59.Solothurner Filmtage Wut

 

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Festivalsonntag

 

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Sonntag in Solothurn.
Das heisst vor allem: die Kinos sind voll, keine Chance mehr für einen Film noch kurzfristig einen Platz zu bekommen. Auch wenn in diesem Jahr die Festival-App brav und problemlos funktioniert, ausverkauft ist ausverkauft. Ins Kinogehen ist beliebt, mindestens bei Festivals.

 

 

 

 

Wirklich wahr

 

 

Eine interessante Gesprächsrunde, zum Thema Wirklichkeit oder Inszenierung im Dokumentarfilm bei: Fare Cinema: Extrem ehrlich oder ehrlich inszeniert?
Als Beispiele dienten: Die Anhörung und Chagrin Valley, zwei Filme mit sehr gegensätzlichen Ansätzen ihre Themen zu behandeln. Die Anhörung stellt eine reale Situation komplett nach, legt das aber von Anfang an offen. Und Chagrin Valley zeigt die komplett künstlich gestaltete Welt eines Altersheims für Demenzkranke, greift aber überhaupt nicht in das Geschehen ein, sondern dreht fleissig alles, was sich ergibt. Beiden Beispielen wohnt dadurch eine gewisse Künstlichkeit inne, die aber trotzdem – oder deshalb – ein gutes Abbild der wahren Situation ergibt. Natürlich bleibt bei jedem Dokumentarfilm die Frage: Was passiert, weil oder obwohl eine Kamera, ein Team vor Ort ist?  Eine Frage, die man nie wirklich wird beantworten können. Und dann kommt noch der Schnitt dazu, der gnadenlos und, für Zuschauer eher unsichtbar, die Gewichtung, die Perspektiven schärft.
Es bleibt also die Verantwortung der Filmemacher, ihr „Objekt“ so wenig wie nötig zu verändern, und trotzdem visuell, erzählerisch hinreichend interessant zu bleiben. In einer Medienlandschaft, in der immer weniger Zuschauer dem glauben, was sie sehen, wird es allerdings immer wichtiger, Interventionen als solche zu kennzeichnen.

 

 

Wütend

 

 

Erwachsenwerden ist wohl immer und überall mit einer grossen Portion innerlicher Wut verbunden. In Rivière von Hugues Hariche kommen zur Wut noch emotionale Verletzungen, Druck und Drogen. Trotzdem überzeugt die Geschichte von Manon, der wilden Eishockeyspielerin, und Karine, der tablettenschluckenden Eiskunstläuferin, nicht wirklich. Zum einen ist der Film mit fast zwei Stunden definitiv zu lang, und die Konflikte innerhalb der Gruppe von Jugendlichen sind einfach zu stereotypisch gezeichnet. Der Film kommt nicht vom Fleck, und alle Wendungen sind so sehr erwartbar, dass man sich fragt, warum sie nicht schon früher gekommen sind. Ganz schön gedreht und geschnitten sind die Eishockey-Szenen, aber selbst da verschenkt der Film mögliches Potenzial.

 

 

 

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Gewalt

 

Ein erster Preis ist gestern Abend vergeben worden. In der Kategorie Visioni, also erste und zweite Langfilme, gewann Autour du feu von Laura Cazador und Amanda Cortés.
Der Dokumentarfilm vereint um ein Feuer irgendwo im Wald zwei ehemalige Kämpfer des sogenannten Antikapitalistischen Widerstands der 70er Jahre und drei junge Frauen, Aktivistinnen diverser aktuell aktiver Gruppen. Während die beiden älteren Herren damals mit Waffengewalt kämpften, Banken ausraubten und Menschen entführten – und dafür ins Gefängnis kamen, sind die drei Frauen in ihrem Widerstand vergleichsweise friedfertig. Die Idee klingt besser, als die Ausführung sich dann im Ende darstellt. Oft entsteht der Eindruck, dass doch sehr aneinander vorbei einfach Geschichten erzählt werden. Nach etwa einer Stunde kommt es dann doch zu einer heftigen Auseinandersetzung über die legitime oder nicht legitime Tötung von Tyrannen. Ein Thema, über das allein man ganze Bücher verfassen könnte. Die Begründung der Jury für den Preis an diesen Film: «Es ist ein mutiger und riskanter Film, der – mit einer einfachen, aber originellen Anordnung – auf unerwartete, fesselnde Weise ein komplexes und gleichzeitig hochaktuelles Thema behandelt» ist nur bedingt nachvollziehbar. Was interessant ist, ist die veränderte Perspektive, wen man als Terroristen bezeichnet, was Gewalt ist und was legitime Selbstverteidigung.

 

Durchhalten

 

Zehn Jahre von Matthias von Gunten ist genau, was der Titel suggeriert: ein Langzeitprojekt. Über 10 Jahren begleite der Film 4 jungen Menschen auf ihrem Weg ins Arbeitsleben. Ein Bäckerlehrling, eine Medizinstudentin, eine künftige Grundschullehrerin und ein Oboist, der dirigieren studiert. Ihre Träume, ihre Wege sind teilweise von Anfang an sehr klar gezeichnet und verändern sich über die Zeit nur minimal. Besonders die beiden Frauen bleiben ihren Plänen treu. Die stärkste Veränderung durchläuft der Bäckerlehrling, bei dem sowohl physisch als auch im Lebensplan sehr viel passiert. Visuell und gestalterisch ist der Film nicht sehr originell, was eventuell daran liegt, dass der Regisseur auch selber die Kamera gemacht hat, ein klassischer Fall von Ein-Personen-Team.
Aber der Film kam, aufgrund der sehr sympathischen und offenen Protagonisten, extrem gut an.

 

Sprachlich rund

 

Von Kreisverkehr zu Kreisverkehr durch die Dialektlandschaft der Deutsch-Schweiz: Omegäng von Aldo Gugolz. Wie viel Dialekt wird noch gesprochen, und wo? Wie unterscheiden sich die Dialekte, sowohl in der Zeit als auch von Ort zu Ort? Und was heisst Omegäng? Fragen über Fragen werden hier auf witzige, informative und sehr musikalische Art gestellt und – zum Teil – beantwortet. Egal ob bärtiger Bauer, Sprachwissenschaftler, Rap-Sängerin oder Dichter, alle kommen zu Wort. Der Film ist sehr rhythmisch, hat tolle Bilder und macht wirklich Spass. Dabei ist es egal, ob man den Dialekt versteht. Notfalls gibt es Untertitel, aber essenziell erzählt er sich, obwohl Sprache sein Thema ist, durch seine filmischen Komponenten, und das ist einfach sehr, sehr gut gelungen. Ja, und Omegäng? Das heisst vielleicht: „nur immer“. Aber ganz sicher oder gar einig sind sich die Befragten da nicht.

 

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Seit diesem Jahr wird der Publikumspreis nicht mehr mittels Stimmkarten ermittelt, sondern am einfachsten direkt in der Festival-App. Das spart viel Papier und sehr viele Plastikkugelschreiber. Bleibt zu hoffen, dass viele Leute das verstehen und fleissig abstimmen.

 

 

 

#Solothurn_2021 Erster Teil

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56.Solothurner Filmtage-
die Homeedition

 

Natürlich hat auch eine Homeedition eine Eröffnung, nicht feierlich, nicht mit vielen geladenen Gästen, aber immerhin mit dem aktuellen Schweizer Bundespräsidenten.
Nach einer kurzen Einführung durch die künstlerische Leiterin Anita Hugi, gab es eine kurze, freundliche und, für Solothurner Verhältnisse, unpolitische Ansprache von Guy Parmelin. Um dem Virus keine Chance zu geben, wurden beide Ansprachen im Freien, auf einer der Aare Brücken, mit Blick auf die Solothurner Altstadt gedreht.
Alles, auch der Eröffnungsfilm
Atlas des Tessiner Regisseurs Niccolò Castelli wurde auf allen drei Schweizer Fernsehprogrammen übertragen. Für online Zuschauer aus dem Ausland bedeutete das, nach den Ansprachen und den ersten drei Filmminuten:
„aus rechtlichen Gründen ist dieser Film in ihrem Land nicht verfügbar“.
Na gut.

 

 

Dann eben Online Filme schauen.
Wobei, auch hier galt es, eine Hürde zu nehmen, denn auch alle Filme des Programms sind nur aus der Schweiz abrufbar.
Was also tun, als Filmkritiker aus dem Ausland?
Die Lösung heisst: Filme im Vorfeld auswählen, und dann Sichtungslinks anfragen.
Meine Auswahl fiel auf die neue Kategorie Opera Prima, also Erstlingslangfilme.

Hier die erste Gruppe von sehr vielfältigen ersten Filmen Schweizer Filmemacher.

Grosse Gefühle

Kino ist der Ort, an dem grosse Gefühle verhandelt werden, das ist auch bei einigen der Filme aus der Reihe Opera Prima nicht anders.

The saint of the impossible
von Marc Raymond Wilkins
Grosse Träume einer peruanischen Familie, illegal in New York. Die junge Mutter träumt vielleicht von Liebe und dem grossen Wurf im Leben, ihre beiden Teenager Söhne wollen endlich jemand sein, bemerkt werden, besonders von der hübschen Mitschülerin im Englischkurs. Doch nichts ist in dem Film wie es scheint, für niemanden, nicht mal für den Zuschauer, der Stück für Stück entdeckt, welche Zeitebenen da parallel gegeneinander laufen.

Von Fischen und Menschen
von Stefanie Klemm
Ganz grosse Schuldgefühle. Eine kleine Fischzucht, irgendwo im ländlichen Jura, eine Mutter, ihr kleines Mädchen, zwei Brüder. Wenige Worte werden gemacht, und doch wird alles erzählt, und man fühlt mit als Zuschauer. Besonders dank der sehr schönen Kamera, die viel mit schrägen (Blick)Winkeln arbeitet, vieles im Dunklen lässt, und trotzdem immer einen Weg findet einen grossen Kontrastumfang zu bieten. Auch die Ton- und Musikgestaltung ist sehr schön und einfühlsam, ohne kitschig zu sein oder zu nerven. Einzig in den letzten Minuten stören die drei aufeinander folgenden Enden. Ein erstes Ende, gefolgt von einer Schwarzblende in Länge eines Ausatmens: guter Schluss. Ein zweites Ende: ein einzelner Satz noch dazu. Ja das ist ein super Schluss. Aber das darauf folgende dritte Ende ist einfach eines zu viel und hat plötzlich etwas fast albernes an sich.

Spagat
von Christian Johannes Koch
Grosses Drama. Ein Vater, illegal in der Schweiz, seine Tochter, deren Lehrerin, mit der der Vater ein Verhältnis hat. Schwarzarbeit, Lügen und Betrügen, und alles in dunklen Bildern erzählt. Mal scheint ein wenig Orange auf die Szenen, oder ein entferntes Blau, etwas Grün, und ganz selten gibt es Szenen im Licht. Momente, die einen Ausweg bieten könnten, wie das Turntraining der Tochter. Aber dann wird wieder jede neue Handlung zu einem weiteren Knoten hin zum nicht mehr lösbaren Drama. Ganz schön beeindruckend.

 

Liebe und Verwirrung

Zwei Filme, die stark von ihrem Darstellerensemble leben und doch sehr unterschiedlich mit den Verwirrtheiten der Liebe umgehen.

Lieblingsmenschen
von Vlady Oszkiel
Verwirrte Herzen in der Stille eines Landhauses, sie schlagen und wollen und wissen doch nicht, was sie wollen, und wissen nicht, warum sie es nicht bekommen. „Sammeln Sie Herzen?“  fragt an einer Stelle des Films eine Kassiererin. Eine Geschichte vom Herzen sammeln und schlagen lassen, ein bisschen verrückt ein bisschen idyllisch. Schöne Kamera, die auch immer wieder mit Dunkelheit und Verborgenem arbeitet.

Lovecut
von Iliana Estañol, Johanna Lietha
Es ist eigentlich eine alte Geschichte, die von den hormongefluteten Jugendlichen, die Erwachsenwerden mit Sex verwechseln und eigentlich „nur“ ihren Weg in eine neue Welt suchen, in der auch wieder Liebe und Geborgenheit herrschen soll. Aber sich das einzugestehen, dafür sind sie natürlich zu cool und zu erwachsen. Und obwohl die Grundidee der Geschichte alt ist, ist sie toll und frisch erzählt, in ineinander verwobenen Episoden, in denen vieles, was schieflaufen kann, auch tatsächlich schiefläuft. Aber das gehört eben dazu, zu der alten Geschichte vom Erwachsenwerden.

 

 

Vom Erinnern

Ich hätte am Kronleuchter hängen bleiben müssen
von Diego Hauenstein
Papa ist ein Clown, nicht nur so dahingesagt, sondern wortwörtlich. Ein sehr privates, persönliches Portrait der Eltern des Filmemachers. Eine Geschichte vom Leben mit und für die Kunst, eine Familiengeschichte, und ein bisschen ein Abschied von dem, was – manche– noch als grosse Clowns gekannt haben.

Sòne
von Daniel Kemény
Wohin gehen die Fussbälle, wenn man nicht mehr mit ihnen spielt?
Was wurde aus dem Dorf der Kindheit? Was ist geblieben von den Erinnerungen?
Genau wie die Fussbälle stromern sie weiter durch das immer verlassener werdende italienische Dorf, Erinnerungsfetzen hängen an Mauern und lümmeln in Gassen. Eine filmische Collage, ein surreales Filmgedicht vom Erinnern und Vergessen und Bewahren.

 

Landleben

C’era una volta l’albero
von René Worni
Die Geschichte der sterbenden Olivenbäume in Apulien, von Bäumen und Menschen, Menschen und Bäumen: Partner und Antagonisten. Monokulturen, Herbizide, sinnlos gestreute Subventionen, all das hat über die Jahre dazu geführt, dass sich die Apulischen Olivenbäume nicht mehr gegen ein Bakterium wehren können und langsam vertrocknen. Journalistisch wird von allen Seiten beleuchtet, filmisch ist das nicht. Es wird fast dauernd geredet, in Interviews, im On, im Off, in Podiumsdiskussionen, im Kommentar. Dazu Menschen oder Bäume, Bäume und Menschen. Auch der eher konfuse Einsatz von Musik und Bildüberlagerungen macht das ganze nicht besser. Leider

Kühe auf dem Dach
von Aldo Gugolz
In dunkel strahlenden Bildern erzählt der Film von einem Bergbauern, eine Art Alphippie der zweiten Generation. Er kümmert sich um sich, seine Tiere, seine Leute und sonst nichts. Der unaufgeklärte Tod eines seiner Saisonarbeiter umrahmt das Portrait, wirft Fragen auf, zeigt die prekäre Situation der kleinen Truppe, die Abhängigkeit nicht nur vom Wetter, sondern auch von der menschlichen Grosswetterlage. Den Kapiteln sieht man nicht an, dass sie in Etappen gedreht wurden, alles fliesst dank der tollen Bilder ineinander, bleibt spannend. Einzig das letzte Kapitel wirkt etwas angehängt, die Bilder sind flacher, aber vielleicht ist das geschmäcklerisch, denn die Informationen des letzten Kapitels will das Publikum sicher haben.

 

So weit die erste Runde aus Solothurn, es ist viel Schönes dabei, und bei nicht wenigen Filmen vermisse ich die Ruhe, Dunkelheit und grosse Leinwand eines Kinos.