#Solothurn_2021 Erster Teil

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56.Solothurner Filmtage-
die Homeedition

 

Natürlich hat auch eine Homeedition eine Eröffnung, nicht feierlich, nicht mit vielen geladenen Gästen, aber immerhin mit dem aktuellen Schweizer Bundespräsidenten.
Nach einer kurzen Einführung durch die künstlerische Leiterin Anita Hugi, gab es eine kurze, freundliche und, für Solothurner Verhältnisse, unpolitische Ansprache von Guy Parmelin. Um dem Virus keine Chance zu geben, wurden beide Ansprachen im Freien, auf einer der Aare Brücken, mit Blick auf die Solothurner Altstadt gedreht.
Alles, auch der Eröffnungsfilm
Atlas des Tessiner Regisseurs Niccolò Castelli wurde auf allen drei Schweizer Fernsehprogrammen übertragen. Für online Zuschauer aus dem Ausland bedeutete das, nach den Ansprachen und den ersten drei Filmminuten:
„aus rechtlichen Gründen ist dieser Film in ihrem Land nicht verfügbar“.
Na gut.

 

 

Dann eben Online Filme schauen.
Wobei, auch hier galt es, eine Hürde zu nehmen, denn auch alle Filme des Programms sind nur aus der Schweiz abrufbar.
Was also tun, als Filmkritiker aus dem Ausland?
Die Lösung heisst: Filme im Vorfeld auswählen, und dann Sichtungslinks anfragen.
Meine Auswahl fiel auf die neue Kategorie Opera Prima, also Erstlingslangfilme.

Hier die erste Gruppe von sehr vielfältigen ersten Filmen Schweizer Filmemacher.

Grosse Gefühle

Kino ist der Ort, an dem grosse Gefühle verhandelt werden, das ist auch bei einigen der Filme aus der Reihe Opera Prima nicht anders.

The saint of the impossible
von Marc Raymond Wilkins
Grosse Träume einer peruanischen Familie, illegal in New York. Die junge Mutter träumt vielleicht von Liebe und dem grossen Wurf im Leben, ihre beiden Teenager Söhne wollen endlich jemand sein, bemerkt werden, besonders von der hübschen Mitschülerin im Englischkurs. Doch nichts ist in dem Film wie es scheint, für niemanden, nicht mal für den Zuschauer, der Stück für Stück entdeckt, welche Zeitebenen da parallel gegeneinander laufen.

Von Fischen und Menschen
von Stefanie Klemm
Ganz grosse Schuldgefühle. Eine kleine Fischzucht, irgendwo im ländlichen Jura, eine Mutter, ihr kleines Mädchen, zwei Brüder. Wenige Worte werden gemacht, und doch wird alles erzählt, und man fühlt mit als Zuschauer. Besonders dank der sehr schönen Kamera, die viel mit schrägen (Blick)Winkeln arbeitet, vieles im Dunklen lässt, und trotzdem immer einen Weg findet einen grossen Kontrastumfang zu bieten. Auch die Ton- und Musikgestaltung ist sehr schön und einfühlsam, ohne kitschig zu sein oder zu nerven. Einzig in den letzten Minuten stören die drei aufeinander folgenden Enden. Ein erstes Ende, gefolgt von einer Schwarzblende in Länge eines Ausatmens: guter Schluss. Ein zweites Ende: ein einzelner Satz noch dazu. Ja das ist ein super Schluss. Aber das darauf folgende dritte Ende ist einfach eines zu viel und hat plötzlich etwas fast albernes an sich.

Spagat
von Christian Johannes Koch
Grosses Drama. Ein Vater, illegal in der Schweiz, seine Tochter, deren Lehrerin, mit der der Vater ein Verhältnis hat. Schwarzarbeit, Lügen und Betrügen, und alles in dunklen Bildern erzählt. Mal scheint ein wenig Orange auf die Szenen, oder ein entferntes Blau, etwas Grün, und ganz selten gibt es Szenen im Licht. Momente, die einen Ausweg bieten könnten, wie das Turntraining der Tochter. Aber dann wird wieder jede neue Handlung zu einem weiteren Knoten hin zum nicht mehr lösbaren Drama. Ganz schön beeindruckend.

 

Liebe und Verwirrung

Zwei Filme, die stark von ihrem Darstellerensemble leben und doch sehr unterschiedlich mit den Verwirrtheiten der Liebe umgehen.

Lieblingsmenschen
von Vlady Oszkiel
Verwirrte Herzen in der Stille eines Landhauses, sie schlagen und wollen und wissen doch nicht, was sie wollen, und wissen nicht, warum sie es nicht bekommen. „Sammeln Sie Herzen?“  fragt an einer Stelle des Films eine Kassiererin. Eine Geschichte vom Herzen sammeln und schlagen lassen, ein bisschen verrückt ein bisschen idyllisch. Schöne Kamera, die auch immer wieder mit Dunkelheit und Verborgenem arbeitet.

Lovecut
von Iliana Estañol, Johanna Lietha
Es ist eigentlich eine alte Geschichte, die von den hormongefluteten Jugendlichen, die Erwachsenwerden mit Sex verwechseln und eigentlich „nur“ ihren Weg in eine neue Welt suchen, in der auch wieder Liebe und Geborgenheit herrschen soll. Aber sich das einzugestehen, dafür sind sie natürlich zu cool und zu erwachsen. Und obwohl die Grundidee der Geschichte alt ist, ist sie toll und frisch erzählt, in ineinander verwobenen Episoden, in denen vieles, was schieflaufen kann, auch tatsächlich schiefläuft. Aber das gehört eben dazu, zu der alten Geschichte vom Erwachsenwerden.

 

 

Vom Erinnern

Ich hätte am Kronleuchter hängen bleiben müssen
von Diego Hauenstein
Papa ist ein Clown, nicht nur so dahingesagt, sondern wortwörtlich. Ein sehr privates, persönliches Portrait der Eltern des Filmemachers. Eine Geschichte vom Leben mit und für die Kunst, eine Familiengeschichte, und ein bisschen ein Abschied von dem, was – manche– noch als grosse Clowns gekannt haben.

Sòne
von Daniel Kemény
Wohin gehen die Fussbälle, wenn man nicht mehr mit ihnen spielt?
Was wurde aus dem Dorf der Kindheit? Was ist geblieben von den Erinnerungen?
Genau wie die Fussbälle stromern sie weiter durch das immer verlassener werdende italienische Dorf, Erinnerungsfetzen hängen an Mauern und lümmeln in Gassen. Eine filmische Collage, ein surreales Filmgedicht vom Erinnern und Vergessen und Bewahren.

 

Landleben

C’era una volta l’albero
von René Worni
Die Geschichte der sterbenden Olivenbäume in Apulien, von Bäumen und Menschen, Menschen und Bäumen: Partner und Antagonisten. Monokulturen, Herbizide, sinnlos gestreute Subventionen, all das hat über die Jahre dazu geführt, dass sich die Apulischen Olivenbäume nicht mehr gegen ein Bakterium wehren können und langsam vertrocknen. Journalistisch wird von allen Seiten beleuchtet, filmisch ist das nicht. Es wird fast dauernd geredet, in Interviews, im On, im Off, in Podiumsdiskussionen, im Kommentar. Dazu Menschen oder Bäume, Bäume und Menschen. Auch der eher konfuse Einsatz von Musik und Bildüberlagerungen macht das ganze nicht besser. Leider

Kühe auf dem Dach
von Aldo Gugolz
In dunkel strahlenden Bildern erzählt der Film von einem Bergbauern, eine Art Alphippie der zweiten Generation. Er kümmert sich um sich, seine Tiere, seine Leute und sonst nichts. Der unaufgeklärte Tod eines seiner Saisonarbeiter umrahmt das Portrait, wirft Fragen auf, zeigt die prekäre Situation der kleinen Truppe, die Abhängigkeit nicht nur vom Wetter, sondern auch von der menschlichen Grosswetterlage. Den Kapiteln sieht man nicht an, dass sie in Etappen gedreht wurden, alles fliesst dank der tollen Bilder ineinander, bleibt spannend. Einzig das letzte Kapitel wirkt etwas angehängt, die Bilder sind flacher, aber vielleicht ist das geschmäcklerisch, denn die Informationen des letzten Kapitels will das Publikum sicher haben.

 

So weit die erste Runde aus Solothurn, es ist viel Schönes dabei, und bei nicht wenigen Filmen vermisse ich die Ruhe, Dunkelheit und grosse Leinwand eines Kinos.