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#FilmTipp Soldat Monika

 

(c) ch.dériaz

 

Eine Frage des Blickwinkels?

 

Paul Poets neuer Dokumentarfilm Soldat Monika portraitiert eine vielschichtige Person mit vielfältigen filmischen Mitteln.
Monika Donner: Ex-Berufssoldatin, Ex-Mitarbeiterin im Verteidigungsministerium, Autorin, Trans-Frau, Impfgegnerin mit Hang zur rechten Ecke. Aber all das greift zu kurz, wenn man versucht, Monika vorzustellen oder zu erfassen.
Wirklich sympathisch ist sie nicht, aber als Zuschauer fällt es trotzdem schwer Monika Donner nicht zuzuhören und festzustellen, dass man mit Vorurteilen nicht immer weiterkommt.

Inszenierung

 

(c) ch.dériaz

Poet bietet diverse inszenierte Plattformen, in denen sich die Person Donner darstellt, entfaltet.
Auf einer Theaterbühne gibt es eine Art Familienaufstellung, mit Schauspielern als ehemalige Partnerinnen, als Mutter und Vater. Die Konstellation wirft Fragen auf, beantwortet manches, belässt anderes diffus.
Die Schauspieler halten sich dabei nicht immer nur an ihre zugedachte Rolle, brechen aus, sind der Mensch hinter der Maske und haben als solches ihre eigenen Fragen; werden so zu Reflexions- und Reibungsfläche.


Eheleben

Eine weitere Ebene ist Donners Eheleben: ein lesbisches Ehepaar.
Auch hier ist nicht alles so einfach, wie es klingt. Denn Donner hat juristisch durchgesetzt als Frau anerkannt und rechtlich eingetragen zu werden, ohne sich dabei einer medizinischen Umwandlung zu unterziehen. Auch das bietet Angriffsfläche, wirft Fragen auf.

 

Wut

Donner ist oft eine wütende Person. Entsprechend gibt es animierte Sequenzen im Film, die ihren Hintergrund, ihre Träume und ihre Ängste in zum Teil wüste Bilder übersetzen.
Tatsächlich kann man Teile ihrer Wut verstehen, vor allem, weil Donner immer gesprächsbereit und offen ist. Letztlich auch bereit, ihre Ansichten zu modifizieren, Kompromisse einzugehen, sofern man der eloquenten Frau im Gespräch gewachsen ist.

 

Rollenspiel

Eine weitere filmische Ebene bilden Szenen, in denen Monika Donner mit einem grossen Schwert durch Wälder und Abbruchhäuser pflügt. Inszenierung, Umsetzung von Träumen und Phantasien, vielleicht ihre, vielleicht die Paul Poets.

 

Rechts

Unangenehm sind die Szenen bei Corona-Demos, bei Podiumsdiskussionen, wo auch verurteile Rechtsnationale auftauchen. Donner setzt sich da nicht ab, scheint insgesamt zufrieden mit diesem Umfeld, beharrt darauf, dass sie mit den Menschen zu tun hat, nicht mit deren Ideologien.

 

Zulassen

Paul Poet zeigt ein wirklich umfassendes Portrait einer Person voller Gegensätze. Eine Person, die man nicht sympathisch findet, aber das muss man auch nicht. Dank der Dramaturgie und der filmischen Mittel kann man einfach nur zuhören, zuschauen, zulassen und erkennen, dass nichts einfach nur schwarz-weiss ist und sich fragen, wie viel Andersartigkeit man zulässt.

Der Film läuft in Wien im Votivkino und im Metrokino.

 

 

#FilmTipp Sinners

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Buntes Allerlei mit Vampiren

 

Sinners mischt Vampir-Spektakel mit Südstaaten Tradition und tief verwurzelten archaischen Bräuchen. Aus diesen Zutaten kocht Ryan Coogler einen wilden Eintopf, der trotz guter Zutaten etwas unbefriedigend bleibt.

 

Verlorene Söhne

Das Mississippi-Delta in den frühen 1930er Jahren, die Zwillinge Stack und Smoke kommen nach Jahren zurück, im Gepäck nicht nur Gangster-Geld, sondern auch ihre Vergangenheit, und den Wunsch nach einem Neustart. In nur einem Tag verwandeln sie eine alte Scheune in einen Blues-Club. Trotz diverser emotionaler Wunden scheint der alte Zusammenhalt mit Freunden und Familie leicht wiederzubeleben, alle helfen mit, das Projekt auf die Beine zu stellen.

 

Der Süden und der Glaube

 

(c) ch.dériaz

 

Enge familiäre Bindungen, aber auch Glaube und Aberglaube bilden die Grundlage der Geschichte, der Beziehungen, des erzählerischen Bogens. Der junge Sammy, Cousin der Zwillinge und aussergewöhnlicher Bluesmusiker, wird gewarnt, seine musikalische Gabe öffne das Tor zu Zukunft und Vergangenheit, zur Hölle womöglich. Eine der besten Szenen erwächst aus dieser Vorstellung: Sammy spielt und singt, die Gäste tanzen, und immer mehr mischen sich archaische Figuren und Wesen aus der Zukunft auf die Tanzfläche, die Musik wird wilder, schräger, hitziger.

 

Die Vampire

Die Vampire, angeführt von einem irischen Einwanderer, bieten ein paralleles Lebensmodell: ewiges Leben, ewige Freundschaft, Überwindung aller Schranken.
In ihrer lieblichen Art, mit hübschen irischen Gesängen wirken sie wie Vertreter einer Sekte. Vordergründig sanft, im Hintergrund gierig und autoritär. Der Wettkampf der Musikstile bietet eine weitere sehr beeindruckende Szene, einerseits entfesselter Blues, andererseits irischer Stepptanz und blutverschmierte Gestalten.
Auf beiden Seiten Tradition, Musik, Familie, Antagonisten, die gar nicht so verschieden sind.

 

Showdown

Der Showdown kurz vor Sonnenaufgang gerät etwas konfus, zu viele Zutaten, zu viele Probleme, die noch schnell besprochen und gelöst werden müssen, aber reichlich Blut und Geschrei.
Dass am Ende dann auch noch die lokalen Ku-Klux-Klan Idioten aufkreuzen, ist die Zutat zu diesem Südstaateneintopf, die den Geschmack verdirbt. Nicht die Tatsache, dass sie kommen, sondern das Timing. Die Szene verdirbt irgendwie den Fluss der Geschichte, holt noch rasch das letzte Südstaaten-Klischee hervor, um dem Helden einen heldenhaften Abgang zu verschaffen.

 

Dennoch

Insgesamt kann man trotzdem gute zweieinhalb Stunden verbringen, auch wenn es in der Art schon deutlich wildere und originellere Filme gibt.
In Wien läuft Sinners in Originalversion ohne Untertitel im Haydnkino und im Artis Kino, das heisst: keine Hilfe beim Südstaatendialekt.

 

#FilmTipp Pfau – bin ich echt?

(c) ch.dériaz

Alles ist möglich

 

Wer bin ich, wenn ich – gegen sehr gutes Geld – jeder sein kann?
Matthias ist ein professioneller Begleiter, mal kunstsinniger junger Freund, mal Vater und Pilot, mal Sohn, mal schwuler Partner. Jede Rolle minuziös erarbeitet und gelernt.
Aber wer ist Matthias, wenn er zu Hause bei seiner Freundin ist?
Dieser Matthias, so scheint es, ist ihm bei allem beruflichen Erfolg verloren gegangen.
Die privaten Probleme lassen also nicht lange auf sich warten.
Denn auch auf private Fragen antwortet er mit erlernten, stereotypen Sätzen.
So geht kein Privatleben. Und so endet dieses auch.

 

Maske(n)

 

(c) ch.dériaz

Bernhard Wengers Satire Pfau – bin ich echt?
geht weiter, als nur platt die offensichtliche Komik zu bedienen. Subtil bespielt der Film das Desintegrieren der Person in eine Persona, das Verlorengehen in einer Welt und Zeit, in der alles jederzeit möglich, denkbar und machbar ist. Und Albrecht Schuch als Matthias zeigt diese gebrochene Figur mit eigenwillig stoisch eingefrorener Mine, der man dennoch die wachsende Verzweiflung ansehen kann.

Und so ist Pfau – bin ich echt? sowohl tragisch als auch komisch, auch wenn einige „running Gags“ eigentlich eher überflüssig sind. Insgesamt aber ist Pfau – bin ich echt? ein intelligenter Kommentar zu einer Welt, in der sich viele Menschen täglich erfinden, um einer möglichen Fan-Gemeinde als Vorbild und Held zu dienen.

Wer den Film nicht verpassen will, er läuft weiterhin im Wiener Filmcasino.

 

 

# 60.Solothurner Filmtage

EIn Runder Geburtstag in Solothurn

 

Ein Blick durch das Programm der gerade zu Ende gegangenen 60. Schweizer Filmtage.
Und die Frage: Was ist der Schweizer Film?

 

Das Ich und die Heimat

Die Definition von Heimat spielt in Filmen immer wieder eine prominente Rolle, als Aufhänger für Persönliches, als gesellschaftliche Frage, als Ausgangs- oder Endpunkt. Zwei sehr starke Filme nehmen sich im weiteren Sinn des Themas an. Zwei politische Filme, die dennoch sehr persönlich sind.

Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer von Samir erzählt in einem sehr weiten Bogen von Menschen, die zum Arbeiten kamen und zum Leben blieben. Die Geschichte der Gastarbeiter, die heute häufig eher Arbeitsmigranten oder manchmal gar als Asylsuchende betitelt werden.
Doch von Vorne:
Nach dem Krieg hat auch die Schweiz massenweise Arbeiter für den Billiglohnsektor ins Land geholt.Diese meist aus Italien und Spanien kommenden Arbeiter wurden schnell ausgegrenzt, mit Schimpfnamen bedacht, oder als Messerstecher diffamiert. Samir erzählt die Geschichte anhand von Photos, Filmausschnitten und Interviews mit Menschen, die damals als Kinder oder junge Erwachsenen kamen. Als roter Faden strukturieren animierte Sequenzen, die Samirs Geschichte als Sohn eines Irakers und einer Schweizerin, der in den frühen 60er Jahre in die Schweiz kam, den Film. Dieses Element erlaubt auch die Kommentarstimme des Regisseurs; er ist ein Erzähler, aber auch ein Protagonist.
Es ist ein zugegebenermassen langer Film, manchmal etwas zu ausufernd, wenn zusätzlich noch die Geschichte der Gewerkschaften mit hineinspielt. Andererseits gehört das eben auch alles zusammen. Und die Probleme von damals sind die gleichen, bloss die Ankommenden heute sind aus anderen Ländern.

 

(c) Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

 

In Il ragazzo della Drina folgt Zijad Ibrahimovic seinem Protagonisten in die andere Richtung.1992 flieht Irvin mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus Bosnien nach Italien, 2015 kehrt er zurück nach Srebrenica. Zurück, um dem Kriegstrauma der Kindheit in die Augen zu schauen. Was ihm dort begegnet ist eine leere Gegend, kaputte Häuser, kaum Menschen, Erinnerungen, Geister, die nicht schweigen, und immer wieder Krieg und Massaker.
Ein filmisches Tagebuch, sensibel, persönlich, in ruhigen Bildern erzählt und sparsam im Einsatz von Musik. Die Kamera bleibt oft hinter dem Protagonisten, der auf einer überwucherten Lichtung alleine und in traditioneller Bauweise Holzhütten baut. Ein Versuch zurückzubauen, was verloren ging, die Heilung einer Wunde, einer inneren wie ein äusseren. Dabei kommentiert er, in Art eines Selbstgesprächs, in der emotionalen Sicherheit des Italienischen, der Sprache der Zuflucht und des Schutzes. Eine Beobachtung über vier Jahre, ein Reflektieren über Verlust, Heimat und Rückkehr. Sehr schön.

 

(c) il ragazzo della Drina

 

 

Enge und Weite

In nur 48 Minuten zeigt Galaxi Urnäsch 3000 von Nina Fritz, Lola Scurlock, Felix Scherer und Lasse Linder die Analogie von Mikro- und Makrokosmos.
Das Kleine im Ganzen, das Individuum als Teil des Universums, als Abgrenzung, drinnen und auch draussen. Das Portrait eines Appenzeller-Dorfes, in relativ statischen 4:3 Bildern gedreht, zeigt Traditionen, Alltag und die feinen Risse, die entstehen, wenn die Zeit vergeht und sich Veränderungen subtil einschleichen.Parallel zum dörflichen Treiben: ein Astronom, der von den unglaublichen Weiten des Alls erzählt, aber eben auch von den Winzigkeiten, die sich dort ergeben. Und so stehen Kälbergeburt, traditioneller Gesang und Rap nebeneinander, während der Gemeinderat über das Abschalten der Kirchenglocken in der Nacht berät.
Tradition oder Moderne? Beides!

 

(c) Galaxi Urnäsch 3000

 

Weiter weg geht Maja Tschumi für ihren Film Immortals .
Strukturiert und spannend wie ein Spielfilm erzählt Immortals von Milo, einer jungen Irakerin, die nach den Protesten von 2019 von ihrer Familie eingesperrt wird. Die sich als junger Mann verkleidet wegschleicht, weg will, weg muss, um zu überleben. Und doch wird sie immer wieder zurückgeworfen, zurückgehalten. Der zweite Protagonist, Khalili, hat mit seinen Kameras die Proteste 2019 festgehalten, egal, wie oft er dabei selber verletzt wurde, er ist zurück ins Geschehen. Der Film erzählt in drei Teilen, erst Milos Geschichte, dann Khallils Geschichte, Teil drei, die Entscheidung, schneidet beide Geschichten zusammen. Was bleibt 2022 von den Protesten im Irak? Eine weiterhin korrupte Regierung. Milo, die weiterhin weg müsste, wenn sie überleben will, die aber ihre Freundin nicht zurücklassen will. Und Khalili, der sich scheinbar den Gegebenheiten ergibt, seine Kameras in den hintersten Winkel seines Schranks mehr stösst als stellt, der heiratet, und doch bei den erneuten Protesten seine Kamera packt und wieder mitgeht, schaut, dreht, dokumentiert. Spannend bis zur letzten Filmminute. Und so ein sehr verdienter Prix de Soleure.

 

(c) immortals

 

Familie immer wieder

Bagger Drama von Piet Baumgartner
Eine Familie zerlegt sich. Im vierten Jahr nach dem Unfalltod der Tochter ist vom vormaligen Familienglück nichts mehr übrig. Während die Emotionen eigentlich offen daliegen, gehen sie nicht in die Tiefe, weder bei den Figuren, noch beim Zuschauer. Die Eröffnung des Sohns, er sei Homosexuell, quittiert die Mutter mit einem freundlichen „ich weiss“ gefolgt von Tränen, da sie jetzt wohl keine Enkel mehr bekommt. Aber auch diese Situation bleibt völlig blutleer. Maschinell, wie ihre programmierbaren Bagger, die wunderhübsch Ballett tanzen, oder der Saugroboter, der still im Hintergrund seine Kreise zieht, zerfällt die Familie.
Allein der Familienhund scheint wirklich lebendig, doch sein ständiges und lebhaftes Bellen verheisst für ihn nichts Gutes. Sehr schöne verspielte Bilder, die aber über die Länge nur noch sich selbst bezwecken.

 

(c) Bagger Drama

 

Road’s End In Taiwan von Maria Nicollier
Als der Genfer Damien einen Brief aus Taiwan bekommt, in dem er vom Tod seines Vaters informiert wird, stellt er fest, dass nichts von dem, was seine Mutter erzählt hat, stimmen kann. In Taiwan erfährt er zusätzlich, dass, um die Erbschaft anzutreten, alle Berechtigten – zwei weitere Halbbrüder und eine Ehefrau – unterschreiben müssen. Mit einem der beiden Brüder fährt er zusammen durchs Land, auf der Suche nach den anderen. Während für Damien vor allem wichtig ist, zu erfahren, wer sein Vater war, wollen die beiden Halbbrüder einfach nur das Erbe. Eine Fahrt in eine Vergangenheit und eine Familiengeschichte, die alles andere als schön und heil ist. Schön gemacht, gut gespielt und spannend.

 

(c) Road’s end in Taiwan

 

 

Selbst(er)findung

Hôtel Silence von Léa Pool ist eine Romanverfilmung.
Jean, ein lebensmüder Kanadier, packt seine Sachen, Werkzeug und Haken inklusive, und fährt in ein fiktives Land, das nach fünf Jahren Bürgerkrieg gerade zur Ruhe kommt. Sein Plan: sich dort anonym, und ohne ihm nahestehende Menschen zu belästigen, umzubringen.
Der Mann, der alles reparieren, oder flicken kann, nur anscheinend seine eigenen Wunden nicht. Seine Lebensmüdigkeit prallt dort am Lebenswillen und der Resilienz der Überlebenden ab. Der Film suggeriert immer wieder, dass Jean möglicherweise in die Geschehnisse des Krieges involviert sein könnte. Die daraus entstehende vermeintliche Spannung ist eigentlich völlig überflüssig, besonders, da ihre Auflösung eher unbefriedigend gerät. Dabei ist der Kontrast von Überdruss zu Lebensmut eigentlich Geschichte genug. Die Bilder, die Anfangs wie mit einer Art bräunlichen Firnis überzogen sind, werden im Verlauf der Geschichte unmerklich heller, fröhlicher.

 

(c) Hôtel silence

 

 

Nochmals eine Selbstsuche, diesmal dokumentarisch in Osteria all’undici von Filippo Demarchi. Ein filmisches Selbstportrait zur Selbstheilung.Der Regisseur arbeitet nach einen Zusammenbruch, oder Burnout, als Kellner in einem Restaurant, das psychisch labilen Personen eine Chance auf einne Neustart bietet.Er nutzt das Medium Film, um zurück zu einem Ich zu finden, das Film-Kunst und Wertschätzung zusammenbringt.Vielleicht kein umwerfender Film, aber doch mit Humor und handwerklichem Können gestaltet.

 

Schräge Welten

Milchzähne von Sophia Bösch
Eine merkwürdige Gemeinschaft im Nirgendwo, ein Wald, ein Fluss, archaische Regeln. Und ein diffuser nicht wirklich näher benannter Aberglaube an einen Feind. Laut Katalogtext eine „dystopische Zukunft“.
Warum allerdings Geschichten, die von einer dystopischen Zukunft handeln, immer dazu neigen, hierarchisch-autoritär organisierte Welten zu zeigen, in denen das Andersartige unfehlbar als Feind gebrandmarkt und ausgegrenzt werden muss, bleibt ein Rätsel. Wenig originell ist es auf jeden Fall. Selbst wenn es bei Milchzähne hübsch gemacht ist.
Ein kleines Mädchen taucht auf, parallel dazu verschwindet erst Vieh und dann noch zwei Kinder. Die Gemeinschaft ist sicher, das Mädchen ist einem Aberglauben folgend ein Wolfskind, eingeschleust, um Unglück zu bringen. Natürlich kümmern sich die zwei als Aussenseiterinnnen geltenden Frauen um das Kind, natürlich bringt das allen Ärger, den man sich in der Konstellation denken kann.
Es ist schon ok, wenn eine Geschichte nicht jeden Hintergrund, jede Motivation genau auserzählt, aber hier gibt es winzige Andeutungen, und der Rest bleibt verborgen. Man ist allein mit einer Welt, die, bis auf Autos und moderne Waffen, auch vor zweihundert Jahren angesiedelt sein könnte. Das macht den Film eher langweilig, als spannend, das Mitfühlen mit den Figuren und ihren Problemen fällt aus, weil man ihnen nie nah kommen kann.


Zurücklehnen

Ein wenig zurückgelehnte Entspannung macht es dagegen leicht dem Animationsfilm Reise der Schatten von Yves Netzhammer zu folgen.
Alles entsteht aus Allem, eine surreale Reise in eine animierte Welt, in der viel Böses passiert. Gesichtlose, geschlechtslose Humanoide in stetigem Wandel. Mal in eine heftige, befremdliche Sexualität verstrickt, dann in böse Gewalttätigkeit. Ein Menschenaffe – mit Gesicht – in einem Käfig, ein Anglerfisch im Aquarium und rote Kugeln, die Gegenwart und Zukunft zu spiegeln scheinen, ziehen sich durch den Film, leiten die Figuren.
Am Ende steht der Anfang.

 

(c) Reise der Schatten

 

Blut

 

 

(c) Bernadette will töten

 


Schräg, wenn auch ein wenig hölzern, ist die schweizerisch-österreichische Koproduktion
Bernadette will töten von Oliver Paulus und Robert Herzl.
Eine Internet-Splatter-Satire, vermutlich mit zu viel Blut und Gedärm für reine Satire-Fans, dafür mit etwas zu viel Gerede für reine Splatter-Freunde.
Nach einem vereitelten Selbstmord, beschliesst die titelgebenden Bernadette, dass sie nicht mehr sterben, sondern lieber Töten will. Eine seltsame Psychologin lockt sie auf eine einschlägige Plattform im Darknet. Die naive, internetunaffine junge Frau gerät in eine intrigenschwangere Mordverabredung. Blut, Spass und sehr wienerische Figuren.

 

Wasser

 

(c) Vracht

 

Einer der schönsten Filme ist: Vracht von Max Carlo Kohal.
Vier Jahre Lehre auf einem Frachtschiff. Vom unsicheren Anfänger, der sich quälend mit dem Tau abmüht, zum Kapitän, der souverän rückwärts ins Hafenbecken einparkt. Ein faszinierender Einblick in die Welt der Frachtschifffahrt auf dem Rhein. Bilder, die ruhig, sachlich und trotzdem schön vom Alltag an Bord erzählen.
Eine hermetische Welt, deren wirkliche Grösse zu keinem Zeitpunkt wirklich sichtbar wird, und die der Film zu keinem Zeitpunkt verlässt. So bleibt man immer ganz nah an den Protagonisten und deren Entwicklung. Ein wirklich faszinierender Film.

 

Was ist nun der Schweizer Film? Er ist sicher nicht auf ein, zwei Schlagworte zu reduzieren. Er ist vielfältig, oft ungewöhnlich, immer öfter koproduziert und wird, nicht zuletzt durch diese Koproduktionen, immer sichtbarer. Es gilt also, ihn auch in den Kinos ausserhalb der Schweiz, ausserhalb eines Festivals anzuschauen und zu entdecken.

#FilmTipp_ Flow

(c) ch.dériaz

 

 

Die Katze, das Wasser, die Dystopie

 

Auch wenn viele geneigt sind einen Animationsfilm als Kinderfilm abzutun, ganz oft liegt man mit dieser Einschätzung falsch. Die belgisch, lettisch, französische Koprodunktion Flow von Gints Zilbalodis bildet da keine Ausnahme.
Die Altersfreigabe ab 6 Jahren sollte man auf jeden Fall nicht unterschreiten.

Wasser

 

(c) ch.dériaz

 

Eine Welt, in der nur noch vereinzelte Spuren davon zeugen, dass auch mal Menschen dort gelebt haben, wird von einer riesigen Flutwelle überrollt. Tiere flüchten in Scharen vor dem heranrollenden Wasser, auch die kleine schwarze Katze, die eben noch von einer Meute Hunde gejagt wurde, rennt um ihr Leben.
Aber wohin, wenn überall nur noch Wasser ist, das auch noch weiter steigt und steigt.

 

Ruinen, Berge, Bäume

 

Was eben noch Sicherheit bedeutete, bietet gleich nur noch Platz für ganz eng zusammengestellte Katzenpfoten. Drumherum: Wasser.
Da taucht ein kleines Segelboot auf, an Bord ein dickes Wasserschwein, in letzter Sekunde rettet sich die Katze in Sicherheit.

Ängste überwinden, Allianzen finden

 

Wie in allen Abenteuern oder Heldenreisen gilt es, über sich und seine persönlichen Ängste hinauszuwachsen, aber auch zu finden, mit wem man sich zusammentun kann, um Energie, Wissen und Können zu bündeln, um gemeinsam stärker zu sein.
So kommen während der Fahrt gegen Wind, Wellen und Regen zuerst ein Katta, dann ein Hund und ein Sekretärvogel dazu. Eine ganz schön diverse Truppe, die sich anfangs auch eher skeptisch anschaut. Im Verlauf der Reise zeigt sich aber, dass genau diese Diversität den einheitlichen Tiergruppen überlegen ist. Der Zusammenhalt wächst, man hat sich nicht gesucht, aber gefunden.


Ohne Sprache, aber nicht sprachlos

 

Der Film kommt völlig ohne Sprache (im herkömmlichen Sinn) aus.
Die Tiere schnattern, bellen, grunzen und maunzen miteinander, und es ist immer sehr klar, was da „gesagt“ wird. Wie gut der Vogel oder das Wasserschwein beobachtet sind, kann ich nicht sagen, aber die Eigenheiten und Ausdrucksformen von Katze und Hund sind sehr genau getroffen. Die Tiere agieren zwar als Gruppe gegen eine Gefahr, werden dabei aber nicht mit menschlichen Attributen überzuckert. Sie müssen ihre Haut retten, nicht mehr und nicht weniger.
Der Film verzichtet auch auf jegliche Erklärung der Umstände. Man erfährt weder wo die Menschen hin sind, von denen Häuser, Bilder, Skulpturen übrig sind, noch woher das Wasser kommt. Und selbst das Ende ist eigentlich der Anfang von etwas, das nicht näher erklärt wird.

 

Divers und Solidarisch

 

Ohne den Zeigefinger zu heben, zeigt der Film die Kraft von Diversität und Solidarität. Und das verstehen alle, die diesen Film gesehen haben, problemlos.

Flow läuft in Wien im Filmcasino noch dreimal in diesem Jahr, und ist dann ab 7. Februar 2025 regulär im Kino zu sehen.

 

 

#Locarno77 Zum Schluss

(c) ch.dériaz

 

Trauern und Traditionen

Locarno bereitet sich vor, auf die Preise, auf den letzten Abend auf der Piazza Grande und auf das Gewitter, das für den Abend angekündigt ist.

Kasachische Filme sieht man wirklich selten in Europa, dafür fanden sich dieses Jahr gleich zwei in den Wettbewerbsprogrammen. Joqtau von Aruan Anartay ist ein Spielfilm in Dokumentarfilm-Ästhetik gehüllt. Tatsächlich ist man erst mit dem Abspann sicher, dass es ein Spielfilm war, davor lässt der Film Zweifel zu.
Dem Patriarchen einer kasachisch-nomadischen Familie geht es nicht gut, also reist sein Enkel mit Freundin aus Russland an. Nomadische und islamische Traditionen, die beiden fremd sind, machen die Reise zu einem Abenteuer. Die Geschichte wird in nicht chronologischen, nicht linearen Bögen erzählt. Eine letzte Fahrt des Grossvaters mit Enkel und Freundin ins Herkunftsdorf werden mit Photos der Fahrt und mit Vorbereitungen für das Begräbnis gemischt. Dazu, einem akustischen Tagebuch gleich, Off-Refelxionen der Freundin und des Enkels. Nicht uninteressant.

 

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Litauen räumt ab

Litauen hat zwei Filme im Programm und beide werden mit reichlich Preisen ausgezeichnet.
Der Pardo d’Oro, Hauptpreis des Festivals, ebenso wie der Pardo Swatch First Feature Award gehen an Saulė Bliuvaitė für Akiplėša (Toxic). Dazu kommen noch der Preis der Ökumänischen Jury und der zweite Preis der Jugend-Jury.

Seses von Laurynas Bareiša gewinnt den Pardo für die beste Regie und das gesamte Darstellerteam den Schauspiel-Pardo.

Der MUBI Award – Debut Feature, also ein weiterer Preis für Erstlingsfilme, geht an:
Green Line von Sylvie Ballyot, und auch hier ein Preis der Jugend-Jury.

 

 

Saulė Bliuvaitė (li)
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Österreich und Georgien mit zahlreichen Preisen


Mond von Kurdwin Ayub erhält den Spezialpreis der Jury, sowie auch den Preis von Euroimages und der Jugend-Jury.
Der Pardo d’Oro im Concorso Cineasti del Presente geht an Holy  Electricity von Tato Kotetishvili und auch dieser Film wurde von der Jugend-Jury bedacht.

Beste aufstrebende Regisseurin in dieser Sektion: Denise Fernandes für HanamiI.

Der Pardo Verde geht an: Agora von Ala Eddine Slim.

 

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Vielleicht keine Premiere, aber selten genug, dass ich alle Preisträgerfilme gesehen habe. Auch nicht einmalig, aber auch selten, finde ich alle Preise nachvollziehbar, gerechtfertigt und lassen den Glauben an die Qualitäten von Festival-Jurys wachsen.
Besonders schön und spannend sind immer die Preise der Jugend-Jurys, die jedes Jahr wieder mit enormem filmischen Wissen und Gefühl für gute Geschichten auffallen.
Gewonnen haben, fast durch die Bank, Filme mit (sozial)politischen Themen und alle haben eine spezielle, originelle filmische Handschrift und Herangehensweise an ihre Themen gezeigt.
Alle Preise auf der Festivalseite.

 

 

 

(c) ch.dériaz
Es bleibt schön

 

Das, was am Morgen noch drohende Gewitterwolken waren, hat sich in der Hitze des Nachmittags in niedliche Abendwölkchens verwandelt. Es wird wohl auch an diesem Abend auf der Piazza trocken bleiben.

Der Abschlussabend verläuft etwas anders als sonst, Jury-Präsidentin Jessica Hausner hat kurz die Bühne, übergibt vor dem grossen Publikum nochmal den Goldenen Leoparden an Saulė Bliuvaitė.
Der Publikumspreis der Piazza Grande wird noch bekannt gegeben, er geht an Reinas von Klaudia Reynicke.

 

Giona A. Nazzaro
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Giona A. Nazzaro spricht noch einmal mit viel Emotion von der grossen Liebe zum Kino, zum Kino als Mittel des Miteinanders. Es hat etwas Schwermütiges, wie er das sagt. Von der neuen Festival-Präsidentin Maja Hoffmann ist nichts mehr zu sehen oder zu hören.
Der letzte Abendfilm der 77. Ausgabe des Festivals kann beginnen.

 

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Hund

Eine Dramödie möchte man Le Procès du chien von Laetitia Dosch nennen. Der Film, nach einer wahren Begebenheit, erzählt vom Prozess gegen einen Hund, der mehrmals zugebissen hat. Jetzt drohen dem Halter eine hohe Geldstrafe und dem Hund der Tod. Eine etwas chaotische Anwältin verteidigt den Hund, indem sie über ihn zunächst nicht als Sache, sondern als Entität verhandeln lässt. Ihr gegenüber, die Verteidigerin der Gebissenen, eine karrieregeile, geifernde Anwältin, auf dem Sprung in die Lokalpolitik. Der Film hat sehr witzige Momente, nervende Passagen, weil sowohl das Chaotische als auch das Geifernde auf die Dauer zu viel werden. Und der Film ist auch berührend, einfach, weil der Hund so toll ist, und man ahnt, dass das alles nicht wirklich gut ausgehen kann.

Das Festival ist zu Ende, bleibt die Hoffnung, dass möglichst viele der Filme ihren Weg in Kinos finden, nicht nur in ihren Herkunftsländern. Weil, ja, Filme verbinden, Filme öffnen die Sicht auf Anderes, und Filme bereichern.
Locarno 78 startet am 6. August 2025

 

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#Locarno77 Erleben

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Auswandern

 

Der letzte komplette Festivaltag.
Das Thermometer zeigt schon vor 10 Uhr 30° an, Regen ist erst für Samstag angekündigt.
Auf dem Programm heute, zwei Kurzfilmvorführungen, aber zuerst einer der vielen Schweizer Filme im diesjährigen Wettbewerb: Hanami von Denise Fernandes.
Hanami, das japanische Kirschblütenfest als Titel für einen Schweizer Film, dessen Geschichte auf den Kapverden spielt. Klingt ungewöhnlich, passt aber insofern, als Vergänglichkeit und Schönheit, die beim Kirschblütenfest gefeiert werden, auch in diesem Film essenziell sind.
Die Kapverden als Ort der Auswanderung, wo eine mittlere Generation fast komplett fehlt, weil sie in alle Richtungen ausgewandert ist. Es bleiben die Grosseltern und die kleinen Kinder, es bleiben die Märchen, die Sagen und die Überlieferungen, und eine windzerzauste, traumhafte Landschaft. Nana wird, gerade erst geboren, von ihrer Mutter in die Obhut der Grossmütter gegeben, sie wächst auf mit einem Gefühl von Fehlen, aber auch fest verwurzelt auf der Insel. 13 Jahre später kommen zu einem Familienfest erstmals alle Ausgewanderten, auch Nanas Mutter, zurück.
Die Kluft zwischen Ausgewanderten und Dagebliebenen ist riesig. Die Cousins und Cousinen sprechen plötzlich eher Französisch oder Englisch statt Kreolisch,
und doch birgt dieser vergängliche Moment viel Schönheit und Liebe. Eine stimmungsvoll erzählte Geschichte in traumhafter Landschaft.

 

 

Vielseitig

Einer der wenigen, wenn nicht der einzige Film, der in 35 mm läuft, der Experimentalfilm Revolving Rounds von Johann Lurf und Christina Jauernik. Langsame Annäherungen an leere Gewächshäuser, in denen auf einer Art Bildschrirmen Pflanzen zu sehen sind. Die Kamera taucht ein in die Blätter, ein animierter Taumel, hypnotisch. Bis die Kamera mit dem Zuschauer wieder verschwindet.

Better Not Kill the Groove von Jonathan Leggett ist eine wilde Collage von Internet-Clips, teils verfremdet, teils einander überlagernd. Und immer die Frage, die Suche nach einem männlichen (Selbst)Bild, das das Internet aber nicht bieten kann.

Linnud läinud (On Weary Wings Go By) von Anu-Laura Tuttelberg ist ein träumerischer Stop-Motion-Film mit Porzelanpuppen in einer herbstlich-winterlichen Real-Bild-Landschaft. Ein Abschied mit Puppe und Tieren.

Mit 54 Minuten der längste Kurzfilm: What Mary Didn’t Know von Konstantina Kotzamani. Eine Familienreise auf einem Luxuskreuzfahrtschiff, wo alle über 80 zu sein scheinen. Mary, die Teenager-Tochter der schwedischen Familie, langweilt sich, bis sie in der Schiffsküche den jungen Koch Abdel sieht. Im romantischen Ambiente der Kreuzfahrt entspinnt sich eine leise Liebesgeschichte. Kitschig überkolorierte Bilder spiegeln den kitschigen Zustand einer ersten Verliebtheit wider, malerisch versinkender Vollmond inklusive. Sehr schön und toll gespielt.

 

 

Vielfältig

Die beste Methode abzukühlen ist, den weitesten Weg zwischen zwei Kinos in Locarno während der Tageshöchsttemperaturen zu Fuss zu gehen, und sich dann, verschwitzt, im kühlen Kino abkühlen lassen. Low-Tech-Sauna.
Ein letztes Mal Kurzfilme aus dem Programm der Pardi di Domani.

Der Film von Denis Côté ist angeblich für den Pardo Verde, also für Filme, deren Inhalt oder Anliegen der Umwelt nützen oder diese zum Thema haben, nominiert. Wie das Jours avant la mort de Nicky aber erfüllt, ist nicht zu sehen.
Eine Kamera hinten im Auto nimmt Nicky auf, wie sie fährt, mal vorwärts auf langen Strassen, mal rückwärts, irgendwo weg, manchmal steht sie vor dem Auto, pinkelt, trifft Leute, nimmt ein Gewehr mit. Die Kameraposition ändert sich nie, was sich allerdings ändert, ist die Qualität der Bilder. Manchmal ganz schlecht, verpixelt, unscharf, manchmal scharf und manchmal schwarzweiss, mit Schrammen. Aber warum? Die Szenen haben eine tiefe Traurigkeit, aber mehr nicht.

Progress Mining von Gabriel Böhmer ist ein dystopischer Stop-Motion-Film. Eine Mine mit Figuren aus Filz, Pappe und Holz, in der nach Fortschritt gegraben wird. Aber vieles scheint kaputt zu sein, die Mine sollte geschlossen werden, aber dann gibt es weder Fortschritt noch Geld für die Arbeiter. Ein Dilemma. Toll gemacht.

Für Sky Rogers: manager de stars scheint Ciel Sourdeau alle filmischen Mittel, die leicht und kostengünstig aufzutreiben waren, ausprobiert zu haben. Heraus kommt eine etwas wirre, aber sehr bunte und auch irgendwie lustige Geschichte von einem – ausserirdischen – Musik-Manager, der nichts auf die Beine bringt. Grell.

Nochmal ein längerer Kurzfilm: Que te vaya bonito, Rico von Joel Alfonso Vargas. Rico ist auf dem besten Weg, in die Kleinkriminalität abzurutschen. Er verkauft am Strand in New York selbst gemixten Schnaps, illegal. Zu Hause schreit er mit seiner jüngeren Schwester, belügt seine Mutter und schleppt dann seine schwangere Freundin an. Aber ein glückliches Leben kann das so nicht werden. Als er von der Polizei einmal zu viel geschnappt wird, fallen Entscheidungen, die vielleicht Veränderung bringen werden. Rau, hektisch und gut gemacht.

 

Applaus

Den ganz grossen Enthusiasmus hat es auf der Piazza noch nicht gegeben.
Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof bekam stehende Applaus, aber vor seinem Film, für seine politische Haltung. Der Film wurde gut aufgenommen, vor allem wohl, weil die gute Sache einen, wenn auch nur kleinen, Sieg davon trägt. Sauvage bekam fröhlich johlenden Applaus, hauptsächlich aus der Ecke der Jugendlichen, die an den Kunstvermittlungs-Workshops teilnehmen, und an dem Abend eingeladen waren. Und Sew Torn bekam so weit sicher den grössten Applaus, aber von viel weniger Zuschauer, der Film lief nach Mitternacht.
Ob das dann reicht, um den Publikumspreis zu bekommen?

Vielleicht ist das Publikum in diesem Jahr auch eher zurückhaltend in seinen Gefühlsäusserungen. Das würde zur Auswahl der Filme auf der Piazza Grande passen, die zwar gut waren, aber ohne ganz grosse Highlights.

Mit sehr viel Beifall wurde am heutigen Abend Jane Campion empfangen, der Ehrenleopard für die grosse neuseeländische Regisseurin ist mehr als verdient.

 

Jane Campion
(c)ch.dériaz

 

Kindersicht

Rita von Paz Vega ist ein weiterer Film, der häusliche Gewalt thematisiert.
Spanien 1984, seit gerade mal 3 Jahren ist das Recht auf Ehescheidung in Kraft, aber sozial anerkannt sind Geschiedene noch lange nicht. Vor diesem Hintergrund und aus der Sicht der sieben-jährigen Rita erzählt der Film eine Katastrophe mit Ansage. Die Kamera nimmt, so oft es geht, die niedrige Kinderperspektive ein, und auch die wüsten Beschimpfungen und Attacken des Vaters werden fast ausschliesslich über die Tonebene vermittelt. Die Angst der beiden Kinder wird dadurch schauderhaft spürbar. Aber Rita ist eine Beschützerin, sie tröstet den jüngeren Bruder, kümmert sich ohne zu murren um Hausarbeiten, damit die Mutter einen Moment zum Erholen hat. Sie hört, sie sieht, sie versucht, was sie kann, um Leid zu lindern, aber sie ist eben erst sieben.
Ihre Frage, warum eigentlich immer der Vater bestimmt, was zu tun ist, lässt die Mutter unbeantwortet. Ganz hervorragend ist die kleine Sofía Allepuz in der Rolle der Rita. Ein sehr beeindruckender Erstlingsfilm.

 

Nichts für hohe Absätze
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#Locarno77 Liebe

 

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Zeitlos

Das Locarno Filmfestival als Zeitblase.
Wochentage, Datum, alles verschwimmt, es bleibt nur der Blick auf die nächsten Vorführungen. Da kann man dann schon ziemlich blöd an einem Feiertag vor dem geschlossenen Supermarkt stehen, und nicht verstehen, was da los ist.

 

Liebe verträumt

Olivia & Las Nubes von Tomás Pichardo-Espaillat ist ein faszinierender Animationsfilm. Der Film zeigt eine ganze Palette von verschiedenen Animationstechniken, vermischt Super 8 Filmmaterial mit Stop-Motion und Zeichnungen der verschiedensten Stile. Heraus kommt eine surreale, verträumte Geschichte über die Unmöglichkeiten der Liebe. Der schnelle Erzählrhythmus zwingt einen, den Geist fliessen zu lassen, und sich in Folge ganz auf den Film und seine irren Bilder einzulassen.

 

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Freundschaft

Akiplėša (Toxic) von Saulė Bliuvaitė ist eine ziemlich grimmige Geschichte von jungen Mädchen, die mit allen Mitteln aus ihrem abgerockten Zuhause irgendwo in der litauischen Provinz rauskommen wollen.
Marija, die Neue, wird zunächst von den lokalen Mädchen wegen ihres leichten Hinkens abgelehnt und beklaut. Aber an Orten, wo es nicht viel Abwechslung gibt, sind alle Allianzen und Freundschaften willkommen, und so wird sie schnell Kristinas beste Freundin. Beide versuchen einen vermeintlichen Model-Kurs gut abzuschliessen, und sich für die angepriesenen Reisen ins Ausland zu qualifizieren. Ein Teufelskreis aus Essensverweigerung, Fressattacken, Drogen und im Darknet erworbenen Bandwürmern, die Versprechen, das Gewicht von innen „wegzufressen“, entsteht. Ein Film über toxische Weltbilder, giftige Substanzen und über unwahrscheinliche, enge Freundschaften, die überleben helfen.

 

Fremd

Es gilt, ein verpasstes Kurzfilmprogramm nachzuholen, aber wirklich toll ist es leider nicht. Dafür ist das kleine Kino sehr voll.

My Life is Wind (a letter) von Anahita Ghazvinizadeh ist der beste Film des Programms.
Eine junge Frau aus einem nicht näher benannten arabischen Land kommt in den USA im Mittlerenwesten an. Niemand von der Flüchtlingsorganisation spricht Arabisch, also verbringt sie ihre ersten Tage schweigend. Während sie in ihrem Kopf einen Brief an die Zuhause gebliebene Grossmutter verfasst. So erfährt man stückweise ihre tragische Geschichte, lernt ihre Träume, ihre Ängste kennen. Parallel dazu, um sie herum ein lautes, fremdes Leben. Sehr schön gemacht.

Dull Spots of Greenish Colours von Sasha Svirsky ist ein experimenteller Animationsfilm. Vage meint man zu verstehen, dass es um Kritik an Politik, um Krieg, um Machtmissbrauch geht. Aber wirklich sicher ist das nicht.

The Nature of Dogs von Pom Bunsermvicha ist einfach nur uninteressant.
Eine Familie mit kleinem Hund kommt in einem schönen Ferienressort an. Als der Hund verschwindet, entsteht ein ziemlich sinnloser Streit um ganz allgemeine Verhaltensweisen der einzelnen Familienmitglieder. Ein Ausflug zu einer buddhistischen Grotte sorgt für Ruhe, irgendwie. Und der kleine Hund ist auch wieder da.

The Form von Melika Pazouki ist hübsch, lustig und kurzweilig.
Eine iranische Schülerin macht sich im Klo der Schule zurecht für eine Verabredung mit einem Mann, den sie nicht kennt. Ihre Freundin gibt Ratschläge und wird später alle Details wissen wollen. Aber der Mann versetzt sie.

 

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Liebe komisch

 

Ein fast kurzer Abend auf der Piazza, niemand wird geehrt, das macht den Ablauf vor dem Film deutlich flotter.
Schon bei der Präsentation ihres Films sind Regisseurin Alice Lowe und einige der Schauspieler ziemlich witzig. Was aber dann in Timestalker alles abläuft, ist komödiantischer Science-Fiction Spass mit vielen schrägen Kostümen und reichlich verspritztem Blut.
Die Geschichte startet im späten 17. Jahrhundert, Agnes (von der Regisseurin selbst genial gespielt) sieht Alex zum ersten Mal, mit reichlich Weichzeichner wird ihr plötzlicher Anfall von Liebe fröhlich übertrieben sichtbar. Aber der Zustand hält nicht lang, und schon ist Agnes einen bösen, blutigen Tod gestorben.
Nächster Halt: 100 Jahre später. Und dann noch mal 100 Jahre später.
Immer wieder treffen die beiden aufeinander, immer wieder ist Agnes wie hypnotisiert und Alex ein Idiot. Neben Agnes und Alex „reisen“ noch drei weitere Figuren durch die Jahrhunderte, in immer gleichen Verstrickungen. Der Film ist wirklich extrem lustig und dabei sehr klug und gut gemacht.
Beste Unterhaltung.

 

#Locarno77 Tiere

 

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Zwischenbilanz

 

Die erste Woche in Locarno ist vorbei, das Festival geht langsam in die Endrunde.
Richtig überwältigende Filme haben sich noch nicht präsentiert.
Bisher am besten:
Les Enfants rouges, Crickets, It’s Your Turn, Kada je zazvonio telefon, alle aus der Sektion Cineasti del presente, also erste und zweite Langfilme. Aus dem Concorso Internazionale hebt sich Green Line hervor.

 

Wiedergänger

Nach der Pressevorführung von Agora von Ala Eddine Slim verwunderte Blicke, Kopfschütteln, Fragen. „Hast du das verstanden?“
Wiedergänger, die plötzlich in einem Ort in Tunesien erscheinen, ein Polizeichef, der versucht Ruhe in den Ort zu bringen, und dann taucht ein mysteriöser Typ von einer Art Geheimpolizei auf. Der Film fängt an wie ein Science-Fiktion-Horror-Film, driftet aber zusehends ins Unverständliche ab.
Geht in jede nur denkbare Richtung, scheint sich mal an politischen, mal an mystischen Themen abzuarbeiten, auch Umweltzerstörung und Machtmissbrauch sind als Ideen enthalten. Unterbrochen wird die Handlung mehrfach von einem tonlosen Dialog zwischen Hund und Rabe, die von ihren Ängsten sprechen, die wissen, dass schreckliches passieren wird, wenn die Toten wiederkehren.
Und immer wieder Hunde, streunende, tote, schlafende. Surreal, aber auch unverständlich. Möglicherweise ist da genau das Problem, der Film scheint zu narrativ, um sich einfach nur dem Surrealen hinzugeben, macht zu viele Fenster auf, durch die man meint, schauen zu müssen, nur um dann nichts sehen zu können.
Gut gemacht an sich, schöne Bilder, interessante Effekte, aber man möchte so gerne etwas verstehen. Irgendetwas.

 

 

Mittags
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Jeden Tag und tatsächlich auch jedes Jahr, die mittägliche Suche nach einem schattigen Platz, an dem man sitzen kann und Eingekauftes essen kann. Eine Aufgabe, die ans Unmögliche grenzt.
Die paar schattigen Orte bieten keine Sitzmöglichkeiten, ausser auf dem blanken Boden. Heute im „Angebot“ trockene Wiese unter einem Baum, mit einer dicken Hornisse als Nachbar. Kommerzfreier öffentlicher Raum tut Not.

 

Digital

Weltweit Freunde, Liebhaber in Phantasiewelten, Avatare, VR-Welten, Tick Tock, Influencer, schöne neue Digitalwelt.
Was in Real von Adele Tulli ganz poppig und nicht uninteressant anfängt, hat ein deutliches Struktur- oder Organisationsproblem. Nach welchem System die einzelnen Sequenzen zusammengestellt sind, erschliesst sich nicht, und macht das Zuschauen mit der Zeit immer ermüdender.
Menschen in Südkorea, Italien, Schweden, den USA präsentieren sich, oder ihre VR-Avatare, freimütig der Regisseurin, diese mischt deren selbst gefilmten Schnipsel, oder Welten, mit „objektiven“ Blicken auf die jeweilige Situation, aber der dramaturgische Bogen fehlt komplett. Mittendrin eine kurze Sequenz mit Spiel- und Internetsüchtigen, die in einem Kloster Entzug und Therapie machen, aber auch das bleibt losgelöst von allem anderen und frei von innerer Konsequenz. Irgendwann sieht man nichts mehr, will auch nichts mehr sehen. Von Anfang an nervt eine Art Meditationsmusik, die unter fast egal was für Bilder geklebt wurde, das ist noch schlimmer als der Mangel an Ziel in der Geschichte.

 

 

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Krieg

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, manchmal ist aber trotzdem gut, nicht genau gelesen zu haben.
Green Line von Sylvie Ballyot ist 150 Minuten lang, hätte ich das vorher gelesen, wäre ich vermutlich nicht reingegangen. Was ein grosser Fehler gewesen wäre.
Fida war gerade geboren, als 1975 im Libanon der Bürgerkrieg ausbrach, der 15 Jahre ihres Lebens stahl und 200.000 Opfer brachte. Regisseurin Ballyot geht mit Fida zurück nach Beirut, in ihr Viertel in West-Beirut. Anhand der ganz persönlichen Geschichte des kleinen Mädchens von damals, und mit sehr einfachen Puppen und Papierhäusern auf einem Stadtplan in Szenen gesetzt, erfährt man auch Fakten. Unterbrochen und genial gegeneinander geschnitten: die Puppe Fida und die heute erwachsene Fida in Beirut, vor ihrer Schule, in ihren Gassen.
Aber der Film erzählt mehr, als nur die Fakten eines Krieges und eines Traumas. Fida spricht mit Kämpfern aller beteiligten Seiten, immer im gleichen Setting: ein zerstörtes Haus, die Wände offen nach draussen, der Plan mit den Papierhäusern dem Wind ausgesetzt. Sie lässt die Kämpfer erzählen, aber nicht irgendetwas, sondern deren Sicht auf Ereignisse, die sie als Kind erlebt hat. Fragt aus der Perspektive des Kindes von damals, holt die (meist) Männer immer wieder zu diesen kindlichen Fragen zurück. Sie will nicht, dass man ihr, einer erwachsenen, intelligenten Frau den Nahostkonflikt erklärt. Sondern, dass man dem kleinen Mädchen erklärt, wie es zum Beispiel sein kann, dass ein Soldat, der sie „beschützen“ soll, für sie ein angsteinflössendes Monster ist.
Sie stellt ihre Fragen freundlich, aber hartnäckig, lässt die Befragten nicht in Phrasen abgleiten. Und bekommt immer Antworten. Und die Erkenntnis, dass, selbst wenn man einsieht, dass dieser Krieg ein Riesenfehler war, er trotzdem von jeder Seite anders gesehen und erinnert wird.
Zwei Kämpfer, ein Christ, der mit für die Massaker in Sabra und Schatila verantwortlich war, und ein Palästinenser, sind die einzigen, die eindeutig Stellung gegen den Krieg beziehen: Der christliche Kämpfer hat sich in einem Brief an das libanesische Volk öffentlich für seine Beteiligung entschuldigt, der Palästinenser ist Mitglied einer Gruppe „Kämpfer für den Frieden“. Fast alle anderen schaffen es immer noch, ihrer Perspektive einen Sinn zu geben, ein: „es hiess die oder wir“.
Ein Film, der ein so komplexes Thema gleichzeitig originell und sensibel behandelt, der trotz der Länge unglaublich intensiv und spannend ist, wäre ein guter Kandidat für einen der Leoparden. Zu gönnen wäre es ihm auf jeden Fall.

 

 

Geräusche

 

Laserschwert
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Ben Burtt, Erfinder unter anderem der Geräusche von R2D2 oder der Laserschwerter in Star Wars, ist der Ehrenleopard-Empfänger des Abends. Es ist immer wieder schön, wenn Meister ihres Fachs, die nicht so oft im Rampenlicht stehen, vor grossem Publikum gewürdigt werden.


Pferde

Gaucho Gaucho von Michael Dweck und Gregory Kershaw setzt den Nordosten Argentiniens in schönen Schwarzweiss-Bildern in Szene. Ein Dokumentarfilm über eine Gruppe Gauchos, der immer dann stark ist, wenn die Gauchos und eine Gaucha reiten, mit den Tieren arbeiten oder den Kindern Fertigkeiten beibringen. Etwas schwerfällig sind die Szenen, in denen – meistens – zwei Leute miteinander reden, immer in gleicher Art, seitlich an einem Tisch sitzend, oder einander gegenüberstehend, gefilmt wurden. Das sieht und klingt inszeniert und schwächt die Kraft des ansonsten schönen Films.

 

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#Locarno Keine Macht den Monstern

 

 

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Umwelt

 

Einige Filme, die sich mit Umweltthemen befassen und ein weiterer Hitze-Tag in Locarno. Am Nachmittag zeigt ein Thermometer kuschelige 38°, in den Kinosälen bleibt es dank Klimaanlage kühl, bis kalt.

 

Bildverliebt

 

Fogo do vento von Marta Mateus ist eine Ansammlung allegorischer Bilder, christlicher Motive und Metaphern. Weinreben, Landarbeiter, hartes Licht, scharfe Schatten, Wein, der in den Boden versickert, grosse Korkeichen und ein schwarzer Stier, der marodierend Angst verbreitet. Die Menschen deklamieren, wie der Chor im griechischen Drama, Phrasen, die von Ausbeutung und Unterdrückung reden, vage auch von der Geschichte Portugals. Und auch wenn jedes einzelne Bild wirklich extrem schön ist, 72 Minuten können verdammt lang sein, wenn man so einem Quatsch zu sieht.

 

 

Wasser

Fario von Lucie Prost ist ein bisschen ein Ökokrimi und ein bisschen eine Geschichte vom Heimkommen.
Eigentlich fährt Léo aus Berlin nur zurück nach Frankreich, um den Verkauf von Land an die Gemeinde zu besiegeln. Die Minengesellschaft, die Probebohrungen für seltene Erden macht, scheint alle relevanten Papiere zu haben und Umweltauflagen zu befolgen, aber sie braucht das Land der Bauern.
Im Ort sind die Leute gespalten in Verkäufer und Nicht-Verkäufer. Aber geht wirklich alles mit rechten Dingen zu? Léo, wie fast alle seine Freunde beruflich mit Wasseranalysen vertraut, findet, dass die Forellen im Fluss sich seltsam verhalten, und leuchten sollten sie eigentlich auch nicht. Oder sind es die Drogen in seinem Kopf, die ihm einen Streich spielen?  Der Film findet eine Balance zwischen Ökokrimi, Bauernsterben und den Problemen junger Erwachsenen, atmosphärisch schöne Landschaften, Halluzination in Bilder übersetzt und dynamische Partysequenzen, alles greift fliessend ineinander.

 

 

 

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Experimente

Heute wieder ein extrem starkes Kurzfilmprogramm. Alle Filme auf die eine oder andere Weise experimentell, experimentierend.

Der Film Razeh-del der Iranerin Maryam Tafakory ist ein unglaublich tolles Werk.
Er zeigt das Unzeigbare, Unmachbare: iranische Frauen in der Kunst, im Film, als Darstellerinnen, als Regisseurinnen. Mit Mitteln der Überlagerung, Bildverfremdung, dem Neuschnitt von Filmausschnitten, zeigt er, was nicht möglich ist. Kunstschulen, die Frauen nicht aufnehmen, Filme, die so lange zensiert werden, bis nichts mehr von ihnen übrigbleibt, und Frauen, die wenn, dann nur als angemalte Puppen auftreten, oder als Opfer, die am Schluss im Film meistens nicht überleben. Sehr eindrucksvoll.

looking she said I forget von Naomi Pacifique thematisiert die Suche nach einer neuen Form von Leben, von Liebe, von Miteinander jenseits der Konventionen. Viel Blau, viele Momente der Verirrung und Verwirrung, sehr schön.

Revier von Felix Scherrer. Eine fast poetische Annäherung an die Macht der Polizei auch in der Schweiz. Beeindruckend einfach in den Mitteln, dicht in der Ausführung.

Gwe-in esi jeongche (The masked Monster) von Syeyoung Park ist ein Horror-Märchen in Schwarzweiss-Bildern. Ohne Dialog, nur mit Zwischentiteln und rhythmischer Perkussion ist das Märchen packend und böse, grausam und klug und sehr schön gedreht.

 

 

Miese Typen

Wenn man einen Preis vergeben könnte für die Darstellung der ekelhaftesten Typen, dann gewinnt Crickets, It’s Your Turn von Olga Korotko haushoch.
Der kasachische Film zeigt eine Gruppe von Freunden, sexistisch, misogyn, widerlich, die sich gegenseitig in ihrem Tun befeuern und beklatschen. Dummerweise gerät eine junge Frau in diese Gruppe. Obwohl ihr bei jeder Begegnung klar sein müsste, dass sie dort in Gefahr ist, glaubt sie den Beteuerungen des einen Kerls, der sie in die Gruppe hereingebracht hat, dass alles nur Spass ist, die Typen in Wahrheit ganz liebe Männer sind. Wie die Regisseurin die Steigerung der Gewalt zeigt, ist beeindruckend und beunruhigend. Die Spirale schraubt sich immer weiter hoch, die Ausweglosigkeit wird immer deutlicher, und trotzdem hofft und bangt man mit der jungen Frau. Genau wie sie weigert sich der Zuschauer zu glauben, was offensichtlich ist. Bis zum bösen Ende. Ein Film, in dem sich der Horror und die Ausweglosigkeit langsam einschleichen, um dafür nicht mehr wegzugehen.

 

 

 

Claude Barras mit Keria und Orang-Utan
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Coole Kinder

 Kinder an die Macht wäre vielleicht Claude Barras‘ neuem Animationsfilm Sauvages voranzustellen.
Der Kampf zweier Kinder und eines Orang-Utan-Babys um den Urwald in Borneo. Sie sind kulleräugig und niedlich, aber nicht zu unterschätzen: Keria und ihr Cousin Selaï legen sich mit einem Palmöl-Unternehmen an, das den Wald und Lebensraum der Nomaden abzuholzen droht. Dass die kleine Keria dabei auch gleich mehr von ihren nomadischen Wurzeln erfährt und ihr Selaï dabei gewissenhaft zur Seite steht, rundet die Abenteuergeschichte kulturell ab. Mut, Zivilcourage und Respekt vor Natur und Kreatur ergeben eine echte „Heldenreise“ in Stop-Motion, kindgerecht, aber auch für Erwachsene wunderschön anzusehen.

 

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Das waren viele Monster für einen Festivaltag, einige konnten aufgehalten werden, immerhin.