Festivalsonntag
Sonntag in Solothurn.
Das heisst vor allem: die Kinos sind voll, keine Chance mehr für einen Film noch kurzfristig einen Platz zu bekommen. Auch wenn in diesem Jahr die Festival-App brav und problemlos funktioniert, ausverkauft ist ausverkauft. Ins Kinogehen ist beliebt, mindestens bei Festivals.
Wirklich wahr
Eine interessante Gesprächsrunde, zum Thema Wirklichkeit oder Inszenierung im Dokumentarfilm bei: Fare Cinema: Extrem ehrlich oder ehrlich inszeniert?
Als Beispiele dienten: Die Anhörung und Chagrin Valley, zwei Filme mit sehr gegensätzlichen Ansätzen ihre Themen zu behandeln. Die Anhörung stellt eine reale Situation komplett nach, legt das aber von Anfang an offen. Und Chagrin Valley zeigt die komplett künstlich gestaltete Welt eines Altersheims für Demenzkranke, greift aber überhaupt nicht in das Geschehen ein, sondern dreht fleissig alles, was sich ergibt. Beiden Beispielen wohnt dadurch eine gewisse Künstlichkeit inne, die aber trotzdem – oder deshalb – ein gutes Abbild der wahren Situation ergibt. Natürlich bleibt bei jedem Dokumentarfilm die Frage: Was passiert, weil oder obwohl eine Kamera, ein Team vor Ort ist? Eine Frage, die man nie wirklich wird beantworten können. Und dann kommt noch der Schnitt dazu, der gnadenlos und, für Zuschauer eher unsichtbar, die Gewichtung, die Perspektiven schärft.
Es bleibt also die Verantwortung der Filmemacher, ihr „Objekt“ so wenig wie nötig zu verändern, und trotzdem visuell, erzählerisch hinreichend interessant zu bleiben. In einer Medienlandschaft, in der immer weniger Zuschauer dem glauben, was sie sehen, wird es allerdings immer wichtiger, Interventionen als solche zu kennzeichnen.
Wütend
Erwachsenwerden ist wohl immer und überall mit einer grossen Portion innerlicher Wut verbunden. In Rivière von Hugues Hariche kommen zur Wut noch emotionale Verletzungen, Druck und Drogen. Trotzdem überzeugt die Geschichte von Manon, der wilden Eishockeyspielerin, und Karine, der tablettenschluckenden Eiskunstläuferin, nicht wirklich. Zum einen ist der Film mit fast zwei Stunden definitiv zu lang, und die Konflikte innerhalb der Gruppe von Jugendlichen sind einfach zu stereotypisch gezeichnet. Der Film kommt nicht vom Fleck, und alle Wendungen sind so sehr erwartbar, dass man sich fragt, warum sie nicht schon früher gekommen sind. Ganz schön gedreht und geschnitten sind die Eishockey-Szenen, aber selbst da verschenkt der Film mögliches Potenzial.
Gewalt
Ein erster Preis ist gestern Abend vergeben worden. In der Kategorie Visioni, also erste und zweite Langfilme, gewann Autour du feu von Laura Cazador und Amanda Cortés.
Der Dokumentarfilm vereint um ein Feuer irgendwo im Wald zwei ehemalige Kämpfer des sogenannten Antikapitalistischen Widerstands der 70er Jahre und drei junge Frauen, Aktivistinnen diverser aktuell aktiver Gruppen. Während die beiden älteren Herren damals mit Waffengewalt kämpften, Banken ausraubten und Menschen entführten – und dafür ins Gefängnis kamen, sind die drei Frauen in ihrem Widerstand vergleichsweise friedfertig. Die Idee klingt besser, als die Ausführung sich dann im Ende darstellt. Oft entsteht der Eindruck, dass doch sehr aneinander vorbei einfach Geschichten erzählt werden. Nach etwa einer Stunde kommt es dann doch zu einer heftigen Auseinandersetzung über die legitime oder nicht legitime Tötung von Tyrannen. Ein Thema, über das allein man ganze Bücher verfassen könnte. Die Begründung der Jury für den Preis an diesen Film: «Es ist ein mutiger und riskanter Film, der – mit einer einfachen, aber originellen Anordnung – auf unerwartete, fesselnde Weise ein komplexes und gleichzeitig hochaktuelles Thema behandelt» ist nur bedingt nachvollziehbar. Was interessant ist, ist die veränderte Perspektive, wen man als Terroristen bezeichnet, was Gewalt ist und was legitime Selbstverteidigung.
Durchhalten
Zehn Jahre von Matthias von Gunten ist genau, was der Titel suggeriert: ein Langzeitprojekt. Über 10 Jahren begleite der Film 4 jungen Menschen auf ihrem Weg ins Arbeitsleben. Ein Bäckerlehrling, eine Medizinstudentin, eine künftige Grundschullehrerin und ein Oboist, der dirigieren studiert. Ihre Träume, ihre Wege sind teilweise von Anfang an sehr klar gezeichnet und verändern sich über die Zeit nur minimal. Besonders die beiden Frauen bleiben ihren Plänen treu. Die stärkste Veränderung durchläuft der Bäckerlehrling, bei dem sowohl physisch als auch im Lebensplan sehr viel passiert. Visuell und gestalterisch ist der Film nicht sehr originell, was eventuell daran liegt, dass der Regisseur auch selber die Kamera gemacht hat, ein klassischer Fall von Ein-Personen-Team.
Aber der Film kam, aufgrund der sehr sympathischen und offenen Protagonisten, extrem gut an.
Sprachlich rund
Von Kreisverkehr zu Kreisverkehr durch die Dialektlandschaft der Deutsch-Schweiz: Omegäng von Aldo Gugolz. Wie viel Dialekt wird noch gesprochen, und wo? Wie unterscheiden sich die Dialekte, sowohl in der Zeit als auch von Ort zu Ort? Und was heisst Omegäng? Fragen über Fragen werden hier auf witzige, informative und sehr musikalische Art gestellt und – zum Teil – beantwortet. Egal ob bärtiger Bauer, Sprachwissenschaftler, Rap-Sängerin oder Dichter, alle kommen zu Wort. Der Film ist sehr rhythmisch, hat tolle Bilder und macht wirklich Spass. Dabei ist es egal, ob man den Dialekt versteht. Notfalls gibt es Untertitel, aber essenziell erzählt er sich, obwohl Sprache sein Thema ist, durch seine filmischen Komponenten, und das ist einfach sehr, sehr gut gelungen. Ja, und Omegäng? Das heisst vielleicht: „nur immer“. Aber ganz sicher oder gar einig sind sich die Befragten da nicht.
Seit diesem Jahr wird der Publikumspreis nicht mehr mittels Stimmkarten ermittelt, sondern am einfachsten direkt in der Festival-App. Das spart viel Papier und sehr viele Plastikkugelschreiber. Bleibt zu hoffen, dass viele Leute das verstehen und fleissig abstimmen.