzählt der Film den Konflikt, die Begeisterung für Fussball und mischt noch etwas andinischen Volksglauben von einem wilden Monster dazu. Einziger Minuspunkt: die etwas hölzern wirkenden Dialoge. Dennoch, der Film packt und am Ende fiebert man mit den Protagonisten dem Schluss des letzten Qualifikationsspieles entgegen. Peru ist nach mehr als 30 Jahren für eine WM qualifiziert.

Explosive Emotionen


Die erste Runde des Kurzfilmprogramms startet mit einigen sehr guten Einfällen, originell, bilderstark und emotional.
La Fille qui explose von Caroline Poggi und Jonathan Vinel ist eine Computeranimation, erstellt mithilfe von Videospiele-Software. Die Protagonistin und Off-Erzählerin der Geschichte explodiert, täglich, manchmal mehrmals täglich. Jedes Mal setzt sie sich wieder zusammen, allerdings sieht sie dabei immer mehr wie der elektronische Bruder eines Zombies aus. Eine poppig bunte Allegorie auf Schmerz, Liebe und das Verzweifeln an beidem. Sehr schön.

Biblisch, aber nicht weniger emotional geht Nakhane das Thema in B(l)ind the Sacrifice an. Eine Gruppe Nomaden lebt in Südafrika, mitten im sprichwörtlichen Nichts. Bibeltreu und patriarchalisch strukturiert, ist das Leben dort für einen jungen Homosexuellen nicht einfach. Suff und Stress sind da fast schon vorprogrammiert. Als sein Vater ihn, nach biblischem Vorbild, opfern will, und wie im Vorbild im letzten Moment den göttlichen Befehl bekommt, das Opfern abzubrechen, verschärft sich der Konflikt. Der Rat der Mutter, immer zu tun, was einem Gottes Stimme eingibt, endet dann unerwartet fatal.

Gimn chume von Ataka51 zeigt Spuk und Horror in einem alten sowjetischen Aufnahmestudio, wo ein Orchester ein Stück nach Puschkins „Das Festmahl zur Zeit der Pest“ vertont. Zunächst langsam, dann immer massiver, fliegen Dinge durch die Gegend, verschwindet erst ein Kind, dann die Musiker. Auch hier eine starke Allegorie auf Krieg und Zerstörung, sehr schön und gespenstisch in Szenen gesetzt.

In Tinderboys von Sarah Bucher und Carlos Tapia lädt eine junge Frau Männer zu sich ein, die sie auf Tinder gefunden hat. Aber es geht ihr nicht um Sex oder Beziehung, sondern darum, ihnen unvermittelt und überraschend eine Art Kunstperformance vorzuführen. Das ist sowohl witzig als auch verstörend. Die Verstörung wird durch die Kameraperspektiven genüsslich auf- und ausgebaut.

Freak von Claire Barnett ist dagegen sehr schwach. Schrappelige Camcorder-Bilder zeigen ein Paar, das sich mit eben diesem Camcorder filmt. Was anfängt wie ein lustiger Spass, wird unangenehm und peinlich, je weiter der Abend fortschreitet, und die Fragen intimer werden. Das ist weder bildlich noch inhaltlich interessant.

 

Jedes Jahr wieder
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Fundstücke nach nur einem Festivaltag: geborstenen Stühle!

 

Spannungslos


La Mort viendra
von Christoph Hochhäusler will ein Thriller sein, mit Gangsterpaten, die sich gegenseitig Böses wollen, mit einer androgynen Killerin, die den Mord an einem Kurier aufklären soll, und das alles im Raum zwischen Brüssel und Luxemburg. Klingt leider weitaus besser als ist. Ein Dialog kurz vor Schluss des Films zwischen der Killerin und einem der Unterlinge eines der Bosse fasst den Film perfekt zusammen: „Aber das ergibt alles doch überhaupt keinen Sinn.“, lapidare Antwort: „Am Ende vielleicht schon.“
Bloss, Spoiler-Alarm: nein, es ergibt auch am Schluss keinen Sinn. Dazwischen erzählt der Film ohne jegliche Spannung vor sich hin, sodass einem auch völlig egal ist, wer, wen und warum umbringen oder von der Spitze vertreiben will. Das freundlichste, das man sagen kann, der Film ist ordentlich gedreht, die Bilder genretypisch düster, aber insgesamt ist es bieder gemacht und selbst die kurze exzessive Gewaltszene kann da nichts mehr retten.

 

 

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Politik und Familie

 

Auf der Piazza Grande ein freundlicher Film, der die Zuschauer nach Peru und in die 90er Jahre bringt. Reinas von Klaudia Reynicke erzählt gleichzeitig eine Familiengeschichte und die Geschichte der politischen Verhältnisse in Peru. Inflation, Ausgangssperren, Polizeigewalt, vor diesem Hintergrund bereitet eine Mutter sich und ihre beiden Töchter auf die Ausreise in die USA vor. Was noch fehlt, ist die Unterschrift des geschiedenen Vaters der Mädchen, damit sie ausreisen dürfen. Der Vater ist allerdings ein zwar liebenswürdiger, aber chaotischer Träumer, den die Töchter erst gar nicht sehen wollen, und dessen Charme sie dann doch erliegen. Doch seine versponnen Geschichten kombiniert mit der Trotzigkeit der älteren Teenager-Tochter bringt nicht nur die Auswanderungspläne, sondern die ganze Familie in Gefahr. Schön erzählt, sehr gut gespielt, vor allem von den beiden Mädchen, insgesamt vielleicht etwas zu lang. Freundlicher Applaus, aber viel mehr war an diesem Abend nicht zu holen.

 

#Locarno77 Neues zum Start

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Bekanntes und Neues

 

Der graue Regen: bekannt, unvermeidlich, aber dennoch etwas lästig.
Die Stühle: unverändert stehen sie auf der Piazza Grande, und sicher werden jeden Abend einige unter lautem Krachen zerbrechen.
Das Stadtbild: bekannt, in Gelb und Schwarz, aber etwas ist doch minimal anders.
Das Locarno Filmfestival hat nach 15 Jahren den letzten Leoparden in Rente geschickt und einen neuen vom Tierphotographen Tim Flach photographieren lassen. Willkommen Bagheera.

Neu ist auch die Festivalpräsidentin Maja Hoffmann, die Marco Solari ablöst.
Auch wenn der Festivalpräsident während des Festivals eher im Hintergrund zu finden ist, die Aufgabe ist riesig. Die Präsidentschaft ist das Herz des Festivals, sorgt für die wirtschaftlichen und repräsentativen Verbindungen nach Aussen, steht für die innere und auch für die politische Haltung des Festivals.
Unter Marco Solari war damit immer zuallererst die künstlerische Unabhängigkeit und Freiheit gemeint, die er sogar so weit verteidigte, dass er Sponsoren, die Einfluss auf das Programm nehmen wollten, schlicht ablehnte. Und das, obwohl Locarno, wie jedes Filmfestival, auf Sponsorengelder angewiesen ist. An solchen Massnahmen wird Maja Hoffmann sich messen lassen müssen. Hoffmann ist eine andere, jüngere Generation, anders vernetzt, mit möglicherweise anderen Prioritäten, wobei die Gefahr, diesen künstlerisch unabhängigen Charakter Locarnos zu schmälern, eher klein bleiben dürfte.
Denn genau diese Haltung war schon immer das Konzept des tessiner Festivals: unabhängig, mit dem Fokus auf die Filmkunst, auch Stars publikumsnah präsentierend, den Film feiernd, ohne sich dabei in elitärem Glamour zu verstecken.

 

Holpriger Start

 

Ihren Start bei der Eröffnung am frühen Abend verstolpert Maja Hoffmann. Es mag der Nervosität geschuldet sein, aber was sie mit ihrer holprigen Rede eigentlich sagen wollte, bleibt unbekannt.

Giona A. Nazzaro (links)
(c) ch.dériaz

Leidenschaftlich und politisch ist dagegen der Auftritt des künstlerischen Leiters Giona A. Nazzaro. Vielsprachig, eloquent und feurig verspricht er, dass Festival als „Haus mit vielen Türen“, als offenen Ort für Begegnungen aller Art, aller Menschen bereitzuhalten. Ähnliche Töne auch von der neuen Kulturministerin Elisabeth Baume-Schneider, die Filme als Möglichkeit bezeichnet, mit und durch die Augen anderer die Welt zu sehen. Beide, Politik und Kunst, betonen die Chance Vielfalt, Diversität und Miteinander hier zu leben.

 

 

 

 

Piazza Grande

 

Der Regen hat sich verzogen, rosa Wölkchen machen einem klaren Sternenhimmel platz.
Die Eröffnung vor dem grossen Publikum fällt recht kurz aus.
Noch ein schneller, verstolperter Auftritt von Maja Hoffmann, Vorstellung der Jurys und der engen Mitarbeiter, kurzer und sehr schöner Zusammenschnitt der Filme der nächsten Tage und dann schon die Präsentation des Eröffnungsfilms.

 

Maja Hoffmann
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Kostümfilm

Le Déluge von Gianluca Jodice erzählt die letzten Wochen Ludwig des 16. und seiner Frau Marie Antoinette im Herbst 1792. Ein Film, in dem Ausstattung und Kostüm sich ordentlich ausgetobt haben, wirklich gelungen ist das Ganze trotzdem nicht. Die königliche Familie, ihrer Privilegien beraubt, auf engem Raum zusammengepfercht, scheint mit sich zu hadern, auf den letzten Metern ihres Lebens scheint ihnen aufzufallen, dass sie nie wirklich gelebt zu haben. Während um sie herum Revolutionäre üben, ihre Defizite in Macht und Terror umzugestalten. Tatsächlich glaubt man beiden Parteien ihre Anliegen nicht wirklich. Am spannendsten ist noch der Moment, als der König am Abend vor seiner Hinrichtung bittet, den Scharfrichter sprechen zu dürfen, und ihn darüber ausfragt, wie denn der Ablauf der Hinrichtung sein wird.
Aber braucht man heute einen Film, der zeigt, dass auch Herrscher Menschen sind und Revolutionäre weder allwissend noch tugendhaft sind? Der Ansatz kommt dann doch recht altbacken rüber.
Der Applaus hielt sich in höflichen Grenzen.

 

(c) ch.dériaz

#FilmTipp Love Lies Bleeding

 

(c) ch.dériaz

 

Liebe, Blut und Anabolika

 


Von Anfang an ist bei Love Lies Bleeding von Rose Glass offensichtlich, dass Szenerie und Protagonisten irgendwie kaputt sind.
Ein trostloses Kaff in New Mexico und Menschen, die genauso trostlos wirken, wie der Ort, an dem sie leben.
Die junge Bodybuilderin Jacky, die auf dem Weg nach Las Vegas dort landet und davon träumt, durch einen Sieg in einem Wettbewerb in Kalifornien als Trainerin zu reüssieren, hat da noch die schillerndsten Zukunftsbilder. Für die anderen reicht es schon, in Ruhe gelassen zu werden, wie bei Lou, die im abgerockten lokalen Fitness-Studio arbeitet. Für ihre Schwester ist der prügelnde Ehemann ein Zeichen von Liebe und der Vater, ein ebenso manipulativer, wie ekelhafter Verbrecher, beherrscht den Ort, lokale Polizei inklusive.
Dass sich Jacky und Lou sich verlieben, verschiebt die bestehenden Verhältnisse und modifiziert die Perspektiven – wenigstens ein Stück. Als dann die Schwester ein weiteres Mal schwer misshandelt im Krankenhaus landet, explodiert die Gewalt und löst eine Kettenreaktion aus.

 

Genremix
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Der Film bedient sich frech und fröhlich bei vielen Filmgenres: toppt Gewalt mit kurzen Splatter-Schockeffeketen, verwebt farbveränderte Bilder, die Träume oder Erinnerungen sein können und fürchtet sich nicht davor mit Comicelementen zu spielen, wenn zum Beispiel die Muskeln durch die gespritzten Anabolika sicht- und hörbar anwachsen. Zusammen ergibt das eine ziemlich wilde Geschichte, von der man sich nicht vorstellen kann, dass es da einen harmonischen Ausklang geben kann.
Die Liebesgeschichte, die so oft als besonders romantisch herbeigeschrieben wird, ist tatsächlich der kleinste Aspekt des Films. Sie ist das Streichholz am Pulverfass, aber bei weitem nicht die Essenz der Story und das ist gut so.
Vieles bleibt offen im Film, es gibt keine Erklärung zu Hintergründen oder Vergangenheit, Dinge geschehen und gehen vorbei, die Welt dreht sich langsam weiter. Wenn man sich darauf einlassen kann, dann macht der Film wirklich viel Spass. Und kühl ist es im Kino auch.

#FilmTipp Kinds of Kindness

 

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Liebe und Grausamkeiten

Drei Episoden, drei Geschichten, in denen fabelhafte Darsteller zeigen, wie das Böse und Grausame auch komplett ohne Geschrei und offensichtliche Brutalität, nämlich im Schafspelz der Liebe, Leben zerstört.
Kinds of Kindness von Yorgos Lanthimos zeigt, dass Liebe nicht immer Liebe ist.

Die Episoden, sind nicht nur toll gespielt, allen voran von Emma Stone und Willem Dafoe, sondern sie nutzen auch wunderbare Bilder, um Freundlichkeit zu suggerieren, wo doch in Wahrheit das Böse herrscht. Manche Bilder erinnern an Hopper Gemälde, das Trostlose von Motelzimmern, die grafische Genauigkeit eines Parkplatzes: Hopper in Bewegung. Schön sind auch die Wechsel von extrem nahen Einstellungen zu Totalen, die eine eigenwillige Abstraktion erzeugen. Die Filmmusik schafft es, die Szenen und Stimmungen zu unterstreichen, hervorzuheben, ohne aufdringlich zu sein.

Was etwas enttäuscht ist, dass die Episoden zwar das Grundthema gemeinsam haben, und die Darsteller in allen Episoden spielen, aber es untereinander keine Verbindung, es keine wie auch immer geartete Auflösung gibt. Dadurch wird der Film mit 165 Minuten doch recht lang, selbst wenn man die drei Episoden als drei längere Kurzfilme sehen kann.

Trotzdem

Warum es sich dennoch lohnt, den Film zu sehen?
Wegen der irren Einfälle und Spielarten von Gemeinheit und Grausamkeit.
Wegen der, bei Lanthimos gewohnten, Fülle an schrägen Einfällen und wahnsinnigen Figuren. Wegen der Subtilität der Ekelhaftigkeiten, sei es auch nur, um zu lernen diese oder ihre Verwandten im wahren Leben zu entlarven.
Insgesamt unterhaltsam, wenn man keine Probleme mit Blut auf der Leinwand hat und kein Happy End braucht.

Der Film läuft in Wien in Originalfassung im Filmcasino und im Filmhaus.

 

#FilmTipp Omen

 

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Träume, Albträume, Tradition

 

Der Filmemacher und Rapper Baloji verführt mit seinem üppig-buntem Spektakelfilm Omen in eine Welt voller Träume, Albträume, Aberglauben und Traditionen.

Koffi, Epileptiker und mit einem Feuermal geboren, wurde von klein an von seiner Mutter abgelehnt und von seiner Familie als eine Art Teufel betrachtet. So verlässt er als Teenager seine Heimat, die Demokratische Republik Kongo, um in Belgien, der ehemaligen Kolonialmacht, zu leben.
Als er mit seiner schwangeren belgischen Freundin zurückfährt, um doch noch irgendwie den Segen der Familie zu bekommen, stehen die beiden bald in unübersichtlichem Chaos.
Parallel gibt es den Konflikt von zwei örtlichen Jugendbanden, von denen die einen in rosa Kleidchen rumlaufen und die anderen mit Leopardenkappe das Bild des Diktators Mobutu aufleben lassen.
Die Geschichten kreuzen sich immer wieder und sind gleichzeitig Abbilder verschiedener Aspekte des Landes.

 

(c) ch.dériaz

 

Bunt und sehr rhythmisch entsteht ein filmisches Mosaik, das gleichzeitig wichtige Fragen stellt. Fragen nach Identität und Heimat, nach Selbstwert und Selbstermächtigung, und all das vor dem Hintergrund archaischer und christlicher Traditionen und Kolonialismus gemischt mit Erinnerungen, Albträumen und Wünschen.
Schicht für Schicht wird das Mosaik dichter, wobei sich manche Frage klären und andere unbeantwortet bleiben. Eine sehr schöne filmische Reise, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Der Film läuft in Wien im Stadtkino, im Admiralkino und im Votivkino in Originalversion.

 

 

#FilmTipp Fall Guy

 

Artis Kino, Wien
(c) ch.dériaz

 

 

Stuntman oder Sündenbock

 

Auch wer die Serie aus den 80er Jahre über den Stuntman Colt Seavers nicht kennen, kann Freude an Fall Guy von David Leitch haben.
Allerdings sollte man dringend Spass an Action-Komödien haben. Spass daran, dass gefühlt jede Sekunde im Film irgendetwas explodiert, durch die Luft fliegt, brennt oder halsbrecherisch über Hindernisse springt.

 

In die Luft gejagt

Grob geht es um den Stuntman Colt Seavers, der nach einem Unfall beim Dreh eines Actionfilms schwer verletzt wird. Daraufhin stockt die zart beginnenden Romanze mit der Kamerafrau Jody.
Zeitsprung ins Hier und jetzt der Geschichte: Jody führt Regie, Colt wird von der Produktion für Stunts engagiert, soll aber parallel dazu den verschwundenen schnöseligen Hauptdarsteller finden und zurückbringen.
Zu diesem – recht frühen – Zeitpunkt im Film ist zweierlei klar: Die Romanze wird gut enden, und es werden noch viel mehr Lastwagen, Helikopter, Menschen und Autos durch die Luft fliegen. Eine klassische Heldenreise beginnt.

Film im Film

Dieser Film im Film macht sich dabei gnadenlos über alles lustig: über Stuntmen, über Action-Stars, über Dreharbeiten und über Romanzen.
Nachdem die Frage: darf Colt Jody am Schluss küssen aus dem (filmischen) Weg ist, ist der Weg für wilden Action frei. Der Zuschauer weiss den Film über nie mehr, als der Held, was eindeutig die Spannung hebt, was Wendungen glaubhaft macht, weil gar nicht versucht werden muss, diese im Vorfeld schon anzudeuten.
Während die Filmgeschichte mit zwei Realitätsebenen spielt: Hier Stunts, die geplant und sicher sind, dort Gefahr für Leib und Leben ohne Absicherung, hat der Zuschauer die dritte Ebene, in der alles sicher und geplant ist, eine Ebene, die für zusätzliche Komik sorgt.

 

Spannung

Auch wenn keine Sekunde Zweifel am erfolgreichen Ende der Geschichte besteht, hält der Film die Spannung über die gesamte Länge von etwas mehr als zwei Stunden mühelos. Und egal wie wahnsinnig die Crashs und Stunts sind, der Film bleibt familientauglich, wesentlich mehr als blaue Flecken bekommt niemand ab.
Fall Guy ist laut, schnell und lustig und drückt einen beim Schauen fest und tief in die Kinositze. Auf alle Fälle sollte man wirklich bis zum Ende im Kino bleiben, setzt der Schluss nach dem Schluss der Geschichte doch noch eine hübsche Pointe auf.

Fall Guy läuft im Artis Kino und im Haydn Kino in Originalversion.