Der Blog

#FilmTipp Kontinental’25

(c) ch.dériaz

Leben, Schuld und viele Fragen

 

Radu Jude, einer der spannendsten europäischen Regisseure, zeigt in Kontinental’25 mit leichter Hand, wie viele Fragen man in einem Kinofilm stellen kann. Und wie viele man dem Publikum dann mit auf den Heimweg gibt.
Vordergründig erzählt der Film von einer Gerichtsvollzieherin im rumänischen Cluij.
Orsolya, die Gerichtsvollzieherin, setzt sich zwar dafür ein, dass ein Obdachloser etwas länger in seinem Kellerverschlag bleiben kann, letztlich muss sie ihn trotzdem rauswerfen (lassen). Der Mann scheint sich ruhig seinem Schicksal zu beugen, als aber nach 20 Minuten das Team aus Gerichtsvollzieherin und Gendarmen zurückkommt, hat sich der Mann umgebracht.
Die subjektive Schuld lastet auf der Frau. Immer wieder erzählt sie den Verlauf der Amtshandlung, ihrem Vorgesetzten, ihrem Mann, einer Freundin, ihrer Mutter. Die Schuldgefühle wollen nicht weichen.

Rohe, fast dokumentarische Bilder
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Kontinental’25 ist komplett mit einem iPhone gedreht, was die Möglichkeit bietet Szenen in originaler Szenerie zu drehen, ohne weiter aufzufallen. Es erfordert aber auch ruhige Kamerapostionen, um Artefakte zu vermeiden. Ganz ausschliessen lassen sie sich nicht: bei Dunkelheit und ohne zusätzliches Licht, gerät das iPhone deutlich an seine Grenzen.
Alle Dialogszenen sind in Halbtotalen gehalten, egal wie lang sie dauern. Dass das keinesfalls langweilig wird, liegt an der Subtilität der Dialoge. Nationalismen brechen plötzlich durch, Orsolya, die ethnische Ungarin, wird wahlweise beschimpft, oder mit scheinbar gutgemeintem, „positiven“ Rassismus konfrontiert. Immer aber spielt auch die Zerstörung des städtischen Umfelds aus kommerzieller Gier eine Rolle. Nicht nur soll das Haus, in dem der Obdachlose den Heizungskeller bewohnte, einem Boutique-Hotel weichen, auch ganze Stadtviertel werden gentrifiziert. Fragen der EU-Politik, Orbans zunehmend totalitärerer Regierungsstil, der Ukraine-Krieg, alles findet Platz in den Gesprächen, macht sie hochaktuell und spannend. Es sind die kleinen Modifikationen der scheinbar ähnlichen Settings, die den Film so kurzweilig und spannend machen.

Verantwortung

Damit macht der Film nachdenklich. Er stellt unangenehme Fragen nach Loyalitäten, nach Gemeinsamkeiten, nach dem Selbstverständnis, mit dem man viele politischen Entscheidungen achselzuckend mitträgt. Es sind die grossen Fragen nach Schuld und nach Verantwortung, die da im vermeintlich Kleinen behandelt werden. Und das mach Radu Jude grossartig.

Der Film läuft in Wien im Gartenabukino und sollte dringend angeschaut werden.

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#FilmTipp Deliver Me from Nowhere

 

 

In Dunkelheit waten

 

Scott Coopers Springsteen: Deliver Me from Nowhere einzuordnen ist gar nicht einfach. Einerseits ein „Biopic“, anderseits aber eben auch nicht.
Der Film erzählt die kurze Phase nach der 1981er-Welttour bis kurz nach dem Erscheinen des Albums „Nebraska“.
Eine Zeit, in der Springsteen mit Dämonen aus der Kindheit, dem Ruhm, sich selber und einer ausgewachsenen Depression kämpfte.
Vieles ist, zumindest für Fans, nicht neu. Aber gerade Fans macht es der Film immer wieder schwer. Man muss im Kino das Bild des realen Bruce Springsteen wegblinzeln, und sich auf den Darsteller Jeremy Allen White einlassen, der trotz brauner Kontaktlinsen, schnarrender Stimme und Springteen-haften Bewegungsmustern, eben nicht wie Springsteen aussieht.
Dafür gelingen die Szenen, in denen White singt, dank geschickter Kamera und Schnittfolge, angenehm unpeinlich.

Beklemmung damals und heute

 

Der Film mischt und montiert parallel Szenen aus der Kindheit – in schwarzweiss – mit Szenen aus dem Film-Jetzt. Die Übergänge ergeben einige der stärksten Szenen im Film: Gleich zu Anfang, wenn der völlig verschreckte kleine Bruce, nahtlos in einen kraftvollen,  „Born to run“ singenden Springsteen auf der Bühne wechselt.
Die Kindheit, die Ängste, die Erinnerungen liefern dem hadernden Springsteen Ideen für neue Songs.
Songs voller Schwere und dunkler Melancholie, die, aufgenommen in der Einsamkeit seines Schlafzimmers, so gar nicht das sind, was die Plattenfirma von ihrem Star erwartet.
Insofern ist der Film auch ein Plädoyer für künstlerische Souveränität.

 

Mitgefühl


Das langsame Tempo des Films, aber auch, dass eigentlich nichts passiert, im Sinn einer erzählerischen Dramatik, vermittelt einen guten Eindruck des langsamen Watens durch massive psychische Schwierigkeiten.
Im Film wie im wahren Leben entsteht aus dieser Phase das tolle Album „Nebraska“ und auch die nächste Stadiontour ist nicht in Gefahr.
Ob das alles einen empfehlenswerten Film ausmacht?
Jein, ist vermutlich die beste Antwort darauf.

Der Film läuft in Wien im Filmcasino

 

#FilmTipp Melt

 

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Auf Schnee schauen

 

Schnee, der vom Himmel fällt.
Schnee, der geschaufelt wird.
Schnee, der knirscht, der wirbelt, der tropft, Berge von Schnee auf der Leinwand:
Melt von Nikolaus Geyrhalter lässt einen im Kinosaal den sonnigen Herbstnachmittag vergessen.

Premiere

 

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Im Rahmen der Viennale feiert der Dokumentarfilm Melt von Nikolaus Geyhalter seine Premiere.
Sonntag 15 Uhr und das Kino ist ausverkauft.

 

127 wunderbare Minuten lang zeigt der Film Schnee und Menschen im Schnee: vom nördlichen Kanada, über Island bis in die Antarktis, von Japan bis in die Alpen. Und auch wenn der Schnee fast immer üppig scheint, erzählen die Menschen, die an den verschiedenen Orten mit ihm zu tun haben, von den Veränderungen, die uns alle betreffen: von Klimawandel, von ungewöhnlichen Schneemengen oder von verschwindenden Gletschern.

Die Stärke der Bilder

Starke, ruhige Bilder, Bilder, die man anschauen kann, über die man nachdenken kann, ohne sich hetzen zu müssen. Kein Kommentar, der einem sagt, was man selber sehen kann, keine Musik, die einem sagen will, was man zu empfinden hat. Ein Film, der im besten Sinn dokumentiert, der zeigt, was ist, zeigt, wie es ist, der Personen zu Wort kommen lässt, ohne Schnickschnack, ohne erzwungene Geschichte.
Und so schaut man, staunt, hört zu. Dem japanischen Paar, genauso wie dem Schweizer Schneeraupenfahrer, dem isländischen Touristenführen auf dem tropfenden Gletscher, oder dem Techniker, der in Val d’Isère den Skizirkus mittels Schneekanonen am Laufen hält.
Es ist alles da, in den Bildern, man braucht nur hinzuschauen.

 

Ruhe und ein paar Pinguine

Den Schluss der Schneereise bildet die Antarktis. Unwirkliche Landschaften, weiss, weit, windig. Dazwischen eine Forschungsstation, Wohn- und Arbeitscontainer, Schneefahrzeuge, Menschen in Schutzkleidung und Pinguine, die laut plappernd, mit geneigtem Kopf alles zu beobachten scheinen.
Der Film macht nachdenklich, wenn man es zulässt. Er erstaunt durch seine Bildsprache. Er begeistert durch seine intelligente und einfühlsame Zusammenstellung.

 

Nikolaus Geyhalter (c) ch.dériaz

Die zweite Vorführung im Rahmen der Viennale gibt es am 20.10. um 21 Uhr, wem das zu kurzfristig ist, der Film läuft in Wien ab 21. November regulär im Kino.
Das sollte man sich nicht entgehen lassen.

 

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#Bernhard Marsch – Gedanken

 

 

Eine Filmstimme verstummt

 

 

Letzte Woche starb der Kölner Filmemacher und Schauspieler
Bernhard Marsch – mit nur 63!
Köln verliert damit eine seiner schillerndsten und schrägsten Filmpersönlichkeiten.
Das Kurzfilmschaffen wird um eine Farbe ärmer.
Und ich verliere einen Freund.

Anfänge

Zum ersten Mal bin ich Bernhard begegnet, als ich gerade noch Cutterassistentin war, und ihm abends „meinen“ Schneideraum zur Verfügung stellen sollte. Ich blieb dann ein bisschen, hab geschaut, was er da schneidet, hab beraten, Tipps gegeben. Und hab mich gefreut, dass da jemand einen Film macht, der keinem Publikum, keiner Sehgewohnheit gehorchen muss, sondern einfach nur dem Gefühl, dem Geschmack des Regisseurs zuzusagen braucht.
Bereits seinen nächsten Kurzfilm, Halleluja, durfte ich dann schneiden.
Das war nicht immer einfach.
Bernhard Marsch war ein dickköpfiger Regisseur. Mehr als einmal haben wir über einzelne Felder – 1/25 einer Sekunde – diskutiert, verhandelt, gestritten.
Rein oder raus? Mit Abstand schauen, oder Bild für Bild?
Das ging manches Mal recht laut und wüst zu.
Vermutlich waren da zwei Dickköpfe im Schneideraum.
Aber immer haben wir einen Weg gefunden, mal hat er nachgegeben, mal ich.

 

Überblendung

Es folgten weitere gemeinsame Arbeiten. Später, als ich nicht mehr in Köln war, blieb der Kontakt über Bundesländer- und Staatsgrenzen aufrecht. Unvergesslich der Schnitt des Pornomusicals Liebe ist Geschmackssache, das er gemeinsam mit Piet Fuchs inszeniert hat. Unvergesslich einerseits, weil ein Pornomusical eine künstlerische und gestalterische Herausforderung ist, und weil Bernhard hier ein einziges Mal in der Endfertigung und ohne mein Wissen, eine Überblendung hat einfügen lassen. Dramaturgisch war diese nicht wirklich zielführend, seine Erklärung: „Ich wollte einmal eine Überblendung im Film haben“.

 

Weltbürger

So kölsch Bernhard Marsch war, so sehr war er auch eine Art Weltbürger, interessierte sich für andere, lernte ständig neue Menschen kennen, lernte von ihnen. Vermutlich hätte man ihn für jeden Ort auf der Welt nach einem Kontakt fragen können und er hätte dort einen Bekannten nennen können.

Bernhard war liebenswert, chaotisch, grosszügig und dickköpfig, freundlich und laut, manchmal launisch.
Das alles hat ein sinnloser, furchtbarer Unfall am 15. Juni 2025 zunichtegemacht.
Bernhard war ein Freund, er wird nicht nur mir fehlen.

#FilmTipp Soldat Monika

 

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Eine Frage des Blickwinkels?

 

Paul Poets neuer Dokumentarfilm Soldat Monika portraitiert eine vielschichtige Person mit vielfältigen filmischen Mitteln.
Monika Donner: Ex-Berufssoldatin, Ex-Mitarbeiterin im Verteidigungsministerium, Autorin, Trans-Frau, Impfgegnerin mit Hang zur rechten Ecke. Aber all das greift zu kurz, wenn man versucht, Monika vorzustellen oder zu erfassen.
Wirklich sympathisch ist sie nicht, aber als Zuschauer fällt es trotzdem schwer Monika Donner nicht zuzuhören und festzustellen, dass man mit Vorurteilen nicht immer weiterkommt.

Inszenierung

 

(c) ch.dériaz

Poet bietet diverse inszenierte Plattformen, in denen sich die Person Donner darstellt, entfaltet.
Auf einer Theaterbühne gibt es eine Art Familienaufstellung, mit Schauspielern als ehemalige Partnerinnen, als Mutter und Vater. Die Konstellation wirft Fragen auf, beantwortet manches, belässt anderes diffus.
Die Schauspieler halten sich dabei nicht immer nur an ihre zugedachte Rolle, brechen aus, sind der Mensch hinter der Maske und haben als solches ihre eigenen Fragen; werden so zu Reflexions- und Reibungsfläche.


Eheleben

Eine weitere Ebene ist Donners Eheleben: ein lesbisches Ehepaar.
Auch hier ist nicht alles so einfach, wie es klingt. Denn Donner hat juristisch durchgesetzt als Frau anerkannt und rechtlich eingetragen zu werden, ohne sich dabei einer medizinischen Umwandlung zu unterziehen. Auch das bietet Angriffsfläche, wirft Fragen auf.

 

Wut

Donner ist oft eine wütende Person. Entsprechend gibt es animierte Sequenzen im Film, die ihren Hintergrund, ihre Träume und ihre Ängste in zum Teil wüste Bilder übersetzen.
Tatsächlich kann man Teile ihrer Wut verstehen, vor allem, weil Donner immer gesprächsbereit und offen ist. Letztlich auch bereit, ihre Ansichten zu modifizieren, Kompromisse einzugehen, sofern man der eloquenten Frau im Gespräch gewachsen ist.

 

Rollenspiel

Eine weitere filmische Ebene bilden Szenen, in denen Monika Donner mit einem grossen Schwert durch Wälder und Abbruchhäuser pflügt. Inszenierung, Umsetzung von Träumen und Phantasien, vielleicht ihre, vielleicht die Paul Poets.

 

Rechts

Unangenehm sind die Szenen bei Corona-Demos, bei Podiumsdiskussionen, wo auch verurteile Rechtsnationale auftauchen. Donner setzt sich da nicht ab, scheint insgesamt zufrieden mit diesem Umfeld, beharrt darauf, dass sie mit den Menschen zu tun hat, nicht mit deren Ideologien.

 

Zulassen

Paul Poet zeigt ein wirklich umfassendes Portrait einer Person voller Gegensätze. Eine Person, die man nicht sympathisch findet, aber das muss man auch nicht. Dank der Dramaturgie und der filmischen Mittel kann man einfach nur zuhören, zuschauen, zulassen und erkennen, dass nichts einfach nur schwarz-weiss ist und sich fragen, wie viel Andersartigkeit man zulässt.

Der Film läuft in Wien im Votivkino und im Metrokino.

 

 

#FilmTipp Sinners

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Buntes Allerlei mit Vampiren

 

Sinners mischt Vampir-Spektakel mit Südstaaten Tradition und tief verwurzelten archaischen Bräuchen. Aus diesen Zutaten kocht Ryan Coogler einen wilden Eintopf, der trotz guter Zutaten etwas unbefriedigend bleibt.

 

Verlorene Söhne

Das Mississippi-Delta in den frühen 1930er Jahren, die Zwillinge Stack und Smoke kommen nach Jahren zurück, im Gepäck nicht nur Gangster-Geld, sondern auch ihre Vergangenheit, und den Wunsch nach einem Neustart. In nur einem Tag verwandeln sie eine alte Scheune in einen Blues-Club. Trotz diverser emotionaler Wunden scheint der alte Zusammenhalt mit Freunden und Familie leicht wiederzubeleben, alle helfen mit, das Projekt auf die Beine zu stellen.

 

Der Süden und der Glaube

 

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Enge familiäre Bindungen, aber auch Glaube und Aberglaube bilden die Grundlage der Geschichte, der Beziehungen, des erzählerischen Bogens. Der junge Sammy, Cousin der Zwillinge und aussergewöhnlicher Bluesmusiker, wird gewarnt, seine musikalische Gabe öffne das Tor zu Zukunft und Vergangenheit, zur Hölle womöglich. Eine der besten Szenen erwächst aus dieser Vorstellung: Sammy spielt und singt, die Gäste tanzen, und immer mehr mischen sich archaische Figuren und Wesen aus der Zukunft auf die Tanzfläche, die Musik wird wilder, schräger, hitziger.

 

Die Vampire

Die Vampire, angeführt von einem irischen Einwanderer, bieten ein paralleles Lebensmodell: ewiges Leben, ewige Freundschaft, Überwindung aller Schranken.
In ihrer lieblichen Art, mit hübschen irischen Gesängen wirken sie wie Vertreter einer Sekte. Vordergründig sanft, im Hintergrund gierig und autoritär. Der Wettkampf der Musikstile bietet eine weitere sehr beeindruckende Szene, einerseits entfesselter Blues, andererseits irischer Stepptanz und blutverschmierte Gestalten.
Auf beiden Seiten Tradition, Musik, Familie, Antagonisten, die gar nicht so verschieden sind.

 

Showdown

Der Showdown kurz vor Sonnenaufgang gerät etwas konfus, zu viele Zutaten, zu viele Probleme, die noch schnell besprochen und gelöst werden müssen, aber reichlich Blut und Geschrei.
Dass am Ende dann auch noch die lokalen Ku-Klux-Klan Idioten aufkreuzen, ist die Zutat zu diesem Südstaateneintopf, die den Geschmack verdirbt. Nicht die Tatsache, dass sie kommen, sondern das Timing. Die Szene verdirbt irgendwie den Fluss der Geschichte, holt noch rasch das letzte Südstaaten-Klischee hervor, um dem Helden einen heldenhaften Abgang zu verschaffen.

 

Dennoch

Insgesamt kann man trotzdem gute zweieinhalb Stunden verbringen, auch wenn es in der Art schon deutlich wildere und originellere Filme gibt.
In Wien läuft Sinners in Originalversion ohne Untertitel im Haydnkino und im Artis Kino, das heisst: keine Hilfe beim Südstaatendialekt.

 

#FilmTipp Pfau – bin ich echt?

(c) ch.dériaz

Alles ist möglich

 

Wer bin ich, wenn ich – gegen sehr gutes Geld – jeder sein kann?
Matthias ist ein professioneller Begleiter, mal kunstsinniger junger Freund, mal Vater und Pilot, mal Sohn, mal schwuler Partner. Jede Rolle minuziös erarbeitet und gelernt.
Aber wer ist Matthias, wenn er zu Hause bei seiner Freundin ist?
Dieser Matthias, so scheint es, ist ihm bei allem beruflichen Erfolg verloren gegangen.
Die privaten Probleme lassen also nicht lange auf sich warten.
Denn auch auf private Fragen antwortet er mit erlernten, stereotypen Sätzen.
So geht kein Privatleben. Und so endet dieses auch.

 

Maske(n)

 

(c) ch.dériaz

Bernhard Wengers Satire Pfau – bin ich echt?
geht weiter, als nur platt die offensichtliche Komik zu bedienen. Subtil bespielt der Film das Desintegrieren der Person in eine Persona, das Verlorengehen in einer Welt und Zeit, in der alles jederzeit möglich, denkbar und machbar ist. Und Albrecht Schuch als Matthias zeigt diese gebrochene Figur mit eigenwillig stoisch eingefrorener Mine, der man dennoch die wachsende Verzweiflung ansehen kann.

Und so ist Pfau – bin ich echt? sowohl tragisch als auch komisch, auch wenn einige „running Gags“ eigentlich eher überflüssig sind. Insgesamt aber ist Pfau – bin ich echt? ein intelligenter Kommentar zu einer Welt, in der sich viele Menschen täglich erfinden, um einer möglichen Fan-Gemeinde als Vorbild und Held zu dienen.

Wer den Film nicht verpassen will, er läuft weiterhin im Wiener Filmcasino.

 

 

# 60.Solothurner Filmtage

EIn Runder Geburtstag in Solothurn

 

Ein Blick durch das Programm der gerade zu Ende gegangenen 60. Schweizer Filmtage.
Und die Frage: Was ist der Schweizer Film?

 

Das Ich und die Heimat

Die Definition von Heimat spielt in Filmen immer wieder eine prominente Rolle, als Aufhänger für Persönliches, als gesellschaftliche Frage, als Ausgangs- oder Endpunkt. Zwei sehr starke Filme nehmen sich im weiteren Sinn des Themas an. Zwei politische Filme, die dennoch sehr persönlich sind.

Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer von Samir erzählt in einem sehr weiten Bogen von Menschen, die zum Arbeiten kamen und zum Leben blieben. Die Geschichte der Gastarbeiter, die heute häufig eher Arbeitsmigranten oder manchmal gar als Asylsuchende betitelt werden.
Doch von Vorne:
Nach dem Krieg hat auch die Schweiz massenweise Arbeiter für den Billiglohnsektor ins Land geholt.Diese meist aus Italien und Spanien kommenden Arbeiter wurden schnell ausgegrenzt, mit Schimpfnamen bedacht, oder als Messerstecher diffamiert. Samir erzählt die Geschichte anhand von Photos, Filmausschnitten und Interviews mit Menschen, die damals als Kinder oder junge Erwachsenen kamen. Als roter Faden strukturieren animierte Sequenzen, die Samirs Geschichte als Sohn eines Irakers und einer Schweizerin, der in den frühen 60er Jahre in die Schweiz kam, den Film. Dieses Element erlaubt auch die Kommentarstimme des Regisseurs; er ist ein Erzähler, aber auch ein Protagonist.
Es ist ein zugegebenermassen langer Film, manchmal etwas zu ausufernd, wenn zusätzlich noch die Geschichte der Gewerkschaften mit hineinspielt. Andererseits gehört das eben auch alles zusammen. Und die Probleme von damals sind die gleichen, bloss die Ankommenden heute sind aus anderen Ländern.

 

(c) Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

 

In Il ragazzo della Drina folgt Zijad Ibrahimovic seinem Protagonisten in die andere Richtung.1992 flieht Irvin mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus Bosnien nach Italien, 2015 kehrt er zurück nach Srebrenica. Zurück, um dem Kriegstrauma der Kindheit in die Augen zu schauen. Was ihm dort begegnet ist eine leere Gegend, kaputte Häuser, kaum Menschen, Erinnerungen, Geister, die nicht schweigen, und immer wieder Krieg und Massaker.
Ein filmisches Tagebuch, sensibel, persönlich, in ruhigen Bildern erzählt und sparsam im Einsatz von Musik. Die Kamera bleibt oft hinter dem Protagonisten, der auf einer überwucherten Lichtung alleine und in traditioneller Bauweise Holzhütten baut. Ein Versuch zurückzubauen, was verloren ging, die Heilung einer Wunde, einer inneren wie ein äusseren. Dabei kommentiert er, in Art eines Selbstgesprächs, in der emotionalen Sicherheit des Italienischen, der Sprache der Zuflucht und des Schutzes. Eine Beobachtung über vier Jahre, ein Reflektieren über Verlust, Heimat und Rückkehr. Sehr schön.

 

(c) il ragazzo della Drina

 

 

Enge und Weite

In nur 48 Minuten zeigt Galaxi Urnäsch 3000 von Nina Fritz, Lola Scurlock, Felix Scherer und Lasse Linder die Analogie von Mikro- und Makrokosmos.
Das Kleine im Ganzen, das Individuum als Teil des Universums, als Abgrenzung, drinnen und auch draussen. Das Portrait eines Appenzeller-Dorfes, in relativ statischen 4:3 Bildern gedreht, zeigt Traditionen, Alltag und die feinen Risse, die entstehen, wenn die Zeit vergeht und sich Veränderungen subtil einschleichen.Parallel zum dörflichen Treiben: ein Astronom, der von den unglaublichen Weiten des Alls erzählt, aber eben auch von den Winzigkeiten, die sich dort ergeben. Und so stehen Kälbergeburt, traditioneller Gesang und Rap nebeneinander, während der Gemeinderat über das Abschalten der Kirchenglocken in der Nacht berät.
Tradition oder Moderne? Beides!

 

(c) Galaxi Urnäsch 3000

 

Weiter weg geht Maja Tschumi für ihren Film Immortals .
Strukturiert und spannend wie ein Spielfilm erzählt Immortals von Milo, einer jungen Irakerin, die nach den Protesten von 2019 von ihrer Familie eingesperrt wird. Die sich als junger Mann verkleidet wegschleicht, weg will, weg muss, um zu überleben. Und doch wird sie immer wieder zurückgeworfen, zurückgehalten. Der zweite Protagonist, Khalili, hat mit seinen Kameras die Proteste 2019 festgehalten, egal, wie oft er dabei selber verletzt wurde, er ist zurück ins Geschehen. Der Film erzählt in drei Teilen, erst Milos Geschichte, dann Khallils Geschichte, Teil drei, die Entscheidung, schneidet beide Geschichten zusammen. Was bleibt 2022 von den Protesten im Irak? Eine weiterhin korrupte Regierung. Milo, die weiterhin weg müsste, wenn sie überleben will, die aber ihre Freundin nicht zurücklassen will. Und Khalili, der sich scheinbar den Gegebenheiten ergibt, seine Kameras in den hintersten Winkel seines Schranks mehr stösst als stellt, der heiratet, und doch bei den erneuten Protesten seine Kamera packt und wieder mitgeht, schaut, dreht, dokumentiert. Spannend bis zur letzten Filmminute. Und so ein sehr verdienter Prix de Soleure.

 

(c) immortals

 

Familie immer wieder

Bagger Drama von Piet Baumgartner
Eine Familie zerlegt sich. Im vierten Jahr nach dem Unfalltod der Tochter ist vom vormaligen Familienglück nichts mehr übrig. Während die Emotionen eigentlich offen daliegen, gehen sie nicht in die Tiefe, weder bei den Figuren, noch beim Zuschauer. Die Eröffnung des Sohns, er sei Homosexuell, quittiert die Mutter mit einem freundlichen „ich weiss“ gefolgt von Tränen, da sie jetzt wohl keine Enkel mehr bekommt. Aber auch diese Situation bleibt völlig blutleer. Maschinell, wie ihre programmierbaren Bagger, die wunderhübsch Ballett tanzen, oder der Saugroboter, der still im Hintergrund seine Kreise zieht, zerfällt die Familie.
Allein der Familienhund scheint wirklich lebendig, doch sein ständiges und lebhaftes Bellen verheisst für ihn nichts Gutes. Sehr schöne verspielte Bilder, die aber über die Länge nur noch sich selbst bezwecken.

 

(c) Bagger Drama

 

Road’s End In Taiwan von Maria Nicollier
Als der Genfer Damien einen Brief aus Taiwan bekommt, in dem er vom Tod seines Vaters informiert wird, stellt er fest, dass nichts von dem, was seine Mutter erzählt hat, stimmen kann. In Taiwan erfährt er zusätzlich, dass, um die Erbschaft anzutreten, alle Berechtigten – zwei weitere Halbbrüder und eine Ehefrau – unterschreiben müssen. Mit einem der beiden Brüder fährt er zusammen durchs Land, auf der Suche nach den anderen. Während für Damien vor allem wichtig ist, zu erfahren, wer sein Vater war, wollen die beiden Halbbrüder einfach nur das Erbe. Eine Fahrt in eine Vergangenheit und eine Familiengeschichte, die alles andere als schön und heil ist. Schön gemacht, gut gespielt und spannend.

 

(c) Road’s end in Taiwan

 

 

Selbst(er)findung

Hôtel Silence von Léa Pool ist eine Romanverfilmung.
Jean, ein lebensmüder Kanadier, packt seine Sachen, Werkzeug und Haken inklusive, und fährt in ein fiktives Land, das nach fünf Jahren Bürgerkrieg gerade zur Ruhe kommt. Sein Plan: sich dort anonym, und ohne ihm nahestehende Menschen zu belästigen, umzubringen.
Der Mann, der alles reparieren, oder flicken kann, nur anscheinend seine eigenen Wunden nicht. Seine Lebensmüdigkeit prallt dort am Lebenswillen und der Resilienz der Überlebenden ab. Der Film suggeriert immer wieder, dass Jean möglicherweise in die Geschehnisse des Krieges involviert sein könnte. Die daraus entstehende vermeintliche Spannung ist eigentlich völlig überflüssig, besonders, da ihre Auflösung eher unbefriedigend gerät. Dabei ist der Kontrast von Überdruss zu Lebensmut eigentlich Geschichte genug. Die Bilder, die Anfangs wie mit einer Art bräunlichen Firnis überzogen sind, werden im Verlauf der Geschichte unmerklich heller, fröhlicher.

 

(c) Hôtel silence

 

 

Nochmals eine Selbstsuche, diesmal dokumentarisch in Osteria all’undici von Filippo Demarchi. Ein filmisches Selbstportrait zur Selbstheilung.Der Regisseur arbeitet nach einen Zusammenbruch, oder Burnout, als Kellner in einem Restaurant, das psychisch labilen Personen eine Chance auf einne Neustart bietet.Er nutzt das Medium Film, um zurück zu einem Ich zu finden, das Film-Kunst und Wertschätzung zusammenbringt.Vielleicht kein umwerfender Film, aber doch mit Humor und handwerklichem Können gestaltet.

 

Schräge Welten

Milchzähne von Sophia Bösch
Eine merkwürdige Gemeinschaft im Nirgendwo, ein Wald, ein Fluss, archaische Regeln. Und ein diffuser nicht wirklich näher benannter Aberglaube an einen Feind. Laut Katalogtext eine „dystopische Zukunft“.
Warum allerdings Geschichten, die von einer dystopischen Zukunft handeln, immer dazu neigen, hierarchisch-autoritär organisierte Welten zu zeigen, in denen das Andersartige unfehlbar als Feind gebrandmarkt und ausgegrenzt werden muss, bleibt ein Rätsel. Wenig originell ist es auf jeden Fall. Selbst wenn es bei Milchzähne hübsch gemacht ist.
Ein kleines Mädchen taucht auf, parallel dazu verschwindet erst Vieh und dann noch zwei Kinder. Die Gemeinschaft ist sicher, das Mädchen ist einem Aberglauben folgend ein Wolfskind, eingeschleust, um Unglück zu bringen. Natürlich kümmern sich die zwei als Aussenseiterinnnen geltenden Frauen um das Kind, natürlich bringt das allen Ärger, den man sich in der Konstellation denken kann.
Es ist schon ok, wenn eine Geschichte nicht jeden Hintergrund, jede Motivation genau auserzählt, aber hier gibt es winzige Andeutungen, und der Rest bleibt verborgen. Man ist allein mit einer Welt, die, bis auf Autos und moderne Waffen, auch vor zweihundert Jahren angesiedelt sein könnte. Das macht den Film eher langweilig, als spannend, das Mitfühlen mit den Figuren und ihren Problemen fällt aus, weil man ihnen nie nah kommen kann.


Zurücklehnen

Ein wenig zurückgelehnte Entspannung macht es dagegen leicht dem Animationsfilm Reise der Schatten von Yves Netzhammer zu folgen.
Alles entsteht aus Allem, eine surreale Reise in eine animierte Welt, in der viel Böses passiert. Gesichtlose, geschlechtslose Humanoide in stetigem Wandel. Mal in eine heftige, befremdliche Sexualität verstrickt, dann in böse Gewalttätigkeit. Ein Menschenaffe – mit Gesicht – in einem Käfig, ein Anglerfisch im Aquarium und rote Kugeln, die Gegenwart und Zukunft zu spiegeln scheinen, ziehen sich durch den Film, leiten die Figuren.
Am Ende steht der Anfang.

 

(c) Reise der Schatten

 

Blut

 

 

(c) Bernadette will töten

 


Schräg, wenn auch ein wenig hölzern, ist die schweizerisch-österreichische Koproduktion
Bernadette will töten von Oliver Paulus und Robert Herzl.
Eine Internet-Splatter-Satire, vermutlich mit zu viel Blut und Gedärm für reine Satire-Fans, dafür mit etwas zu viel Gerede für reine Splatter-Freunde.
Nach einem vereitelten Selbstmord, beschliesst die titelgebenden Bernadette, dass sie nicht mehr sterben, sondern lieber Töten will. Eine seltsame Psychologin lockt sie auf eine einschlägige Plattform im Darknet. Die naive, internetunaffine junge Frau gerät in eine intrigenschwangere Mordverabredung. Blut, Spass und sehr wienerische Figuren.

 

Wasser

 

(c) Vracht

 

Einer der schönsten Filme ist: Vracht von Max Carlo Kohal.
Vier Jahre Lehre auf einem Frachtschiff. Vom unsicheren Anfänger, der sich quälend mit dem Tau abmüht, zum Kapitän, der souverän rückwärts ins Hafenbecken einparkt. Ein faszinierender Einblick in die Welt der Frachtschifffahrt auf dem Rhein. Bilder, die ruhig, sachlich und trotzdem schön vom Alltag an Bord erzählen.
Eine hermetische Welt, deren wirkliche Grösse zu keinem Zeitpunkt wirklich sichtbar wird, und die der Film zu keinem Zeitpunkt verlässt. So bleibt man immer ganz nah an den Protagonisten und deren Entwicklung. Ein wirklich faszinierender Film.

 

Was ist nun der Schweizer Film? Er ist sicher nicht auf ein, zwei Schlagworte zu reduzieren. Er ist vielfältig, oft ungewöhnlich, immer öfter koproduziert und wird, nicht zuletzt durch diese Koproduktionen, immer sichtbarer. Es gilt also, ihn auch in den Kinos ausserhalb der Schweiz, ausserhalb eines Festivals anzuschauen und zu entdecken.

#FilmTipp_ Flow

(c) ch.dériaz

 

 

Die Katze, das Wasser, die Dystopie

 

Auch wenn viele geneigt sind einen Animationsfilm als Kinderfilm abzutun, ganz oft liegt man mit dieser Einschätzung falsch. Die belgisch, lettisch, französische Koprodunktion Flow von Gints Zilbalodis bildet da keine Ausnahme.
Die Altersfreigabe ab 6 Jahren sollte man auf jeden Fall nicht unterschreiten.

Wasser

 

(c) ch.dériaz

 

Eine Welt, in der nur noch vereinzelte Spuren davon zeugen, dass auch mal Menschen dort gelebt haben, wird von einer riesigen Flutwelle überrollt. Tiere flüchten in Scharen vor dem heranrollenden Wasser, auch die kleine schwarze Katze, die eben noch von einer Meute Hunde gejagt wurde, rennt um ihr Leben.
Aber wohin, wenn überall nur noch Wasser ist, das auch noch weiter steigt und steigt.

 

Ruinen, Berge, Bäume

 

Was eben noch Sicherheit bedeutete, bietet gleich nur noch Platz für ganz eng zusammengestellte Katzenpfoten. Drumherum: Wasser.
Da taucht ein kleines Segelboot auf, an Bord ein dickes Wasserschwein, in letzter Sekunde rettet sich die Katze in Sicherheit.

Ängste überwinden, Allianzen finden

 

Wie in allen Abenteuern oder Heldenreisen gilt es, über sich und seine persönlichen Ängste hinauszuwachsen, aber auch zu finden, mit wem man sich zusammentun kann, um Energie, Wissen und Können zu bündeln, um gemeinsam stärker zu sein.
So kommen während der Fahrt gegen Wind, Wellen und Regen zuerst ein Katta, dann ein Hund und ein Sekretärvogel dazu. Eine ganz schön diverse Truppe, die sich anfangs auch eher skeptisch anschaut. Im Verlauf der Reise zeigt sich aber, dass genau diese Diversität den einheitlichen Tiergruppen überlegen ist. Der Zusammenhalt wächst, man hat sich nicht gesucht, aber gefunden.


Ohne Sprache, aber nicht sprachlos

 

Der Film kommt völlig ohne Sprache (im herkömmlichen Sinn) aus.
Die Tiere schnattern, bellen, grunzen und maunzen miteinander, und es ist immer sehr klar, was da „gesagt“ wird. Wie gut der Vogel oder das Wasserschwein beobachtet sind, kann ich nicht sagen, aber die Eigenheiten und Ausdrucksformen von Katze und Hund sind sehr genau getroffen. Die Tiere agieren zwar als Gruppe gegen eine Gefahr, werden dabei aber nicht mit menschlichen Attributen überzuckert. Sie müssen ihre Haut retten, nicht mehr und nicht weniger.
Der Film verzichtet auch auf jegliche Erklärung der Umstände. Man erfährt weder wo die Menschen hin sind, von denen Häuser, Bilder, Skulpturen übrig sind, noch woher das Wasser kommt. Und selbst das Ende ist eigentlich der Anfang von etwas, das nicht näher erklärt wird.

 

Divers und Solidarisch

 

Ohne den Zeigefinger zu heben, zeigt der Film die Kraft von Diversität und Solidarität. Und das verstehen alle, die diesen Film gesehen haben, problemlos.

Flow läuft in Wien im Filmcasino noch dreimal in diesem Jahr, und ist dann ab 7. Februar 2025 regulär im Kino zu sehen.

 

 

#Locarno77 Zum Schluss

(c) ch.dériaz

 

Trauern und Traditionen

Locarno bereitet sich vor, auf die Preise, auf den letzten Abend auf der Piazza Grande und auf das Gewitter, das für den Abend angekündigt ist.

Kasachische Filme sieht man wirklich selten in Europa, dafür fanden sich dieses Jahr gleich zwei in den Wettbewerbsprogrammen. Joqtau von Aruan Anartay ist ein Spielfilm in Dokumentarfilm-Ästhetik gehüllt. Tatsächlich ist man erst mit dem Abspann sicher, dass es ein Spielfilm war, davor lässt der Film Zweifel zu.
Dem Patriarchen einer kasachisch-nomadischen Familie geht es nicht gut, also reist sein Enkel mit Freundin aus Russland an. Nomadische und islamische Traditionen, die beiden fremd sind, machen die Reise zu einem Abenteuer. Die Geschichte wird in nicht chronologischen, nicht linearen Bögen erzählt. Eine letzte Fahrt des Grossvaters mit Enkel und Freundin ins Herkunftsdorf werden mit Photos der Fahrt und mit Vorbereitungen für das Begräbnis gemischt. Dazu, einem akustischen Tagebuch gleich, Off-Refelxionen der Freundin und des Enkels. Nicht uninteressant.

 

(c) ch.dériaz

 

 

Litauen räumt ab

Litauen hat zwei Filme im Programm und beide werden mit reichlich Preisen ausgezeichnet.
Der Pardo d’Oro, Hauptpreis des Festivals, ebenso wie der Pardo Swatch First Feature Award gehen an Saulė Bliuvaitė für Akiplėša (Toxic). Dazu kommen noch der Preis der Ökumänischen Jury und der zweite Preis der Jugend-Jury.

Seses von Laurynas Bareiša gewinnt den Pardo für die beste Regie und das gesamte Darstellerteam den Schauspiel-Pardo.

Der MUBI Award – Debut Feature, also ein weiterer Preis für Erstlingsfilme, geht an:
Green Line von Sylvie Ballyot, und auch hier ein Preis der Jugend-Jury.

 

 

Saulė Bliuvaitė (li)
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Österreich und Georgien mit zahlreichen Preisen


Mond von Kurdwin Ayub erhält den Spezialpreis der Jury, sowie auch den Preis von Euroimages und der Jugend-Jury.
Der Pardo d’Oro im Concorso Cineasti del Presente geht an Holy  Electricity von Tato Kotetishvili und auch dieser Film wurde von der Jugend-Jury bedacht.

Beste aufstrebende Regisseurin in dieser Sektion: Denise Fernandes für HanamiI.

Der Pardo Verde geht an: Agora von Ala Eddine Slim.

 

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Vielleicht keine Premiere, aber selten genug, dass ich alle Preisträgerfilme gesehen habe. Auch nicht einmalig, aber auch selten, finde ich alle Preise nachvollziehbar, gerechtfertigt und lassen den Glauben an die Qualitäten von Festival-Jurys wachsen.
Besonders schön und spannend sind immer die Preise der Jugend-Jurys, die jedes Jahr wieder mit enormem filmischen Wissen und Gefühl für gute Geschichten auffallen.
Gewonnen haben, fast durch die Bank, Filme mit (sozial)politischen Themen und alle haben eine spezielle, originelle filmische Handschrift und Herangehensweise an ihre Themen gezeigt.
Alle Preise auf der Festivalseite.

 

 

 

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Es bleibt schön

 

Das, was am Morgen noch drohende Gewitterwolken waren, hat sich in der Hitze des Nachmittags in niedliche Abendwölkchens verwandelt. Es wird wohl auch an diesem Abend auf der Piazza trocken bleiben.

Der Abschlussabend verläuft etwas anders als sonst, Jury-Präsidentin Jessica Hausner hat kurz die Bühne, übergibt vor dem grossen Publikum nochmal den Goldenen Leoparden an Saulė Bliuvaitė.
Der Publikumspreis der Piazza Grande wird noch bekannt gegeben, er geht an Reinas von Klaudia Reynicke.

 

Giona A. Nazzaro
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Giona A. Nazzaro spricht noch einmal mit viel Emotion von der grossen Liebe zum Kino, zum Kino als Mittel des Miteinanders. Es hat etwas Schwermütiges, wie er das sagt. Von der neuen Festival-Präsidentin Maja Hoffmann ist nichts mehr zu sehen oder zu hören.
Der letzte Abendfilm der 77. Ausgabe des Festivals kann beginnen.

 

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Hund

Eine Dramödie möchte man Le Procès du chien von Laetitia Dosch nennen. Der Film, nach einer wahren Begebenheit, erzählt vom Prozess gegen einen Hund, der mehrmals zugebissen hat. Jetzt drohen dem Halter eine hohe Geldstrafe und dem Hund der Tod. Eine etwas chaotische Anwältin verteidigt den Hund, indem sie über ihn zunächst nicht als Sache, sondern als Entität verhandeln lässt. Ihr gegenüber, die Verteidigerin der Gebissenen, eine karrieregeile, geifernde Anwältin, auf dem Sprung in die Lokalpolitik. Der Film hat sehr witzige Momente, nervende Passagen, weil sowohl das Chaotische als auch das Geifernde auf die Dauer zu viel werden. Und der Film ist auch berührend, einfach, weil der Hund so toll ist, und man ahnt, dass das alles nicht wirklich gut ausgehen kann.

Das Festival ist zu Ende, bleibt die Hoffnung, dass möglichst viele der Filme ihren Weg in Kinos finden, nicht nur in ihren Herkunftsländern. Weil, ja, Filme verbinden, Filme öffnen die Sicht auf Anderes, und Filme bereichern.
Locarno 78 startet am 6. August 2025

 

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